Nordirland: Das Auslaufmodell

Nr. 15 –

Drei Ereignisse prägen den achten Jahrestag des Karfreitagsabkommens: Der Mord an einem ehemaligen IRA-Doppelagenten. Der letzte Lösungsversuch der Regierungen in London und Dublin. Und der Geburtstag des wichtigsten nordirischen Politikers Ian Paisley.

Die Beteuerungen klangen ein bisschen wie das Pfeifen im Walde. Natürlich werde man am Karfreitagsabkommen von 1998 festhalten, sagten Ende letzter Woche die Regierungschefs Tony Blair (Britannien) und Bertie Ahern (Irland); der Vertrag bilde weiterhin «den unverzichtbaren Rahmen für die Beziehungen auf der Insel». Da jedoch wesentliche Elemente des Abkommens (vgl. Kasten «Das Karfreitagsabkommen») seit über drei Jahren blockiert sind, die Regionalversammlung nicht tagt und die Regionalregierung suspendiert ist, werde man nun eine neue Initiative starten. Und so verkündeten die Regierungen von London und Dublin, dass sie die Regierungsversammlung am 15. Mai erneut einberufen werden. Diese habe dann sechs Wochen Zeit, eine Regierung zu wählen.

Da aber selbst Blair und Ahern wissen, wie unwahrscheinlich es ist, dass sich die nordirischen Parteien bis dahin auf die Wahl eines Premiers aus den Reihen der protestantischen Hardliner um Ian Paisley und eines katholisch-republikanischen Vizes von der IRA-nahen Partei Sinn Féin einigen, haben sie ihr Ultimatum gleich verlängert: Nach der Sommerpause hätten die Abgeordneten nochmals drei Monate Zeit, um eine Regierung zu finden. Danach aber würden «andere Wege beschritten». Dann werde die Regionalversammlung aufgelöst, dann erhalte Dublin mehr Mitsprache auch in nordirischen Belangen.

Mit dieser Drohung haben Blair und Ahern ihre letzte Karte ausgespielt. Sie hoffen, dass der Wink ausreicht, um die grösste nordirische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP) mit Paisley an der Spitze, doch noch zu Verhandlungen mit Sinn Féin zu bewegen. Bisher hat sich die DUP strikt geweigert, mit den ehemaligen IRA-Mitgliedern von Sinn Féin auch nur zu reden. Da beide Parteien jeweils die Mehrheit des protestantischen wie des katholischen Bevölkerungsteils repräsentieren, müssen vor allem sie - so sieht es das Karfreitagsabkommen vor - die Regionalregierung bilden.

Zurück zur alten Herrlichkeit

Während Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams den Vorstoss begrüsste, lehnte Paisley das Ultimatum ab. Er werde sich nie dazu zwingen lassen, «die Kriminalität der IRA zu akzeptieren», sagte er am Wochenende. Mit dieser Haltung wurde er in den letzten Jahren zum unangefochtenen Sprecher der probritischen Bevölkerungsmehrheit von Nordirland. Diese hat sich in den letzten Jahren zunehmend vom Friedensprozess abgewandt. Das protestantische Kleinbürgertum hält die Freilassung ehemaliger IRA-Häftlinge und die geringfügige Reform der nordirischen Polizei immer noch für unerträglich. Die protestantischen Arbeitslosen in den Belfaster Slums sehen sich als VerliererInnen, da aus ihrer Warte alles «den Katholiken» zugeschustert wird. Und alle lehnen die Idee einer Gesellschaft von Gleichberechtigten ab - denn die anderen sind ja die «Terroristen». Diese Grundstimmung und der Wunsch, die alten Verhältnisse wieder herzustellen (in denen die ProtestantInnen den Ton angaben) haben den Friedensprozess schon vor Jahren zum Stillstand gebracht.Dass jetzt den Regierungen in London und Dublin nicht mehr einfällt, als mit einem grösseren Einfluss des konservativen Establishments im Süden zu drohen, zeigt ihre Ratlosigkeit. Denn das hat schon 1985 eine ebenso ratlose Margaret Thatcher versucht. Das anglo-irische Abkommen der konservativen Premierministerin scheiterte jedoch am Widerstand der ProtestantInnen. Sollte Blair diese Karte ausspielen, wäre das Abkommen vollends erledigt.

Da jedoch auch die DUP ihre Haltung immer wieder rechtfertigen muss, kam ihr der Mord an Denis Donaldson wie gerufen. Der wurde am Dienstag letzter Woche in seiner Hütte in der irischen Grafschaft Donegal mit einer Schrotflinte erschossen. Donaldson war eine prominente Figur in der irisch-republikanischen Bewegung: Er trat Ende der sechziger Jahre der IRA bei, spielte wie Gerry Adams eine wichtige Rolle in der Belfaster Brigade, teilte Anfang der siebziger Jahre mit Adams eine Zelle im Knast und war ein enger Freund der IRA-Ikone Bobby Sands. Nach seiner Freilassung reiste er in den Libanon und in die USA (wo er die Spendenkampagne zugunsten der irischen Guerilla betreute), hatte stets Zugang zur Führungsspitze der Organisation, war hoch geachtet und leitete ab Ende der neunziger Jahre das Verwaltungsbüro der Sinn-Féin-Abgeordneten.

Im Oktober 2002 endete jedoch seine Karriere: Donaldson wurde festgenommen, weil er (so die Behörden) in Stormont, dem Sitz der nordirischen Verwaltung, Minister und Abgeordnete der anderen Fraktionen bespitzelt hatte. Die damalige Regierung unter dem Friedensnobelpreisträger David Trimble nahm dies zum Anlass, die Koalition mit Sinn Féin platzen zu lassen. London übernahm daraufhin wieder die Direktherrschaft über Nordirland.

