Montenegro: Europas 55 Prozent

Nr. 20 –

Der Entscheid fällt am 21. Mai: Bleibt der kleine Mittelmeerstaat in einer Union mit Serbien oder wird er unabhängig?

Die Erinnerung an die Vergangenheit hat in den Bergen des alten Montenegro, rund um die ehemalige fürstliche Hauptstadt Cetinje, überlebt. Rund 12 000 Menschen leben dort. In der Stadt stehen noch die alten Paläste und die Gebäude von achtzehn ausländischen Botschaften, die bis zur österreichischen Eroberung Montenegros 1916 aktiv waren, doch wirtschaftlich ist die Region am Ende. Die Menschen hängen vorab an ihrer montenegrinischen Identität; sie sind keineswegs antiserbisch. «Das kleine Montenegro braucht gute Beziehungen zum grossen serbischen Nachbarn. Doch warum sollen die Montenegriner nicht ihren eigenen unabhängigen Staat bilden dürfen?», fragt Petar Martinovic, ein pensionierter Fabrikarbeiter. Er wird für die Unabhängigkeit stimmen, auch wenn er absolut keine Sympathien für das «mafiöse und korrupte» Regime von Premierminister Milo Djukanovic hegt.

Kuriose Loyalitäten

Ganz anders ist die Stimmung im Norden des Landes, wo sich die Mehrheit der EinwohnerInnen anlässlich der Volkszählung 2004 als SerbInnen bezeichnete. Die Volkszählung kam einem politischen Testlauf gleich: Viele, die der serbisch-montenegrinischen Union anhängen, deklarierten sich deswegen als SerbInnen. Seit der Volkszählung 1991 stieg der Anteil der SerbInnen von zehn auf dreissig Prozent der Bevölkerung.

Für Ivan Bulic, Vizebürgermeister der Gemeinde Andrijevica, ist die Unabhängigkeit schlicht unmöglich. «Unsere Kinder studieren in Serbien, wir lassen uns in den Spitälern von Belgrad behandeln, tausende Montenegriner erhalten ihre Renten aus Serbien, wir haben Verwandte auf der anderen Seite der Grenze - haben die Leute, die für die Unabhängigkeit stimmen, denn überhaupt eine Vorstellung von den Konsequenzen?» Die EinwohnerInnen von Andrijevica wählen zu achtzig Prozent unionistische Parteien und bezeichnen sich praktisch ausnahmslos als SerbInnen. «Montenegriner? Wir sind die besseren Serben!», sagt der Wirt eines kleinen Kaffees, wo sich die Spieler der Gusle treffen, einer einsaitigen Violine. Sie singen die Verse der traditionellen serbischen Heldenepen, aber auch jüngere Gedichte und Kompositionen zu Ehren der ehemaligen serbischen Führer in Bosnien, die vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt sind: Ratko Mladic und Radovan Karadzic.

Doch auch in diesen proserbischen Bastionen sind andere Stimmen zu vernehmen. Die von Vesna etwa. Sie führt ein kleines Café in Murino, das rund zehn Kilometer von Andrijevica entfernt liegt. Murino wurde im Mai 1999 berühmt, als Nato-Flugzeuge die alte Brücke im Dorf mit Splitterbomben beschossen. Die Brücke hatte nicht den geringsten strategischen Wert. Sieben Teenager starben.

Das Café von Vesna ist ein Sammelsurium von abgewetzten Sesseln und alten Gegenständen. Vesna thront hinter einer Registrierkasse aus den fünfziger Jahren und enormen, mit dem Hausschnaps Raki gefüllten Flaschen. Vesnas Ehemann, Holzfäller und Kunstmaler, hat für die Dekoration gesorgt. Naive Fresken von orthodoxen Heiligen, aber auch von Ratko Mladic und Slobodan Milosevic schmücken die Wände. Vom ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Milosevic sind sogar lange Zitate an die Wand geschrieben worden. Und dennoch hängt eine Fahne des Königreichs Montenegro unter dem Porträt von Milosevic.

«Wir waren Jugoslawen, doch unser Land wurde zerstört. Aber im Herzen bin ich immer noch Jugoslawe und Kommunist», sagt der Künstler. «Gleichzeitig bin ich auch Montenegriner. Ich stimme für die Unabhängigkeit, denn es ist besser, wenn wir uns trennen und Montenegro seine eigenen Wege geht, statt mit der derzeitigen politischen Komödie weiterzumachen.» Einige Gäste im Lokal sind mit seiner Tirade offensichtlich nicht einverstanden und verziehen ihr Gesicht hinter ihren Zeitungen. «Politika», die Tageszeitung aus Belgrad, wird hier gelesen. Doch Vesna serviert noch eine Runde: «Auf die Unabhängigkeit von Montenegro!»

Muslimische Verbündete

Im Norden ist Montenegro multikulturell. Neben den orthodoxen SlawInnen, die sich eher als SerbInnen verstehen, leben dort eine kleine albanische Gemeinschaft und eine starke slawisch-muslimische Minderheit. In Gemeinden wie Rozaje, Bijelo Polje und Plav sind die MuslimInnen in der Mehrheit. AlbanerInnen und MuslimInnen werden wohl mehrheitlich für die Unabhängigkeit stimmen, aus Misstrauen gegenüber Belgrad und aus Feindschaft gegen den serbischen Nationalismus. Doch auch in der muslimischen Gemeinschaft gibt es widersprüchliche Tendenzen. Die Region des Sandschaks von Novi Pazar, wo die MuslimInnen leben, liegt in Serbien und Montenegro. Falls sich die beiden Republiken trennen, wird auch der Sandschak von einer richtigen Grenze durchtrennt.

