Rote Linien: Die Erfindung eines Kriegsgrunds

Nr. 28 –

Der eben erschienene Chilcot-Bericht arbeitet den desaströsen Irakfeldzug von 2003 vorbildlich auf. Dass auch scharfe Analysen nicht zwingend eine Lektion bedeuten, zeigt jedoch Barack Obamas Strategie im Syrienkrieg.

«Ob George W. Bush der schlechteste Präsident der amerikanischen Geschichte war, kann noch lange diskutiert werden», schreibt der Politikwissenschaftler und Autor Jean Edward Smith in einer soeben erschienenen Biografie über den früheren republikanischen Staatschef. «Doch sein Beschluss, in den Irak einzumarschieren, war sicher die schlechteste aussenpolitische Entscheidung, die jemals von einem amerikanischen Präsidenten gefällt worden ist.»

Mit der Behauptung, westliche Staaten seien durch irakische «Massenvernichtungswaffen» bedroht, marschierten die USA zusammen mit dem Hauptverbündeten Britannien Ende März 2003 im Irak ein. Nach einem mehrwöchigen Krieg hielten sie das Land bis 2011 besetzt. In dieser Zeit wurden im Irak rund eine Million Menschen getötet; die Invasion hinterliess ein politisches Vakuum, das die Ausbreitung dschihadistischer Organisationen wie al-Kaida oder des sogenannten Islamischen Staats erst ermöglichte und zur Destabilisierung weiter Teile des Nahen Ostens beitrug.

Der willige Handlanger

Bush fand für seine Obsession, den irakischen Machthaber Saddam Hussein so rasch wie möglich und egal mit welchen Mitteln zu stürzen, einen willigen Handlanger: Tony Blair. Der britische Premierminister aus der Labour-Partei, der nach eigenem Bekunden eine «moralische Aussenpolitik» vertrat, versprach dem US-Präsidenten schon acht Monate vor der Invasion seine unbedingte Ergebenheit. «I will be with you, whatever», schrieb er in einem von 29 persönlichen Briefen – ich werde an deiner Seite stehen, komme, was wolle. Zugleich beschrieb Blair, was er von einer Invasion erwartete: Der Einmarsch könne bei den IrakerInnen zwar «ambivalente Gefühle» auslösen, doch der Sturz Saddams «would free up the region» – er würde die Region frei, verfügbar machen.

Die Briefe sind nur ein kleines Puzzlestück in einem umfangreichen Bericht zur britischen Beteiligung am Irakkrieg, der nach grossem öffentlichem und parlamentarischem Druck unter der Leitung des gestandenen ehemaligen Staatsbeamten John Chilcot letzte Woche veröffentlicht wurde. Der Bericht gibt den schärfsten KritikerInnen des Irakkriegs recht: Die Invasion sei beschlossen worden, bevor friedliche Mittel ausgeschöpft gewesen seien; die Bedrohung durch Saddam Hussein sei absichtlich übertrieben worden; die Geheimdienste hätten «fehlerhafte Informationen» produziert; Warnungen, eine Eliminierung Saddams könnte einen massiven Bürgerkrieg auslösen, seien ignoriert worden; es habe zumindest seitens Britanniens nicht einmal den Ansatz einer Nachkriegsstrategie gegeben.

In den USA ist bis heute keine ähnlich rigorose Untersuchung in Sicht. Nur 2008 sorgte ein Senatskomitee ein paar Tage lang für Schlagzeilen, als es dem Geheimdienst CIA Versagen bei der Informationsbeschaffung und der Bush-Regierung die Manipulation von Geheimdienstinformationen zur Irreführung der Öffentlichkeit vorwarf.

Barack Obama erlebte den Irakkrieg noch als ziemlich unbekannter Senator. 2002 lehnte er eine mögliche US-Invasion vehement ab. «Saddam Hussein ist ein brutaler Mann, aber ich weiss, dass er keine unmittelbare und direkte Bedrohung für die Vereinigten Staaten oder seine Nachbarn darstellt», sagte Obama damals in einer Rede an einer Antikriegsdemonstration. Und er lieferte dabei eine Analyse, die sich in den folgenden Jahren vollends bewahrheiteten sollte: «Ich weiss, dass eine Invasion in den Irak ohne klare Grundlage und ohne starke internationale Unterstützung nur dazu führt, dass die Flammen im Nahen Osten angefacht werden. Sie würde die schlimmsten Kräfte der arabischen Welt fördern und die Rekrutierung durch al-Kaida verstärken.»