Der Friedensprozess kam zum Stillstand - auch wegen Donaldson. Ende letzten Jahres stellte die Staatsanwaltschaft jedoch das Verfahren gegen ihn ein. Es sei «nicht in öffentlichem Interesse». Das warf Fragen auf - und Donaldson bekannte, dass er seit zwanzig Jahren die britischen Geheimdienste über die IRA und deren Aktivitäten informiert habe.

Offene Rechnungen

Aber hat nun die Führung von IRA und Sinn Féin die Exekution des Spitzels Donaldson angeordnet, wie die DUP vermutet? Wohl kaum. Sinn Féin und IRA haben im Unterschied zur DUP ein grosses Interesse daran, die im Abkommen von 1998 begründeten Institutionen wieder zu beleben und in der Regionalregierung präsent zu sein. Ausserdem hat der IRA-Armeerat in letzter Zeit mehrere hochrangige britische Agenten amnestiert. Freddie Scappaticci zum Beispiel war vor drei Jahren enttarnt worden. Er war Chef der IRA-Aufklärung gewesen, machte als solcher Jagd auf Verräter, wie er selbst einer war, und tötete eigenhändig mehrere angebliche britische Informanten. Er lebt inzwischen in Italien. Auch mit Donaldson hatte die IRA-Spitze - davon ist nicht nur die Polizei überzeugt - einen Deal geschlossen: Du hältst den Mund, und wir lassen dich in Ruhe.

Dieser Deal galt jedoch nicht für alle. Niemand weiss, was Donaldson dem britischen Inlandgeheimdienst MI5 genau erzählt hat und ob seine Informationen IRA-Mitglieder ins Gefängnis oder auf den Friedhof gebracht haben. Sicher ist jedoch, dass Informanten wie er in den achtziger Jahren eine Reihe von IRA-Aktionen fehlschlagen liessen, bei denen über ein Dutzend IRA-Mitglieder erschossen wurden - darunter auch zahlreiche Kritiker von Gerry Adams.

Lord Trimble

Während die Medien immer noch über die Motive der Täter und den Hergang der Tat rätselten, feierte Ian Paisley seinen achtzigsten Geburtstag im Kreise seiner Lieben. Anfang April 1998, kurz vor der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens, war er noch mit Cheerio-Rufen aus einer Pressekonferenz gejagt worden, weil die JournalistInnen und die ebenfalls anwesenden Vertreter der probritischen loyalistischen Paramilitärs seine ewiggestrige Litanei nicht mehr hören wollten. Er sei nur ein Relikt aus vergangenen Zeiten, war damals die Meinung. Als er vor zwei Jahren schwächelte, setzten alle auf Peter Robinson, seinen pragmatischen und «moderaten» Stellvertreter. Diese Hoffnungen auf einen schnellen Wechsel sind mittlerweile verflogen. Paisley ist bei guter Gesundheit und erfreut sich mitsamt seiner Familie grosser Beliebtheit - auch in höchsten Kreisen. Am Dienstag dieser Woche adelte die britische Regierung seine Frau Eileen: Tony Blair berief sie als Baroness Paisley of St. George ins britische Oberhaus. Er hat auch David Trimble, den früheren Regionalpremier von Nordirland, zum Lord ernannt. In Nordirland hingegen warten derzeit alle gespannt auf die neue Marschsaison. Sie beginnt am Ostermontag mit protestantischen Umzügen in Belfast. Im letzten September kam es bei Märschen des Oranierordens in Nordbelfast zu den grössten Strassenschlachten seit Jahren: Brandbomben flogen, Loyalisten schossen auf die Polizei, PolizistInnen und Soldaten schossen zurück, hunderte wurden verletzt. Und das in Zeiten des Karfreitagsabkommens.


Das Karfreitagsabkommen

Mit dem am Karfreitag 1998 unterzeichneten Abkommen gab die Republik Irland den Verfassungsanspruch auf die sechs Grafschaften im Norden der Insel auf. Gleichzeitig verzichtete Britannien auf die Provinz Ulster, sollte eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung einen Anschluss an Irland befürworten. Die Vertragsparteien (die Regierungen in London und Dublin und alle grossen Parteien Nordirlands) einigten sich darüber hinaus auf die Bildung einer Regionalversammlung. Deren Entscheidungen müssen von jeweils der Mehrheit der insgesamt 108 Abgeordneten beider Bevölkerungsgruppen gutgeheissen werden. Die Versammlung wählt eine nach dem Proporz der Fraktionen zusammengesetzte Regionalregierung - die grösste Partei stellt den Regionalpremier (den Ersten Minister), die zweitgösste dessen Stellvertreter. Derzeit hätte der protestantische Prediger Ian Paisley Anspruch auf das Führungsamt, der ehemalige IRA-Chef Martin McGuinness würde Zweiter Minister. Ebenfalls vorgesehen und umgesetzt wurde die Einrichtung eines Nord-Süd-Rats, der Dublin eine gewisse Mitsprachemöglichkeit gibt.

Teil des Karfreitagsabkommens war auch eine weitgehende Polizeireform, die vorzeitige Freilassung der politischen Gefangenen und eine Entwaffnung der paramilitärischen Verbände. Die IRA hat mittlerweile ihr Arsenal aufgelöst und ein Ende des Krieges erklärt. Ein ähnlicher Schritt der loyalistischen Paramilitärs steht noch aus.