Nobelvorlesung: Die Show der brutalen, gleichgültigen, skrupellosen Macht

Nr. 50 –

Letzte Woche hat Harold Pinter den Nobelpreis für Literatur erhalten und bedankte sich mit einer Rede, die von «schierem Amerikahass» geprägt war - wie die NZZ befand. Pinter übe sich, so das Blatt, «in moralischer Selbstgefälligkeit und ideologischer Wahrnehmungsverweigerung». Wir dokumentieren Pinters Rede in Auszügen.

1958 schrieb ich Folgendes:

«Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich, und dem, was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr, und dem, was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.»

Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr? (...)

Wie jeder der hier Anwesenden weiss, lautete die Rechtfertigung für die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hochgefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der Irak unterhalte Beziehungen zu al-Kaida und trage Mitverantwortung für die Gräuel in New York am 11. September 2001. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns, es sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.

Die Wahrheit sieht völlig anders aus. Die Wahrheit hat damit zu tun, wie die Vereinigten Staaten ihre Rolle in der Welt auffassen und wie sie sie verkörpern wollen.

Doch bevor ich auf die Gegenwart zurückkomme, möchte ich einen Blick auf die jüngste Vergangenheit werfen; damit meine ich die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich glaube, wir sind dazu verpflichtet, diesen Zeitraum zumindest einer gewissen, wenn auch begrenzten Prüfung zu unterziehen, mehr erlaubt hier die Zeit nicht.

Jeder weiss, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa während der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalität, die weit verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung eigenständigen Denkens. All dies ist ausführlich dokumentiert und belegt worden.

Das Beispiel Nicaragua

Aber ich behaupte hier, dass die Verbrechen der USA im selben Zeitraum nur oberflächlich protokolliert, geschweige denn dokumentiert, geschweige denn eingestanden, geschweige denn überhaupt als Verbrechen wahrgenommen worden sind. (...) Die direkte Invasion eines souveränen Staates war eigentlich nie die bevorzugte Methode der Vereinigten Staaten. Vorwiegend haben sie den von ihnen so genannten Low Intensity Conflict favorisiert. «Low Intensity Conflict» bedeutet, dass tausende von Menschen sterben, aber langsamer als durch eine Bombe. Es bedeutet, dass man das Herz des Landes infiziert, dass man eine bösartige Wucherung in Gang setzt und zuschaut, wie der Faulbrand erblüht. Ist die Bevölkerung unterjocht worden oder totgeprügelt - es läuft auf dasselbe hinaus - und sitzen die eigenen Freunde, das Militär und die grossen Kapitalgesellschaften, bequem am Schalthebel, tritt man vor die Kamera und sagt, die Demokratie habe sich behauptet. Das war in den Jahren, auf die ich mich hier beziehe, gang und gäbe in der Aussenpolitik der USA.

Die Tragödie Nicaraguas war ein hochsignifikanter Fall. Ich präsentiere ihn hier als schlagendes Beispiel für Amerikas Sicht seiner eigenen Rolle in der Welt, damals wie heute.

Ende der achtziger Jahre nahm ich an einem Treffen in der amerikanischen Botschaft in London teil. Der Kongress der Vereinigten Staaten sollte entscheiden, ob man die Contras in ihrem Feldzug gegen den nicaraguanischen Staat mit mehr Geld unterstützt. Ich gehörte der Delegation an, die für Nicaragua sprach, doch das wichtigste Delegationsmitglied war Father John Metcalf. Der Leiter der amerikanischen Gruppe war Raymond Seitz (damals nach dem Botschafter die Nummer zwei, später selber Botschafter). Father Metcalf sagte: «Sir, ich leite eine Gemeinde im Norden Nicaraguas. Meine Gemeindemitglieder haben eine Schule gebaut, ein medizinisches Versorgungszentrum, ein Kulturzentrum. Wir haben in Frieden gelebt. Vor einigen Monaten griffen Contratruppen die Gemeinde an. Sie zerstörten alles: die Schule, das medizinische Versorgungszentrum, das Kulturzentrum. Sie vergewaltigten Krankenschwestern und Lehrerinnen, schlachteten die Ärzte aufs Brutalste ab. Sie benahmen sich wie Berserker. Bitte fordern Sie, dass die US-Regierung diesen empörenden terroristischen Umtrieben die Unterstützung entzieht.»

