Debatte: Das Ende des US-Imperiums? (2): An der Heimatfront des Imperiums
Gerät die militärische Supermacht USA in den Ausnahmezustand, verfestigt sich der vermeintliche Überlebenskampf zu einer neuen Weltordnung. Lotta Suter beschreibt ihr Unbehagen an US-amerikanischen Wirklichkeiten und an den Imperiumstheorien.
Achtung, dies ist kein unabhängiger Bericht. Auch meine zivile Wenigkeit ist «eingebettet». Zwar bin ich nicht in den militärischen Alltag der US-amerikanischen Bodentruppen im Irak integriert, aber im US-Alltag bin ich umgeben, umzingelt, begleitet und bedrängt von den nicht minder verwegenen und patriotischen Kämpfern an der zweiten, an der Heimatfront des American Empire. Auch hier werden täglich neue fiebrige Schlachtpläne ausgeheckt, es wird informiert und propagiert, je nach Bedarf. Wahrheit und Lüge und der ständige Sturm der Sensationen dienen alle demselben Ziel: Es geht um die Kontrolle über diesen einen Feind Irak und über alle anderen Feinde, um die Herrschaft über die ganze Welt.
«Gewöhn dich dran!», lautete die plakative Neujahrsbotschaft 2003 des «New York Times Magazine». Im Heftinnern machte der vergleichsweise liberale Harvardprofessor und Publizist Michael Ignatieff, der noch vor einem Jahr die USA und nicht etwa die «Schurkenstaaten» als grösste Gefahr für die Menschenrechte bezeichnet hatte, ein breites Publikum mit der Idee des amerikanischen Imperiums vertraut. Der alte Imperialismus – im Stil von: Die US-Marines putschen für die United Fruit Company im Guatemala der fünfziger Jahre – sei passé, verspricht der gelernte Historiker. Das Imperium des 21. Jahrhunderts sei ein «Empire lite, eine globale Hegemonie, komplettiert mit freien Märkten, Menschenrechten und Demokratie, kontrolliert von der mächtigsten Armee, die die Welt je kannte. Es ist der Imperialismus eines Volkes, das weiss, dass es seine eigene Unabhängigkeit in Auflehnung gegen ein Imperium errungen hat.»
Dieses vergleichsweise sanfte Plädoyer für ein Imperium wider Willen war für mich die eigentliche Kriegserklärung: der Übergang vom schwelenden zum offenen Konflikt. Auch Noam Chomsky, der wohl berühmteste amerikanische Dissident, der die imperialistischen Tendenzen der US-Aussenpolitik seit den sechziger Jahren dokumentiert und analysiert, meint, dass heute eine neue entscheidende Phase ansteht: «Nicht ohne Präzedenz, aber bedeutsam neu», sagt er mit gewohntem Understatement, der Krieg im Irak sei ein Probelauf, um das US-amerikanische Gewaltmonopol, seit letztem Herbst Bestandteil der offiziellen nationalen Verteidigungspolitik, als «neue Norm» der internationalen Beziehungen zu testen und zu etablieren. Der bald 75-jährige Chomsky ist aktiv wie eh und je, aber Freunde von ihm behaupten, dass er in letzter Zeit bedeutend sarkastischer und hoffnungsärmer geworden sei.
Die Bürde des Imperiums
Ignatieff war ein Wegbereiter für die These von der «Bürde des Imperiums». Seither haben dutzende von Empire-Apologeten das ideologische Terrain besetzt und von allfälligen Hemmschwellen befreit. Zu diesem Dienst am Vaterland melden sich nicht bloss die alten Kalten Krieger, sondern auch Neokonservative und vor allem auffällig viele liberale Intellektuelle, die vor kurzem noch, etwa im ersten Golfkrieg, für Mässigung in der US-Aussenpolitik eingestanden waren. Jeden Tag präsentiert ein neuer Think-Tank einem neuen Zielpublikum ein neues zwingendes Argument für die militärisch-politische Offensive der USA: nationale Sicherheit, Demokratie, Öl, Freiheit, Regimewechsel, Konjunkturbelebung, Antiterroris- mus, humanitäre Intervention – wie hätten Sie, liebe WählerInnen, es denn am liebsten? Wo die rein theoretische Geopolitik der regierungstreuen Strategen allein nicht überzeugt – ist es nun das Erdöl oder Bin Laden, Saddam Hussein oder die Demokratie? –, wird seit Kriegsbeginn im Irak mit vielen herzerweichenden Beispielen aus der Praxis der militärisch eingebetteten Berichterstatter nachgeholfen: Seht nur, wie unsere Boys und Girls in Uniform sich abrackern, unsere Opfer dürfen nicht umsonst gewesen sein, also ist unsere Sache gross und gerecht. (Die Toten der Gegenseite zählen wir gemäss Weisung von oben nicht.) Infotainment rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Bereits beklagt sich der grösste US-Detailhandelskonzern Wal-Mart, dass wegen übermässigen CNN-Konsums die KundInnen ausbleiben.