Eine Lektion für Syrien?

Obwohl er die Dinge offenbar klarer und langfristiger analysierte als Bush, führte Obama als US-Präsident die klassische interventionistische US-Aussenpolitik praktisch nahtlos fort: Er baute das weltweite Programm zur Tötung von Terrorverdächtigen per Kampfdrohne massiv aus; dieser «Drohnenkrieg» ist völkerrechtlich und ethisch problematisch und hat bis heute Hunderte von nicht beabsichtigten Toten gefordert. In Libyen intervenierte Obama 2011 im Rahmen eines Nato-Einsatzes zwar mit einem Uno-Mandat, aber ähnlich wie sein Vorgänger im Irak ohne zwingenden Grund und ohne Nachkriegsplan.

Im Syrienkonflikt agierte Obama dann lange zurückhaltend. Schliesslich ist die Lage dort noch komplexer, als sie es ein Jahrzehnt zuvor im Irak war: Neben dem Regime von Baschar al-Assad sind verschiedenste Rebellengruppen und dschihadistische Organisationen aktiv. Zudem handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg – eine US-Intervention hätte unweigerlich den Iran und Russland provoziert. Doch im Sommer 2012 drohte Obama dann auf einmal mit massiven Luftangriffen, falls das Regime Giftgas einsetzen sollte. Mit dieser «roten Linie» verlagerte Obama die Entscheidung, ob die USA direkt in den Krieg eintreten, ausgerechnet ins unübersichtliche syrische Kriegsgebiet.

Der entscheidende Tag kam ein Jahr später, als bei einem Giftgasangriff nahe Damaskus über 1400 Menschen starben. Nun stand Obama also kurz davor, gegen Assad in den Krieg zu ziehen. Die französischen und britischen Amtskollegen hatten das schon lange gefordert, die Regierungen nahöstlicher Partnerstaaten ebenfalls. Aussenminister John Kerry sprach neun Tage nach dem Anschlag in einer donnernden Rede von einem «bevorstehenden Angriff».

Doch Obama beschlichen Zweifel, wie er dem Journalisten Jeffrey Goldberg für einen langen Artikel in der US-Zeitschrift «The Atlantic» erzählte. Ihm sei klar geworden, dass Assad durch die US-Luftangriffe noch stärker hätte werden können und dass der Einsatz ohne Uno-Mandat «widerrechtlich» gewesen wäre. Im letzten Moment bemerkte Obama also, dass es wiederum keinen Plan gab, wie es nach einer Bombardierung weitergehen würde.

Gemäss Goldberg wusste Obama zudem von James Clapper, dem Nationalen Geheimdienstdirektor, dass die Beweislage nicht ganz sicher war. Eine Gruppe aus Veteranen verschiedener US-Geheimdienste vertritt gar die These, dass der syrische Ableger von al-Kaida, die Al-Nusra-Front, für den Sarinangriff verantwortlich war. Auf die Möglichkeit, dass Assad für den Giftgasangriff vielleicht gar nicht die Verantwortung hatte, geht Obama im «Atlantic» jedoch nicht ein. Stattdessen gibt er seinem Stolz Ausdruck, dass er sich den «militarisierten Antworten», die vom «nationalen Sicherheitsapparat» vorgegeben würden, entzogen habe – und verschweigt, dass er mit der «roten Linie» selbst einen militärischen Automatismus gesetzt hatte.

Es sind Widersprüchlichkeiten, die darauf schliessen lassen, dass selbst Obama, der die Problematik im Irak so klar analysiert hatte, nur beschränkt aus der gigantischen Fehlentscheidung seines Vorgängers gelernt hat. Auch vorbildliche Untersuchungen wie der Chilcot Report könnten bald vergessen gehen – solange sie keine juristischen Folgen haben.