Raymond Seitz besass einen ausgezeichneten Ruf als rationaler, verantwortungsbewusster und hoch kultivierter Mann. Er genoss in diplomatischen Kreisen grosses Ansehen. Er hörte genau zu, zögerte und sprach dann mit grossem Ernst. «Father», sagte er, «ich möchte Ihnen etwas sagen. Im Krieg leiden immer Unschuldige.» Es herrschte eisiges Schweigen. Wir starrten ihn an. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

In der Tat, Unschuldige leiden immer.

Schliesslich sagte jemand: «Aber in diesem Fall waren die ‹Unschuldigen› Opfer einer durch Ihre Regierung subventionierten, entsetzlichen Gräueltat, einer von vielen. Sollte der Kongress den Contras mehr Geld bewilligen, wird es zu weiteren Gräueln kommen. Ist dem nicht so? Macht sich Ihre Regierung damit nicht der Unterstützung von Mordtaten und Vernichtungswerken schuldig, begangen an Bürgern eines souveränen Staates?»

Seitz liess sich durch nichts erschüttern. «Ich bin nicht der Auffassung, dass die vorliegenden Fakten Ihre Behauptungen stützen», sagte er.

Beim Verlassen der Botschaft sagte mir ein US-Berater, er schätze meine Stücke. Ich reagierte nicht.

Moralische Contras

Ich darf Sie daran erinnern, dass Präsident Reagan damals folgendes Statement abgab: «Die Contras stehen moralisch auf einer Stufe mit unseren Gründervätern.»

Die Vereinigten Staaten unterstützten die brutale Somoza-Diktatur in Nicaragua über vierzig Jahre. Angeführt von den Sandinisten, stürzte das nicaraguanische Volk 1979 dieses Regime, ein atemberaubender Volksaufstand.

Die Sandinisten waren nicht vollkommen. Auch sie verfügten über eine gewisse Arroganz, und ihre politische Philosophie beinhaltete eine Reihe widersprüchlicher Elemente. Aber sie waren intelligent, einsichtig und zivilisiert. Sie machten sich daran, eine stabile, anständige, pluralistische Gesellschaft zu gründen. Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Hunderttausende verarmter Bauern wurden quasi ins Leben zurückgeholt. Über 100 000 Familien erhielten Grundbesitz. Zweitausend Schulen entstanden. Eine äusserst bemerkenswerte Alphabetisierungskampagne verringerte den Anteil der Analphabeten im Land auf unter ein Siebtel. Freies Bildungswesen und kostenlose Gesundheitsfürsorge wurden eingeführt. Die Kindersterblichkeit ging um ein Drittel zurück. Polio wurde ausgerottet.

Die Vereinigten Staaten denunzierten diese Leistungen als marxistisch-leninistische Unterwanderung. Aus Sicht der US-Regierung war dies ein gefährliches Beispiel. Erlaubte man Nicaragua, elementare Normen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit zu etablieren, erlaubte man dem Land, den Standard der Gesundheitsfürsorge und des Bildungswesens anzuheben und soziale Einheit und nationale Selbstachtung zu erreichen, würden benachbarte Länder dieselben Fragen stellen und dieselben Dinge tun. Damals regte sich natürlich heftiger Widerstand gegen den in El Salvador herrschenden Status quo.

Sieg der Demokratie?

Ich erwähnte vorhin das «Lügengespinst», das uns umgibt. Präsident Reagan beschrieb Nicaragua meist als «totalitären Kerker». Die Medien generell und ganz bestimmt die britische Regierung werteten dies als zutreffenden und begründeten Kommentar. Aber tatsächlich gab es keine Berichte über Todesschwadronen unter der sandinistischen Regierung. Es gab keine Berichte über Folterungen. Es gab keine Berichte über systematische oder offiziell autorisierte militärische Brutalität. In Nicaragua wurde nie ein Priester ermordet. Es waren vielmehr drei Priester an der Regierung beteiligt, zwei Jesuiten und ein Missionar des Maryknoll-Ordens. Die totalitären Kerker befanden sich eigentlich nebenan in El Salvador und Guatemala. Die Vereinigten Staaten hatten 1954 die demokratisch gewählte Regierung von Guatemala gestürzt, und gemäss Schätzungen sollen den anschliessenden Militärdiktaturen mehr als 200 000 Menschen zum Opfer gefallen sein.