Das Dumme ist nur, dass man sich an die doppelte Frontberichterstattung aus Bagdad und Washington D.C. nicht gewöhnt. Im Gegenteil. Familie, Freunde, Nachbarn, der ganze Nahbereich, versinkt in nebulöser Ferne. Während man von den Hyperrealitäten des Krieges immer unauflöslicher in den Ausnahmezustand der Nation und das Schlachtfieber des Pentagon eingebunden wird. Ich jedenfalls habe die letzten Wochen und Monate schlecht geschlafen und gegessen, zu wenig geliebt und gelebt. Hingegen habe ich viel zu viel zum Thema «American Empire» gelesen und viel zu viele Kriegsbilder gesehen. Der Kopf tut weh, der Magen krampft, Übelkeit kommt auf, sobald ich zur Zeitung greife, und trotzdem checke ich regelmässig die Irakfront online oder greife süchtig zum neuesten Imperialismus-Traktat. Was suche ich bloss darin?
• Neue Enthüllungen aus dem Zentrum der Macht. Skandalös, dass das Pentagon einen ehemaligen CIA-Chef, James Woolsey, der sich mitten in einem grossen vierten Weltkrieg wähnt (der «Kalte Krieg» ist für ihn Nummer drei), als Informationsminister der irakischen Interimsregierung einsetzen wollte. Skandalös – und zugleich «courant normal». Und was hilft es, wenn ich in detektivischer Lektüre herausfinde, wie viele kollidierende Politik- und Wirtschaftsinteressen der Bush-Berater Richard Perle nun genau auf sich vereint oder wie viele lusche Iran-Contra-Figuren ausser Adnan Kashoggi er noch zum Business-Lunch getroffen hat. Bestenfalls erntet der Informationsvorsprung ein anerkennendes Kopfnicken in einer Runde von Gleichgesinnten. Die etablierte Politik, die grossen Medien und das breite Publikum sind zurzeit gegen klassische Aufklärung immun. Der bereits erwähnte aussenpolitische Chefberater Perle freut sich ganz offen, dass mit Saddam Husseins Regime auch die Uno sterben wird: «Wenn wir den Schutt sondieren, ist es wichtig, den intellektuellen Schiffbruch zu dokumentieren, den die liberale Fantasie von Sicherheit durch internationales Recht in den Händen von internationalen Institutionen erlitten hat.» Die linke Zeitung «Nation» vermerkt es eher beiläufig. Sonst kein Aufschrei nirgends.
• Lebenszeichen einer Alternative. Die unermüdliche Diplomatie der Uno und etlicher europäischer Regierungen sowie das weltweit demonstrierende Strassenvolk kommen zwar auch in den US-amerikanischen Medien vor – doch meistens bloss auf den Forumsseiten, wo man alles Sperrige, das vorne, bei der Hauptberichterstattung, keinen Platz hat, kotengünstig (Kommentare statt aufwendige Recherchen) und auf kleinstem Raum unterbringt. The medium is the message: Die «New York Times» hat den Kampf gegen den Terrorismus und den Krieg gegen den Irak nie explizit gleichgesetzt, doch seit Kriegsbeginn Mitte März reproduziert das liberale Weltblatt genau dasselbe Spezialformat, das schon nach dem 11. September 2001 verwendet wurde: dieselbe Aufmachung, dieselbe Schrift. Und dieselben menschlich anrührenden Mininekrologe für die amerikanischen Opfer von Gewalt, die die Toten auf der Gegenseite irgendwie noch unsichtbarer, noch abstrakter machen. Der geballten Suggestionskraft solcher Propaganda kann man sich auf Dauer schwer entziehen. Alternativmedien und Bekannte berichten zwar begeistert von grossen Friedensdemos in aller Welt – und sogar in den USA. Doch das füllt lediglich die kleine Forumsecke meiner Weltwahrnehmung.
