Die humanitäre Tradition: Schwester Helvetia

Nr. 24 –

Am 17. Juni ist nationaler Flüchtlingstag. Die Schweiz gedenkt wieder ihrer humanitären Tradition. Und stimmt im Herbst über ein nochmals verschärftes Asylgesetz ab.

Nationale Selbstbilder sind immer schmeichelhaft, zumindest für die Nation, die sie kultiviert. Wenn Frankreich die auserwählte Hüterin der abendländischen Zivilisation ist und die USA der gerechte Weltpolizist, dann ist die Schweiz die beste Krankenschwester, die das Leid fast aller Verfolgten lindert.

Die humanitäre Tradition steht in der helvetischen Mythensammlung an oberster Stelle. Bei jeder Gelegenheit wird sie zitiert: Während besorgte Bürgerinnen in ihrem Namen die Genforschung bekämpfen, lehnten Rechtsnationalisten in ihrem Sinn den Beitritt zu internationalen Organisationen ab. Der Bundesrat wiederum versichert, die geplante Verschärfung von Asyl- und Ausländergesetz stehe nicht im Widerspruch mit dieser Tradition.

Wie jeder Mythos hat auch der von der humanitären Tradition einen wahren Kern. Er bezieht sich auf die «Guten Dienste» der Schweiz und das in Genf gegründete Rote Kreuz, besonders aber auf die Flüchtlingspolitik des 19.Jahrhunderts. Schon 1848 rühmte sich die junge Schweiz, ein humanitärer Staat zu sein: Die Gewährung von Asyl an politisch Verfolgte – mit Vorliebe und bis in die Gegenwart vor allem an Gleichgesinnte – diente auch als Demonstration nationalstaatlicher Souveränität. Nach der europaweiten Rückkehr der reaktionären Kräfte 1815 und den blutigen Niederwerfungen der bürgerlichen und sozialen Revolutionen von 1830 und 1848 flüchteten deutsche, italienische, französische und polnische Politiker und Intellektuelle vor der Repression in die von den Radikalen (den späteren Freisinnigen) regierten Kantone der Schweiz. Umgeben von Monarchien, die keine Pressefreiheit duldeten, wurde die republikanische Schweiz zum begehrten Fluchtort für Revolutionäre (etwa der Pariser Kommune 1871), für Sozialisten – und Anarchisten.

Die Schweiz, besonders der Jura und Zürich, bildete im ausgehenden 19. Jahrhundert das europäische Zentrum der anarchistischen Bewegung, die sich in der Öffentlichkeit mit mehreren blutigen Anschlägen zunehmend diskreditierte. Die wichtigste Figur, der in ganz Europa steckbrieflich gesuchte russische Berufsrevolutionär Michail Bakunin, verbreitete von der Schweiz aus immer wieder seine radikale Lehre von einer mit einem revolutionären Umsturz zu verwirklichenden Gesellschaft ohne Herrschaft, ohne Staat und Gott. Da Bakunin sich politisch betätigte, was den Flüchtlingen nicht erlaubt war, wurde er polizeilich beobachtet.

Auch der italienische Anarchist Errico Malatesta, nach dem die italienische Polizei fahndete, agitierte von der Schweiz aus. 1891 wurde er in Lugano verhaftet. Italien verlangte von Bern, dass der «Terrorist» Malatesta ausgeliefert werde, weil er Mitglied einer kriminellen Vereinigung sei. Das Bundesgericht stimmte dem zu, vertrat aber die Auffassung, dass er nicht gewöhnliche, sondern «politische Verbrechen» verübe: Der Anarchismus bezwecke den Umsturz der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, um das System der Anarchie zu errichten. Die Schweiz lieferte Malatesta nicht aus, was ihn wohl das Leben gekostet hätte, sondern wies ihn aus; über Basel gelang ihm die Flucht nach Belgien.

Die humanitäre Tradition ist nicht nur eine hehre. Zwar hielt die Schweiz den monarchischen Grossmächten meist stand. Die um 1890 konstruierte, angeblich bis ins Mittelalter zurückreichende «dauernde Neutralität», die heute Konservative mit der «humanitären Tradition» gleichsetzen, war eine Antwort auf den ausländischen Druck, den die Flüchtlingspolitik provozierte. Oft aber liess sich die Schweiz einschüchtern und reagierte mit Internierung und Ausweisung. Der «eiserne Kanzler» Otto von Bismarck erreichte, dass Bern 1889 einen Bundesanwalt einsetzte, der geflüchtete deutsche Sozialdemokraten und andere Fremde überwachte.

Über dem Mythos der humanitären Tradition geht gerne vergessen, dass der Flüchtling im 19. Jahrhundert überhaupt keine Rechte besass – auch wenn es bis zum Ersten Weltkrieg viel einfacher war, Staatsgrenzen auch für längere Zeit zu überschreiten. Heute sind laut schweizerischem Asylgesetz diejenigen Personen als Flüchtlinge anerkannt, «die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden». Ob damals ein Nationalstaat einem Flüchtling Asyl gewährte oder nicht, lag – auch rechtlich – allein in seinem Ermessen. In den Genuss des eidgenössischen Asylrechts kamen in der Regel nur diejenigen Personen, die in ihrem Herkunftsstaat wegen «politischer Delikte» verfolgt wurden und flohen – also meist männliche Individuen aus der Mittel- und Oberschicht.

Dieser enge Flüchtlingsbegriff ist auch in die humanitäre Katastrophe des Zweiten Weltkriegs involviert: Die Schweiz – das einzige Land, das gegenüber Flüchtlingen bis Kriegsende ein rassistisches, dem Gedankengut des Nationalsozialismus entsprechendes Selektionskriterium anwandte – ordnete im August 1942 an, dass «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, ... nicht als politische Flüchtlinge gelten». Kurz zuvor hatten die Nationalsozialisten angefangen, die «Endlösung der Judenfrage» zu realisieren.

Nach dem Krieg verabschiedete die Schweiz im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ein Abkommen über die «Rechtsstellung der Flüchtlinge», das die Basis der heutigen, erst 1979 verankerten Asylgesetzgebung mit ihrem breiteren Flüchtlingsbegriff bildet. Doch längst ist das Asylgesetz zu einem Abschreckungsinstrument verkommen, das elementare Grundrechte verletzt. Nach dem Willen des Parlaments soll es nun nochmals verschärft werden; am 24. September wird darüber abgestimmt. Schwester Helvetia könnte arbeitslos werden.