Jugoslawien ist tot – ein Nachruf: Die nächste Beerdigung steht schon fest

Der Staat war vorher schon tot, aber endgültig begraben wurde Jugoslawien Anfang Februar. Seither existiert an seiner Stelle die Union Serbien-Montenegro.

Nach dem Ersten Weltkrieg gehörten zum Reich der serbischen Könige Regionen, die früher türkisch waren (Mazedonien und Kosovo) oder österreichisch (Slowenien, Kroatien und Bosnien); zudem annektierte es das kleine Königreich von Montenegro. Dieses neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen erstreckte sich von Italien bis Griechenland, von der Donau bis zur Adria. Im Jahr 1929 erhielt es den Namen Jugoslawien: «slawische Länder des Südens».

Jugoslawien zum ersten

Die Idee einer Vereinigung aller Slawen des Südens wurde schon im 19. Jahrhundert ein erstes Mal entwickelt, und zwar von kroatischen Intellektuellen wie Ljudevit Gaj oder dem Bischof von Djakovo, Josip Strosmajer. Die Vereinigungsidee schwankte immer zwischen zwei Modellen: jenem eines freien Zusammenschlusses von durchaus verschiedenen Völkern oder jenem der nationalen Vereinigung rund um das Fürstentum Serbien, das seit 1830 autonom und seit 1878 ein unabhängiges Königreich war. Die Verfechter des letzteren Modells bezogen sich gerne auf die Rolle, die das Königreich Piemont bei der Vereinigung Italiens gespielt hatte.
Die Monarchie Jugoslawien, diktatorisch und korrupt wie sie war, zog rasch die Opposition aller Nichtserben auf sich, vor allem der NationalistInnen von Montenegro, Mazedonien, Albanien und schliesslich Kroatien. Soziale und politische Auseinandersetzungen wurden bald mit zunehmender Härte geführt, wobei die kroatische Bauernpartei eine führende Rolle einnahm. Deren Führer Stjepan Radic wurde 1928 im Parlament von einem montenegrinischen Abgeordneten ermordet. Die kommunistische Partei, im Jahr 1921 in den Untergrund abgetaucht, folgte den Direktiven der Kommunistischen Internationalen (Komintern) und prangerte Jugoslawien als «Gefängnis der Völker» an. Während sich in Europa der Faschismus ausbreitete, machte die serbische Dynastie dem parlamentarischen System ein Ende. Im Januar 1929 hob König Alexander die Verfassung auf und rief seine persönliche Diktatur aus. Zwei Jahre danach führte er die Verfassung wieder ein. Doch 1934 wurde er von den kroatischen Nationalisten, den Ustaschi, ermordet, die sich zu diesem Zweck mit den mazedonischen Nationalisten verbündet hatten.
Das zentralistische Modell, das sich nach 1918 durchgesetzt hat, stiess vor allem die KroatInnen vor den Kopf, die sich der Besonderheit ihrer Kultur und ihrer von der langen österreichisch-ungarischen Herrschaft geprägten Geschichte besonders bewusst waren. Es lief auch den Ansprüchen anderer Völkerschaften im neuen Jugoslawien zuwider – wie jenen der AlbanerInnen, die sich umso weniger im jugoslawischen Staat wiedererkennen konnten, als sie gar keine Slawen sind. Dieses erste Jugoslawien, von Anbeginn von politischen und nationalistischen Widersprüchen durchsetzt, klappte im Frühling 1941 innert weniger Tage zusammen wie ein Kartenhaus unter den ersten deutschen militärischen Vorstössen.