• Venus, Mars und Merkur. Jahrhundertealte Klischees über die Kultur der Alten und der Neuen Welt werden zurzeit aufgewärmt und als harmlose Erklärung für den militanten Unilateralismus der USA präsentiert. Sehr beliebt sind die amüsanten, wenn auch erwartbaren Sexismen: die Rede vom virilen, tatkräftigen Amerika im Zenit versus impotentes, verweiblichtes, handlungsschwaches Europa, das seine besten, sprich imperialen Zeiten schon hinter sich hat. Doch wenn Amerika vom Mars und Europa von der Venus sind, wie der neokonservative Publizist Robert Kagan ein ganzes Buch lang behauptet, wohin bitte gehören denn die vielen multinationalen Konzerne, die da wie dort ihre Profite machen? Welcher Stern bestimmt das Schicksal des internationalen Produktionsfliessbandes, das als Unternehmensform immer häufiger, immer weitreichender die ehemals national operierenden Wirtschaftsimperien ersetzt? Vor zehn Jahren noch war kein grosser US-Konzern von China oder Taiwan als Markt oder Produktionsstandort abhängig; heute sind es hunderte. Merkur regiert, würde ich tippen, der Planet mit der exzentrischen Umlaufbahn, der nach dem römischen Gott des Handels, der Reisenden und der Diebe benannt ist.
Doch das astrologische Bonmot, Kagans oder meins, ersetzt nicht eine bodenständigere Analyse des Verhältnisses von Nationalstaaten, überstaatlichen Gebilden wie die Zusammenschlüsse europäischer oder arabischer Länder und der global agierenden Wirtschaft. Ist die Kraftprotzerei der USA wirklich im Interesse der Gesamtwirtschaft – oder profitieren bloss ausgewählte, besonders gut lobbyierende Zweige wie die Waffenindustrie oder die Energiewirtschaft? Was heisst es genau, dass für den Wiederaufbau Iraks «amerikanische Unternehmen» bevorzugt werden, wie amerikanisch oder sonst wie national sind solche Ökonomiekolosse definiert? Noch allgemeiner gefragt: Ist die Wirtschaft ein Machtblock, auf immer vereint durch die gemeinsame Maxime der Profitmaximierung? Oder handelt es sich vielmehr um ein komplexes Gebilde mehr oder weniger globalisierter Marktteilnehmer mit ungleichzeitigen, widersprüchlichen Interessen? Und: Wieso können es sich die grossen multinationalen Unternehmen, die sonst so empfindlich auf Imageverlust reagieren, eigentlich leisten, dass die US-Regierung in ihrem Namen internationales Recht bricht, Krieg anzettelt, Territorien besetzt und Kolonialregimes errichtet? Schliesslich haben sie diese Regierung mit Wahlspenden finanziert. Gegen die Schlagzeile «Nestlé tötet Babys» ging die Firma in den siebziger Jahren vor Gericht. Doch heute werden im Namen von Nestlé und anderen Speerspitzen des Neoliberalismus wieder Babys getötet, aber auch Frauen und Männer, das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, die Hoffnung auf Entkolonialisierung und, und, und.
Ordnender Krieg?