Sechs der weltweit namhaftesten Jesuiten wurden 1989 in der Central American University in San Salvador von einem Bataillon des in Fort Benning, Georgia, USA, ausgebildeten Alcatl-Regiments getötet. Der aussergewöhnlich mutige Erzbischof Oscar Romero wurde ermordet, als er die Messe las. Schätzungsweise kamen 75 000 Menschen ums Leben. Weshalb wurden sie getötet? Sie wurden getötet, weil sie ein besseres Leben nicht nur für möglich hielten, sondern auch verwirklichen wollten. Dieser Glaube stempelte sie sofort zu Kommunisten. Sie starben, weil sie es wagten, den Status quo infrage zu stellen, das endlose Plateau von Armut, Krankheit, Erniedrigung und Unterdrückung, das ihr Geburtsrecht gewesen war.

Die Vereinigten Staaten stürzten schliesslich die sandinistische Regierung. Es kostete einige Jahre und beträchtliche Widerstandskraft, doch gnadenlose ökonomische Schikanen und 30000 Tote untergruben am Ende den Elan des nicaraguanischen Volkes. Es war erschöpft und erneut verarmt. Die Casinos kehrten ins Land zurück. Mit dem kostenlosen Gesundheitsdienst und dem freien Schulwesen war es vorbei. Das Big Business kam mit aller Macht zurück. Die «Demokratie» hatte sich behauptet.

Die grösste Show der Welt

Doch diese «Politik» blieb keineswegs auf Mittelamerika beschränkt. Sie wurde in aller Welt betrieben. Sie war endlos. Und es ist, als hätte es sie nie gegeben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile. Die Schre-cken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden. In diesen Ländern hat es hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Aussenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Aussenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiss man natürlich nichts.

Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äusserst erfolgreicher Hypnoseakt.

Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die grösste Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever. Als Handlungsreisende stehen sie ziemlich konkurrenzlos da, und ihr Verkaufsschlager heisst Eigenliebe. Ein echter Renner. Man muss nur all die amerikanischen Präsidenten im Fernsehen die Worte sagen hören: «Das amerikanische Volk», wie zum Beispiel in dem Satz: «Ich sage dem amerikanischen Volk, es ist an der Zeit, zu beten und die Rechte des amerikanischen Volkes zu verteidigen, und ich bitte das amerikanische Volk, den Schritten ihres Präsidenten zu vertrauen, die er im Auftrag des amerikanischen Volkes unternehmen wird.»

Ein brillanter Trick. Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach. Mit den Worten «das amerikanische Volk» wird ein wirklich luxuriöses Kissen zur Beruhigung gebildet. Denken ist überflüssig. Man muss sich nur ins Kissen fallen lassen. Möglicherweise erstickt das Kissen die eigene Intelligenz und das eigene Urteilsvermögen, aber es ist sehr bequem. Das gilt natürlich weder für die vierzig Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, noch für die zwei Millionen Männer und Frauen, die in dem riesigen Gulag von Gefängnissen eingesperrt sind, der sich über die Vereinigten Staaten erstreckt.

Das blökende Lämmchen

Den Vereinigten Staaten liegt nichts mehr am Low Intensity Conflict. Sie sehen keine weitere Notwendigkeit, sich Zurückhaltung aufzuerlegen oder gar auf Umwegen ans Ziel zu kommen. Sie legen ihre Karten ganz ungeniert auf den Tisch. Sie scheren sich einen Dreck um die Vereinten Nationen, das Völkerrecht oder kritischen Dissens, den sie als machtlos und irrelevant betrachten. Sie haben sogar ein kleines, blökendes Lämmchen, das ihnen an einer Leine hinterhertrottelt, das erbärmliche und abgeschlaffte Grossbritannien.