Jugoslawien zum zweiten …

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Jugoslawien in Einzelteile zerlegt. Die kommunistischen Widerstandskämpfer unter Josip Broz Tito beschlossen, das Land auf einer bundesstaatlichen Basis wieder zu gründen. Damit stellten sie sich gegen die Tschetniks, die serbischen Widerstandskämpfer, und auch gegen die kroatischen Ustaschi. Diese Nazi- Kollaborateure erhielten vom Dritten Reich einen eigenen, formell unabhängigen Staat zugestanden, zu dem auch Landesteile von Kroatien und Bosnien gehörten.
Am 29. November 1943 wurde am zweiten Kongress des Widerstandsrates in der bosnischen Kleinstadt Jajce die Sozialistische Bundesrepublik Jugoslawien ausgerufen. Dieses zweite Jugoslawien sollte in seiner Geschichte Ruhmesstunden erleben – vor allem nachdem die jugoslawischen KommunistInnen sich zum Bruch mit ihren sowjetischen Mentoren entschlossen hatten. Zu jener Zeit führte das Land die Bewegung der Blockfreien Staaten an und versuchte, einen «anderen» Sozialismus zu verwirklichen, einen offeneren als das stalinistische Modell.
Der dem sowjetischen Vorbild nachgebildete jugoslawische Föderalismus war zu Beginn sehr theoretisch. Doch nach 1960 gingen Massnahmen zur ökonomischen Öffnung einher mit grösseren Kompetenzen für die einzelnen Republiken. Demokratie gehörte allerdings immer noch nicht zum Programm, doch versuchten alle sechs Teilrepubliken (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien) sowie die beiden autonomen Provinzen (Kosovo und Wojwodina) ihre eigenen Interessen zu fördern. Die Verfassung von 1974 verpflichtete das Land zum Prinzip des Föderalismus. Mangels eines echten Pluralismus wurde das politische Leben im sozialistischen Jugoslawien jedoch vom Gegeneinander der verschiedenen kommunistischen Bürokratien in jeder der Teilrepubliken geprägt. Zwar bemühten sie sich alle um dringend nötige Reformen, doch jede im eigenen Rhythmus und unter eigenen Bedingungen.
Drei wichtige Institutionen sollten dabei den gemeinsamen Staat jederzeit garantieren: die Armee, die Partei und Tito. Die Nationale Volksarmee Jugoslawiens blieb tatsächlich eine einheitliche Kraft – daher wurde sie in den achtziger Jahren von Slowenien und Kroatien infrage gestellt. Nach dem Bruch mit Stalin hatte die Liga der jugoslawischen Kommunisten die Tendenz, sich entlang nationaler Unterschiede zu spalten. Durch wirtschaftliche und institutionelle Reformen hingen die Privilegien der lokalen Bürokratien immer mehr von den Beiträgen ihrer jeweiligen Teilrepublik ans Staatsganze ab. Marschall Tito – er erhielt 1974 den Präsidententitel auf Lebenszeit – blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1980 eine Art Schiedsrichter in den immer zahlreicheren sozialen und nationalen Konflikten. Er nahm diese sicher ernst und bezog sie in seine verschiedenen Reformen ein, unterdrückte jedoch «Exzesse» wie 1971 die Demonstrationen von Zagreb, die unter dem Namen «Kroatischer Frühling» bekannt wurden.
Nach dem Tod von Tito spitzten sich die Spannungen zu, umso mehr als die sozialistische Politik es nicht schaffte, die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Teilstaaten auszugleichen. Die «reichen» Republiken wie Slowenien und Kroatien wollten sich von den armen Regionen trennen und kritisierten die Misswirtschaft der nationalen Verwaltung. Slobodan Milosevic, ein zweitrangiger Bürokrat, übernahm die Kontrolle der Kommunistischen Partei Serbiens und liess den serbischen Nationalismus auferstehen. Als Reaktion darauf erklärten Slowenien und Kroatien 1991 ihre Unabhängigkeit. Die jugoslawische Krise hat tatsächlich die Wiedergeburt des kroatischen Nationalismus begünstigt, der unter der Führung des ehemaligen Widerstandskämpfers Franjo Tudjman ein zwiespältiges Andenken an die Ustaschi-Kollaborateure des Zweiten Weltkriegs pflegt. Der Unabhängigkeitserklärung der beiden ersten Republiken folgten bald jene von Mazedonien und Bosnien-Herzegowina.
Die letzten Versuche zu demokratischen Reformen in der Gesamtrepublik, die der Kroate Ante Markovic, letzter Premierminister des Bundesstaates (1990 bis 1991), unternommen hat, scheiterten am Sperrfeuer der serbischen und kroatischen Nationalisten, aber auch an der Gleichgültigkeit Europas, das nicht begriff, dass dies die letzte Chance zur Rettung Jugoslawiens war.
Allerdings entsprechen die Territorien und Grenzen der neuen unabhängigen Republiken nicht jenen der Ethnien, und alle neuen Staaten umfassen beträchtliche nationale Minderheiten. Die Bundesarmee intervenierte ab Sommer 1991 in Kroatien, offiziell zum Schutz der serbischen Minderheiten im Land. Gleichermassen folgte auf die Unabhängigkeit Bosniens ein blutiger Krieg (200 000 Tote zwischen 1992 und 1995). Er wurde von den serbischen Nationalisten in diesem Land herbeigeführt, die ihrem «Mutterland», der Republik Serbien, verbunden bleiben wollten.