Am Radio höre ich eines Nachmittags, wie ein neokonservativer Antikommunist jetzt plötzlich von der ehemaligen UdSSR lernen will: Er zieht die relativ diskrete sowjetische Militärbesatzung dem grosssprecherisch amerikanischen Auftreten vor. Das verschlägt der demokratisch gesinnten Moderatorin fast die Sprache. Eine hübsche Anekdote. Aber rechtfertigt das meine stundenlange Fixierung auf das Kriegsgeplauder der Generäle? Und da wir schon dabei sind: Lohnt sich die Lektüre von Emanuel Todds Büchlein «Weltmacht USA: Ein Nachruf», nur um zu lernen, dass der ebenfalls neokonservative Franzose am Ende des Tunnels nicht ein einziges Empire, die USA, sondern eine neue Konstellation von Kolonialmächten sieht? Wieso verschwende ich so viel Zeit mit weiteren Demaskierungen der US-amerikanischen Supermacht seitens meiner politischen Gesinnungskollegen? Ich weiss: die US-Interventionen in Haiti, Kuba, in der Dominikanischen Republik, in Nicaragua, El Salvador, Guatemala, Kolumbien, Grenada, Panama, Chile, Angola, Namibia, im Kongo, in Ghana, im Iran, Irak, in Vietnam, Laos und Korea, Kambodscha ... Wer es noch nicht weiss, will es wohl auch nicht wissen oder hat es bereits wieder vergessen oder schert sich drum oder klammert sich trotz allem an den amerikanischen Traum von der Globalisierung der eigenen Werte: Diesmal wird alles anders, diesmal bringen wir die Freiheit, die Demokratie. «Dem Selbstbild der USA als einer wohlmeinenden internationalen Macht des Guten kann man praktisch nichts entgegensetzen», bestätigt der palästinensisch-amerikanische Intellektuelle Edward Said («Le Monde diplomatique», März 2003) mein vorläufiges Fazit. Doch hoffe ich wider besseres Wissen immer noch auf den entscheidenden Durchbruch. Auf die plötzliche Einsicht. Auf das Wunder wirkende Argument. Auf den Fall auch dieser ideologischen Mauer. Auf eine Entspannung und Normalisierung der Weltlage.
Der Krieg sei kein Ausnahmezustand, sondern ein fester Bestandteil der neuen Weltordnung, argumentiert dagegen der italienische Theoretiker Toni Negri in einem WoZ-Interview (siehe WoZ Nr. 10/03): «Der imperiale Krieg ist ein ordnender Krieg: Er ist destruktiv und errichtet gleichzeitig eine Ordnung.» Ist es das, was wir in den geopolitischen Theorien von rechts bis links vor allem finden: die Versicherung, dass die chaotische Welt und sogar noch Terror und Krieg im Grunde doch eine feste, von materiellen Interessen bestimmte und also rationale Ordnung haben, die wir in der Folge entweder als Imperialisten annehmen oder als Antiimperialisten ablehnen können?
Die indische Schriftstellerin und Politaktivistin Arundhati Roy, eine der wenigen Frauen, die sich in der Imperialismusdiskussion kontinuierlich zu Wort melden, ersetzt den Begriff imperialistisch mit rassistisch und schreibt: «Die wirkliche Gefahr eines rassistischen Krieges, der von rassistischen Regimes entfesselt wird, ist die Erzeugung von Rassismus in allen Beteiligten – in Tätern, Opfern, im Publikum. Der Rassismus setzt die Parameter der Debatte und bestimmt das Raster unseres Denkens.» Die Welt schrumpft, aus der Vielfalt wird ein Entweder-oder: mit uns oder gegen uns. Gut oder böse. Weiss oder schwarz. Zivilisierte oder Barbaren. Reich oder arm. Aus dieser Polarisierung werden Kriegsgewinnler – vor allem, aber nicht bloss solche aus den USA – ihren Nutzen ziehen, aber ich glaube nicht, dass der imperiale oder irgendein Krieg rational sein kann oder ordnend. Kriege bringen kriegsbereite Gesellschaften hervor, die wiederum eine Gefahr für die anderen bedeuten, wie die US-Feministin Barbara Ehrenreich bereits 1997 in ihrem Buch «Blood Rites» dargestellt hat. Jeder Krieg vergrössert den Spielraum für irrationale Elemente. Etwa für den politischen Grössenwahn, den das Kapital schon immer bestens zu manipulieren verstand. Es drohen gewisse Gespenster der Geschichte, die Regression zu tausendjährigen Reichen und zur Kolonialisierung.