Was ist aus unserem sittlichen Empfinden geworden? Hatten wir je eines? Was bedeuten diese Worte? Stehen sie für einen heutzutage äusserst selten gebrauchten Begriff - Gewissen? Ein Gewissen nicht nur hinsichtlich unseres eigenen Tuns, sondern auch hinsichtlich unserer gemeinsamen Verantwortung für das Tun anderer? Ist all das tot? Nehmen wir Guantánamo Bay. Hunderte von Menschen, seit über drei Jahren ohne Anklage in Haft, ohne gesetzliche Vertretung oder ordentlichen Prozess, im Prinzip für immer inhaftiert. Diese absolut rechtswidrige Situation existiert trotz der Genfer Konvention weiter. Die so genannte «internationale Gemeinschaft» toleriert sie nicht nur, sondern verschwendet auch so gut wie keinen Gedanken daran. Diese kriminelle Ungeheuerlichkeit begeht ein Land, das sich selbst zum «Anführer der freien Welt» erklärt. Denken wir an die Menschen in Guantánamo Bay? Was berichten die Medien über sie? Sie tauchen gelegentlich auf - eine kleine Notiz auf Seite 6. Sie wurden in ein Niemandsland geschickt, aus dem sie womöglich nie mehr zurückkehren. (...)

Die Invasion des Irak war ein Banditenakt, ein Akt von unverhohlenem Staatsterrorismus, der die absolute Verachtung des Prinzips von internationalem Recht demonstrierte. Die Invasion war ein willkürlicher Militäreinsatz, ausgelöst durch einen ganzen Berg von Lügen und die üble Manipulation der Medien und somit der Öffentlichkeit; ein Akt zur Konsolidierung der militärischen und ökonomischen Kontrolle Amerikas im Nahen Osten unter der Maske der Befreiung (...). Wie viele Menschen muss man töten, bis man sich die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein? Einhunderttausend? Mehr als genug, würde ich meinen. Deshalb ist es nur gerecht, dass Bush und Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen. Aber Bush war clever. Er hat den Internationalen Strafgerichtshof gar nicht erst anerkannt. Für den Fall, dass sich ein amerikanischer Soldat oder auch ein Politiker auf der Anklagebank wiederfindet, hat Bush damit gedroht, die Marines in den Einsatz zu schicken. Aber Tony Blair hat den Gerichtshof anerkannt und steht für ein Gerichtsverfahren zur Verfügung. Wir können dem Gerichtshof seine Adresse geben, falls er Interesse daran hat. Sie lautet Number 10, Downing Street, London. (...)

Ganz zu Beginn der Invasion veröffentlichten die britischen Zeitungen auf der Titelseite ein Foto von Tony Blair, der einen kleinen irakischen Jungen auf die Wange küsst. «Ein dankbares Kind», lautete die Überschrift. Einige Tage später gab es auf einer Innenseite einen Bericht und ein Foto von einem anderen vierjährigen Jungen, ohne Arme. Eine Rakete hatte seine Familie in die Luft gesprengt. Er war der einzige Überlebende. «Wann bekomme ich meine Arme wieder?», fragte er. Der Bericht wurde nicht weiter verfolgt. Nun, diesen Jungen hielt auch nicht Tony Blair in den Armen, weder ihn noch sonst ein anderes verstümmeltes Kind oder irgendeine blutige Leiche. Blut ist schmutzig. Es verschmutzt einem Hemd und Krawatte, wenn man eine aufrichtige Ansprache im Fernsehen hält.

Die 2000 toten Amerikaner sind peinlich. Sie werden bei Dunkelheit zu ihren Gräbern transportiert. Die Beerdigungen finden dezent statt, an einem sicheren Ort. Die Verstümmelten verfaulen in ihren Betten, manche für den Rest ihres Lebens. Die Toten und die Verstümmelten verfaulen beide, nur in unterschiedlichen Gräbern.

Dies ist ein Stück aus einem Gedicht von Pablo Neruda, «Erklärung einiger Dinge»:

Und eines Morgens brachen die Flammen aus allem, / und eines Morgens stiegen lodernde / Feuer aus der Erde, / verschlangen Leben, / und seither Feuer, / Pulver seither, / und seither Blut.

Banditen mit Flugzeugen und / Marokkanern, / Banditen mit Ringen und Herzoginnen, / Banditen mit segnenden schwarzen Mönchen / kamen vom Himmel, um Kinder zu töten, / und durch die Strassen das Blut der Kinder / floss einfach, wie das Blut von Kindern.

Schakale, widerwärtig für einen Schakal, / Steine, auf die die trockene Distel gespien hätte, / Vipern, die Vipern verachten würden!