Auf serbischer Seite appellieren einige Parteien direkt an die MuslimInnen, gegen die Unabhängigkeit zu stimmen. Denn die rund siebzehn Prozent MuslimInnen werden womöglich über den Ausgang des Referendums entscheiden. Die führenden BefürworterInnen betonen deshalb, dass das unabhängige Montenegro multiethnisch sein soll und alle BürgerInnen gleiche Rechte haben werden. Und Premierminister Milo Djukanovic präsentiert sich gerne als Beschützer der Minderheiten. Gerade die chronische Unterentwicklung im Norden und besonders in den Gemeinden der Minderheiten könnte viele dazu bringen, Ja zu stimmen. Ende April haben auch die offiziellen islamischen Institutionen in Montenegro die MuslimInnen aufgerufen, für die Unabhängigkeit zu stimmen.

Die AlbanerInnen, die etwa sieben Prozent der Bevölkerung ausmachen, und die KroatInnen (etwa zwei Prozent) dürften überaus deutlich Ja stimmen und so den SouveränistInnen eine kleine Mehrheit verschaffen. Entscheidend werden aber die grossen Städte sein, vor allem die Hauptstadt Podgorica, wo 120 000 der 430 000 eingetragenen Stimmberechtigten leben. Im Hinblick auf das Referendum wurden die Listen der Stimmberechtigten überarbeitet, und bis am 20. April haben sich über 20 000 Menschen neu eintragen lassen, vor allem in den Städten. Vermutlich werden diese Menschen mehrheitlich für die Unabhängigkeit stimmen - zum Schaden der Opposition, die Unregelmässigkeiten beklagt.

Gefährliche Grauzone

Die Opposition verfolgt eine doppelte Strategie. Einerseits ist da die Nein-Kampagne, und andererseits wollen die UnionistInnen den Fall des Regimes Djukanovic beschleunigen. Djukanovic regiert Montenegro seit dem Jahr 1998 in absolutistischer Manier, nacheinander als Premierminister, als Präsident und seit 2003 erneut als Premier. Die Opposition wirft dem Regime vor, ins Mafiöse abzugleiten. Mit Grund: Djukanovic selbst taucht in mehreren Klagen wegen Zigarettenschmuggel bei italienischen, Schweizer, deutschen und US-amerikanischen Gerichten auf.

Die nächste Parlamentswahl soll im Herbst stattfinden, doch bei einem Nein am 21. Mai könnte sie vorverlegt werden. Milo Djukanovic hat mehrfach angekündigt, in diesem Fall zurückzutreten. Er versucht jedoch alles, um an der Macht zu bleiben - denn so ist er am besten vor der Justiz geschützt. So oder so wird es einen knappen Entscheid geben. Die Europäische Union hat für die Abstimmung auch noch ganz spezielle Bedingungen erzwungen. Damit die Unabhängigkeit anerkannt wird, müssen 55 Prozent der Stimmenden zustimmen. Diese seltsame Regel wird als Kompromiss dargestellt, denn die Opposition hatte zuerst gefordert, dass die Schwelle bei 50 Prozent aller Stimmberechtigten liegt, also nicht nur der tatsächlich Stimmenden.

So ist es möglich, dass sich Montenegro am Sonntagabend in einer «Grauzone» wieder findet - nämlich bei einem Ja-Stimmen-Anteil von 53 oder 54 Prozent. Und genau das scheint immer wahrscheinlicher. Es dürfte schwierig werden, den SouveränistInnen zu erklären, dass diese Mehrheit nicht genügt. Doch der Sondervermittler der EU, der Slowake Miroslav Lajcak, betont, dass es in diesem Fall kein alternatives Szenario gebe. Die Unabhängigkeit braucht also 55 Prozent, sonst gibt es sie nicht. Auch in Belgrad hält man daran fest.

Für das offizielle Serbien gibt es keine Grauzone. Wenn die 55 Prozent nicht erreicht werden und die Unabhängigkeit abgelehnt wird, sollen die Beziehungen zwischen den beiden Republiken neu definiert werden. Wenn möglich im Sinne einer neuerlichen Zentralisierung, zumal sich die gegenwärtige serbisch-montenegrinische Union als bar jeder Funktion herausgestellt hat.

Der Abstimmungskampf ist zunehmend spannungsgeladen. Und niemand, nicht in Podgorica und nicht in Belgrad, leugnet die Gefahr offener Konfrontationen. Milka Tadic, Direktorin der montenegrinischen Wochenzeitung «Monitor» und schon immer Souveränistin, verbirgt ihre Verbitterung und Unsicherheit nicht: «Wir dienen schon wieder als politisches Experimentierfeld. Haben Sie sonst je von einer demokratischen 55-Prozent-Regel gehört? Man könnte glauben, dass Europa um jeden Preis neue Probleme in der Region provozieren möchte.»


Das Referendum

Abgestimmt wird am Sonntag. Wenn sich die StimmbürgerInnen Montenegros für die Unabhängigkeit entscheiden, bedeutet dies eine neue Etappe in der Zerschlagung Jugoslawiens. Doch auch ein unabhängiges Montenegro wird gespalten bleiben: Denn die UnionistInnen - die AnhängerInnen der Staatenunion mit Serbien - sind etwa gleich stark wie die SouveränistInnen.

Seit Jahren träumen viele MontenegrinerInnen davon, dass ihr Staat unabhängig wird, wie er es bis 1918 vor dem Anschluss an das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen war. Das kleine, gebirgige Fürstentum hatte der türkischen Macht, die den restlichen Balkan beherrschte, immer widerstanden. Regiert wurde Montenegro lange von der Bischofsfürstendynastie Petrovic-Njegos. Am Berliner Kongress 1878 wurde der unabhängige Staat Montenegro international anerkannt.