Die andere Supermacht
«Läutet die Glocken, ihr Heiden, aus den Städten, die träumen. Läutet die Glocken, aus den heiligen Räumen, quert Flüsse und Täler, denn sie sind weit und tief. Und die Welt liegt schief, und die Zeit läuft rückwärts und alles, was wird.» Diesen Bob-Dylan-Song, von der 89er-CD «Oh Mercy», habe ich an einer unserer dörflichen Mahnwachen für den Frieden vorgetragen, allein, ohne Gitarre, ein wackliger Sprechgesang, der mir aber passender schien als das siegesgewisse «We Shall overcome». Ein Sieg der Friedensbewegung scheint ziemlich fern, wenn der Direktor unserer lokalen Highschool einer Jugendlichen verbietet, an der Talentshow ihr selbstgeschriebenes Antikriegslied zu singen. Wenn StudentInnen im benachbarten Massachusetts, die auf dem Universitätsgelände eine US-Fahne verkehrt herum aufhängten – was in der offiziellen Flaggensprache so viel heisst wie «Hilfe, wir sind in Not» –, tätlich angegriffen und verbal mit dem Tod bedroht werden.
Trotz allem ist die Zahl der KriegsgegnerInnen nicht bloss in den grossen Zentren, sondern auch in ländlicheren Gegenden in letzter Zeit stark und schnell gewachsen. «Wir sind die andere Supermacht», sagt die Antikriegsbewegung selbstbewusst, doch zumindest im Hinblick auf inneramerikanische Verhältnisse scheint mir das doch mehr Wunsch als Wirklichkeit. Ganz abgesehen davon, dass Supermacht einfach das falsche Symbol ist. Bloss keine weitere Supermacht und schon gar keine amerikanische! Die Überschätzung und Überhöhung der eigenen nationalen Grösse gehören zu den ersten Problemen, die von einer glaubwürdigen Friedensbewegung in den USA angegangen werden müssen.
Wie viele andere will auch die New Yorker Politaktivistin Barbara O’Brien Amerika retten, weil es «das beste Land der Welt» ist. Erstens weil ihre Vorfahren es «schufen, bebauten und mit ihrem Leben verteidigten» und zweitens weil es von Hoffnungen und Erwartungen zusammengehalten wird: «Immer gab es diesen Glauben an etwas Besseres und Grandioseres, das noch kommen wird.» Das Amerika, das sie kenne, sei kein Imperium, behauptet O’Brien. Doch sowohl die vergangene Landnahme der Weissen in der Neuen Welt, die sie als Familiengeschichte beschreibt, als auch der andauernde «American exceptionalism», das Gefühl der Einzigartigkeit, ja Überlegenheit sind klassische Elemente eines kolonialen Systems, bei dem die Werte der Herrschenden (Christentum, Zivilisation, Begrünung der Wüste, freie Märkte) die Rechte der Untertanen überrollen, ersetzen, vernichten. Der Rückgriff auf «das bessere Amerika» ist gerade bei der äusserst heterogenen, sehr moralisch motivierten Antikriegsbewegung verführerisch und kurzfristig eventuell auch mobilisierend in dieser Gesellschaft, die Träume und Ideale hervorbringt und braucht wie keine andere. Doch in einer Zeit, wo die Gegenseite, die so genannten Realpolitiker und neoliberale Marktwirtschaftler an der Macht, mit fantastischen Mythen operiert – das freie Amerika im Freiheitskampf für die freie Welt –, ist es doppelt wichtig, sich für eine vielleicht nicht grandiose, aber mögliche und lebbare Wirklichkeit einzusetzen.
Kurz nach dem 11. September 2001 schrieb der US-Politologe Benjamin Barber: «Der Tiger hat seine Streifen gewechselt: Der ‘idealistische’ Internationalismus ist zum neuen Realismus geworden. Wir haben nicht einen Paradigmenwechsel vor uns, sondern die Besetzung eines alten Paradigmas durch ein neues Team. Demokratische GlobalistInnen stehen auf einmal als neue RealistInnen da, während der alte Realismus – vor allem seine Umarmung der Märkte – zunehmend als gefährliches und gänzlich unrealistisches Dogma erscheint, blind für die neue Wirklichkeit.» Die regierende amerikanische Junta hat Barber mit seinen gescheiten Argumenten für eine Welt jenseits von «Dschihad vs. McWorld» nicht überzeugen können; wohl vor allem deshalb nicht, weil sie sich längst fundamentalistisch für McWorld entschieden hat. Doch für soziale Bewegungen in den USA muss es ein dringliches Anliegen werden, den Ausnahmestatus des Landes aufzuheben, den politisch-militärischen, aber auch den ökologisch-wirtschaftlichen Sonderweg des «American Way of Life» zu beenden.