Vor euch habe ich das Blut / Spaniens aufwallen gesehn, / euch zu ersäufen in einer einzigen Woge / von Stolz und Messern!

Generäle / Verräter: / seht mein totes Haus, / seht mein zerbrochenes Spanien: / doch aus jedem Haus schiesst brennendes Metall / anstelle von Blumen, / aus jedem Loch in Spanien / springt Spanien empor, aus jedem ermordeten Kind wächst ein Gewehr mit Augen, / aus jedem Verbrechen werden Kugeln geboren, / die eines Tages den Sitz / eines Herzens finden werden.

Ihr fragt, warum seine Dichtung uns nichts / von der Erde erzählt, von den Blättern, / den grossen Vulkanen seines Heimatlandes?

Kommt, seht das Blut in den Strassen, / kommt, seht / das Blut in den Strassen, / kommt, seht doch das Blut / in den Strassen!

(Pablo Neruda: «Dritter Aufenthalt auf Erden», 1937/1947. Übersetzt von Erich Arendt, in «Der unsichtbare Fluss - ein Lesebuch», herausgegeben von Victor Farias. Luchterhand. Hamburg 1994.)


Ich möchte ganz unmissverständlich sagen, dass ich, indem ich aus Nerudas Gedicht zitiere, keinesfalls das republikanische Spanien mit dem Irak Saddam Husseins vergleiche. Ich zitiere Neruda, weil ich nirgendwo sonst in der zeitgenössischen Lyrik eine so eindringliche, wahre Beschreibung der Bombardierung von Zivilisten gelesen habe.

Ich sagte vorhin, die Vereinigten Staaten würden ihre Karten jetzt völlig ungeniert auf den Tisch legen. Dem ist genau so. Ihre offiziell verlautbarte Politik definiert sich jetzt als «full spectrum dominance». Der Begriff stammt nicht von mir, sondern von ihnen. «Full spectrum dominance» bedeutet die Kontrolle über Land, Meer, Luft und Weltraum sowie aller zugehörigen Ressourcen.

Die Vereinigten Staaten besitzen, über die ganze Welt verteilt, 702 militärische Anlagen in 132 Ländern (...). Wir wissen nicht ganz genau, wie sie da hingekommen sind, aber sie sind jedenfalls da. Die Vereinigten Staaten verfügen über 8000 aktive und operative Atomsprengköpfe. Zweitausend davon sind sofort gefechtsbereit und können binnen fünfzehn Minuten abgefeuert werden. Es werden jetzt neue Nuklearwaffensysteme entwickelt, bekannt als Bunker-Busters. Die stets kooperativen Briten planen, ihre eigene Atomrakete Trident zu ersetzen. Wen, frage ich mich, haben sie im Visier? Usama Bin Laden? Sie? Mich? Joe Dokes? China? Paris? Wer weiss das schon? Eines wissen wir allerdings, nämlich dass dieser infantile Irrsinn - der Besitz und angedrohte Einsatz von Nuklearwaffen - den Kern der gegenwärtigen politischen Philosophie Amerikas bildet. Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass sich die Vereinigten Staaten dauerhaft im Kriegszustand befinden und mit nichts zu erkennen geben, dass sie diese Haltung aufgeben.

Abertausende, wenn nicht gar Millionen Menschen in den USA sind nachweislich angewidert, beschämt und erzürnt über das Vorgehen ihrer Regierung, aber so wie die Dinge stehen, stellen sie keine einheitliche politische Macht dar - noch nicht. Doch die Besorgnis, Unsicherheit und Angst, die wir täglich in den Vereinigten Staaten wachsen sehen können, werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schwinden.

Ich weiss, dass Präsident Bush zahlreiche ausgesprochen fähige Redenschreiber hat, aber ich möchte mich freiwillig für den Job melden. Ich schlage folgende kurze Ansprache vor, die er im Fernsehen an die Nation halten kann. Ich sehe ihn vor mir: feierlich, penibel gekämmt, ernst, gewinnend, aufrichtig, oft verführerisch, manchmal mit einem bitteren Lächeln, merkwürdig anziehend, ein echter Mann.