Jugoslawien zum dritten … und letzten

Im April 1992 schafften Serbien und Montenegro ein drittes Jugoslawien, das Anfang Februar aufgehört hat zu existieren. Dieses Rumpf-Jugoslawien hatte hauptsächlich zum Zweck, dass sich das Regime in Belgrad weiterhin als Erbe des «grossen» Jugoslawiens ausgeben konnte, vor allem gegenüber einem immer noch grossen Teil der Bevölkerung von Serbien und Montenegro, der immer noch der jugoslawischen Idee anhing. Doch das Zusammenleben von Serbien und seinen zehn Millionen EinwohnerInnen mit Montenegro, das nur 650 000 EinwohnerInnen zählt, war nur möglich, solange die montenegrinischen Führer brav der politischen Linie von Belgrad folgten. Der Aufstand von Milo Djukanovic nach 1996 zeigte sehr rasch, dass die «Bundes»-Institutionen dieses «dritten» Jugoslawiens eine Illusion waren.
Trotz des Sturzes von Slobodan Milosevic am 5. Oktober 2000 ertrug das kleine Montenegro das Gewicht von Serbien immer schlechter und träumte von Unabhängigkeit – ein von Europa strikt zurückgewiesener Wunsch: Europa will keine weitere Aufsplitterung in der Region. Die neue Union Serbien-Montenegro ist allerdings ein Staat auf Zusehen hin, denn nach drei Jahren können die beiden Republiken entscheiden, ob sie das gemeinsame Abenteuer fortsetzen oder aber über eine Unabhängigkeit abstimmen wollen.
Aus europäischer Sicht hat die neuste Wandlung in Jugoslawien vor allem den Zweck, eine Unabhängigkeit des Kosovo zu verhindern. Wird der föderale Rahmen zwischen Serbien und Montenegro gesprengt, scheint eine Unabhängigkeit des Kosovo tatsächlich unausweichlich. Der Vertrag zur Gründung der Union Serbien-Montenegro überschreibt die jugoslawischen Rechte auf Kosovo ausdrücklich an Serbien.
Die albanischen Führer im Kosovo haben entsprechend negativ auf die Verhandlungen über die neue Union reagiert – von denen sie übrigens gänzlich fern gehalten wurden, für die sie sich aber auch nicht interessieren mochten. Die Logik der westlichen Diplomaten ist allerdings unwiderlegbar. Laut der Uno-Resolution 1244 ist der Kosovo immer noch Teil der Bundesrepublik Jugoslawien, deren legale Erbin die Union Serbien-Montenegro ist. Da der Kosovo ganz klar kein Teil von Montenegro ist, muss seine Zugehörigkeit zu Serbien noch bestätigt werden. Falls die Union auseinander bricht, ist ausdrücklich vorgesehen, dass der Kosovo unter die Hoheit Serbiens gestellt wird.
Die neue Union Serbien-Montenegro friert die Frage einer Unabhängigkeit Montenegros für drei Jahre ein. Aber kaum jemand wettet auf die Lebensfähigkeit dieses Staates. Er wird sicherlich eine gemeinsame Armee haben und gemeinsame Aussenpolitik – hingegen auch zwei Zollsysteme und sogar zwei verschiedene Währungen, hat Montenegro doch den Euro zur offiziellen Währung erklärt, während Serbien seinem Dinar treu bleibt.
In Serbien selber können die liberalen Reformer den neuen Staat mit seinen unklaren Kompetenzen nicht scharf genug verurteilen. Ihr Führer Miroljub Labus, der an den Präsidentschaftswahlen vom letzten Herbst glücklos geblieben ist, fürchtet, dass die institutionelle Unordnung die seit Milosevics Fall blockierte Reformpolitik noch mehr verzögern wird und zudem ausländische Investoren davon abhalten wird, sich für das Land zu interessieren.
Die MontenegrinerInnen ihrerseits sind fest entschlossen, in der dreijährigen Probezeit ihre eigene Unabhängigkeit vorzubereiten. Die albanischen Nationalisten werden nicht zögern, den neuen Staat zu kritisieren. Im vergangenen Herbst drohte Bajram Rexhepi, Premierminister von Kosovo, einseitig die Unabhängigkeit zu erklären, falls die neue Union gegründet werden sollte. Der Konflikt zwischen den Kosovo-AlbanerInnen und der Staatengemeinschaft wird durch den neuen Staat also noch verschärft werden – und seinen Niedergang beschleunigen.

Sehnsucht nach Tito

Vor einigen Jahren kam die Jugonostalgie in Mode. Von Ljubljana bis Skopje sind Bars, die etwas auf sich geben, mit Porträts von Marschall Tito geschmückt; Websites bieten alte Lieder der Widerstandskämpfer an. Abgesehen von dieser Mode, die vor allem von der jüngsten Generation gepflegt wird, die selber den Einheitsstaat kaum gekannt hat, ergeben etliche Umfragen eine unerschütterliche Sehnsucht nach der Zeit Titos: Sie verband ein relativ hohes Lebensniveau mit dem Bewusstsein, einem Land anzugehören, das international anerkannt und angesehen ist. Diese Nostalgie ist besonders ausgeprägt in jenen Republiken, die am meisten vom wirtschaftlichen und politischen System Jugoslawiens profitiert haben, wie Montenegro, Bosnien und Mazedonien – und alles deutet darauf hin, dass diese Jugonostalgie ihre hohe Zeit noch vor sich hat.