«Wenn es mit 5 Prozent der Weltbevölkerung 42 Prozent der Weltenergie konsumiert – wie viel weiter kann sich ein Land noch entwickeln?», fragte der ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow auf CNN eine Woche vor dem Beginn der Offensive der USA im ölreichen Irak. Seither sind tausende von Menschen umgebracht worden, und wer ist reicher oder sicherer oder freier als zuvor? Es geht darum, die USA schliesslich einzureihen in die völkerrechtlich definierte Gemeinschaft der Nationen, als vielleicht grösser, aber alles in allem nicht besser oder schlechter oder weniger abhängig von der Mitwelt als alle anderen. «Ein ruhiges Verblassen» nennt der amerikanische Soziologe und Historiker Immanuel Wallerstein die sanfte Variante der amerikanischen Landung in der globalen Interdependenz (vgl. Oliver Fahrni, Debatte Teil 1). Die Friedensbewegung muss grösstes Interesse an einer solchen gutartigen Redimensionierung der Nation haben, denn die beängstigende Alternative ist der rasche und für alle Welt gefährliche Fall, die Crash-Landung des stolzen Adlers.
Dem Gewaltmonopol des American Empire gibt der erfahrene US-amerikanische Abrüstungsexperte Jonathan Schell auch im Fall von militärischen Erfolgen keine Chance: Das «Gleichgewicht des Schreckens» sei nicht bloss mit dem Ende des Kalten Krieges, sondern auch mit dem Aufkommen weiterer Nuklearmächte (Nordkorea, Israel, Indien und Pakistan) aus der Balance geraten. Die Verbreitung von Wissen – unter anderem über die Herstellung von nuklearen und chemischen Waffen – sei heute unaufhaltbar und werde durch die imperiale Aggression der USA noch beschleunigt; ausserdem sei der Widerstandswille von unterdrückten Menschen, wie die Geschichte zeigt, nur mit den Menschen selbst umzubringen. Die Demilitarisierung der USA und der ganzen Welt und vermehrte internationale Kooperation verblieben als einzige nachhaltige Alternative. Schells Vorschläge zur Deprogrammierung des Imperiums sind langfristig und umfassen etwa ein globales Abkommen zur Abschaffung aller Nuklearwaffen, ein demokratisches, antiimperialistisches internationales Bündnis, das im Interesse der Menschenrechte von einzelnen Individuen die Souveränität der Nationalstaaten relativieren kann (nach dem Muster Europäische Union), und ein anerkanntes Prozedere für internationale Interventionen zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschheit. Diese Ideen sind alles in allem mit den Stärken und Schwächen der real existierenden Uno behaftet – die es meiner Meinung nach unbedingt zu verteidigen und auszubauen gilt –, aber leider spontan nicht sehr mitreissend und basisorientiert.
Falls es für das riesige und vielfältige Arbeitsprogramm der US-Friedensbewegung doch eine feurige, einende Präambel braucht – wie wäre es mit den klaren Worten des Antiimperialisten, Pazifisten und kompromisslosen Sklavereigegners William Lloyd Garrison? Dieser gewaltfreie Vorkämpfer einer radikalen Demokratie war kein schwärmerischer Träumer, aber auch kein realpolitischer Kleingeist. Er bezahlte seine Überzeugung mit materieller Unsicherheit, Gefängnis, Drohungen und Tätlichkeiten der Gegner und gesellschaftlicher Isolation, doch hat er den für ihn wichtigsten politischen Sieg feiern können: die Abschaffung der Sklaverei 1865. An der Boston Peace Conference von 1838 sagte Garrison: «Unsere Heimat ist die Welt, alle Menschen sind unsere Landsleute. Wir lieben das Land, in dem wir geboren sind, so wie wir auch andere Länder lieben. Die Interessen, Rechte und Freiheiten der amerikanischen Bürger sind genauso viel wert wie die der ganzen Menschheit.»