«Gott ist gut. Gott ist gross. Gott ist gut. Mein Gott ist gut. Bin Ladens Gott ist böse. Er ist ein böser Gott. Saddams Gott war böse, wenn er einen gehabt hätte. Er war ein Barbar. Wir sind keine Barbaren. Wir hacken Menschen nicht den Kopf ab. Wir glauben an die Freiheit. So wie Gott. Ich bin kein Barbar. Ich bin der demokratisch gewählte Anführer einer freiheitsliebenden Demokratie. Wir sind eine barmherzige Gesellschaft. Wir gewähren einen barmherzigen Tod auf dem elektrischen Stuhl und durch barmherzige Todesspritzen. Wir sind eine grosse Nation. Ich bin kein Diktator. Er ist einer. Ich bin kein Barbar. Er ist einer. Und er auch. Die alle da. Ich besitze moralische Autorität. Seht ihr diese Faust? Das ist meine moralische Autorität. Und vergesst das bloss nicht.»

Das Leben eines Schriftstellers ist ein äusserst verletzliches, fast schutzloses Dasein. Darüber muss man keine Tränen vergiessen. Der Schriftsteller trifft seine Wahl und hält daran fest. Es stimmt jedoch, dass man allen Winden ausgesetzt ist, und einige sind wirklich eisig. Man ist auf sich allein gestellt, in exponierter Lage. Man findet keine Zuflucht, keine Deckung - es sei denn, man lügt -, in diesem Fall hat man sich natürlich selber in Deckung gebracht und ist, so liesse sich argumentieren, Politiker geworden.

Ich habe heute Abend etliche Male vom Tod gesprochen. Ich werde jetzt ein eigenes Gedicht zitieren. Es heisst «Tod»:

«Wo fand man den Toten? / Wer fand den Toten? / Wer war der Tote, als man ihn fand? / Wie fand man den Toten?

Wer war der Tote?

Wer war der Vater oder die Tochter oder der Bruder / Oder der Onkel oder die Schwester oder die Mutter oder der Sohn / Des toten und verlassenen Toten?

War er tot, als er verlassen wurde? / War er verlassen? / Wer hatte ihn verlassen?

War der Tote nackt oder gekleidet für eine Reise?

Warum haben Sie den Toten für tot erklärt? / Haben Sie den Toten für tot erklärt? / Wie gut haben Sie den Toten gekannt? / Woher wussten Sie, dass der Tote tot war?

Haben Sie den Toten gewaschen / Haben Sie ihm beide Augen geschlossen / Haben Sie ihn begraben / Haben Sie ihn verlassen / Haben Sie den Toten geküsst

(Aus Harold Pinter: «Krieg». Übersetzt von Elisabeth Plessen und Peter Zadek. Rogner und Bernhard, Hamburg, 2003. 24 Seiten. Fr. 17.50.)

Blicken wir in einen Spiegel, dann halten wir das Bild, das uns daraus entgegensieht, für akkurat. Aber bewegt man sich nur einen Millimeter, verändert sich das Bild. Wir sehen im Grunde eine endlose Reihe von Spiegelungen. Aber manchmal muss ein Schriftsteller den Spiegel zerschlagen - denn von der anderen Seite dieses Spiegels blickt uns die Wahrheit ins Auge.

Ich glaube, dass den existierenden, kolossalen Widrigkeiten zum Trotz die unerschrockene, unbeirrbare, heftige intellektuelle Entschlossenheit, als Bürger die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu bestimmen, eine ausschlaggebende Verpflichtung darstellt, die uns allen zufällt. Sie ist in der Tat zwingend notwendig.

Wenn sich diese Entschlossenheit nicht in unserer politischen Vision verkörpert, bleiben wir bar jeder Hoffnung, das wiederherzustellen, was wir schon fast verloren haben - die Würde des Menschen.



Übersetzung von Michael Walter © Die Nobelstiftung 2005

Die vollständige Rede finden Sie unter nobelprize.org/literature/laureates/2005/pinter-lecture.html

Geboren 1930 im armen Londoner East End, hat Harold Pinter nach kurzer Schauspielerei 1957 sein erstes Theaterstück geschrieben: «Das Zimmer». Bekannt wurde er mit dem Stück «Der Hausmeister» («The Caretaker»), das - wie auch die anderen früheren Werke - eine undurchschaubare Welt zeigt. Auf diese Undeutlichkeit im schriftstellerischen Werk bezieht er sich zu Beginn seiner Rede. Pinter engagiert sich seit über zwanzig Jahren auch politisch.