Flucht und Asyl: Plötzlich sind alle willkommen. Fast alle
Die EU und die Schweiz aktivieren erstmals ihre Regeln für Schutzbedürftige während eines Kriegs. Das dürfte Europas Flüchtlingspolitik verändern.
Nicht nur der Krieg hat eine Geschichte, sondern auch die Flucht. Die heutige Asylpolitik gründet auf der Genfer Flüchtlingskonvention, die nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust 1951 die Rechtsstellung von Geflüchteten sicherte. Auch später wurde der Schutz verbessert. So führte die EU nach der Erfahrung der Jugoslawienkriege 2001 die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie ein. Nun wurde sie zum ersten Mal angewendet. Das teilte EU-Kommissarin Ylva Johansson am Sonntag nach einer Sondersitzung der EU-Innenminister:innen mit, an der auch die Schweiz teilnahm.
Der Angriffskrieg von Wladimir Putin treibt Hunderttausende in die Flucht. Gemäss Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR haben – Stand Anfang der Woche – über eine halbe Million Menschen die Grenzen zu den Nachbarländern überquert. In Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Litauen finden sich die grössten ukrainischen Diasporagemeinden. «Viele dürften zuerst bei Verwandten und Bekannten bleiben, um die Entwicklung in der Ukraine aus der Nähe zu verfolgen», schätzt der Migrationsrechtler Alberto Achermann die Lage ein.
Ukrainische Bürger:innen dürfen ohne Visum für neunzig Tage in den Schengen-Raum einreisen. Die Massenzustrom-Richtlinie verschafft ihnen unbürokratisch Schutz: Der Aufenthalt ist auf ein Jahr befristet und kann auf maximal drei verlängert werden. Die Menschen müssen nicht in Asylzentren wohnen und erhalten eine Arbeitserlaubnis. Die EU-Staaten sprechen sich bei der weiteren Verteilung der Geflüchteten ab. Für die Schweiz hat die Richtlinie keine Gültigkeit. Wie Justizministerin Karin Keller-Sutter ankündigte, will der Bundesrat aber eine vergleichbare Regelung anwenden, die auch nach den Jugoslawienkriegen Eingang ins Asylgesetz fand und ebenfalls noch nie zum Einsatz kam: den «Schutzstatus S».
Grosszügige Aufnahme
Während eines Kriegs kann die Schweiz damit Bedürftigen Schutz gewähren. Das Aufenthaltsrecht gilt bis zum Widerruf durch den Bundesrat, eine Arbeitserlaubnis gibt es nach drei Monaten. «Der Status bedeutet eine leichte rechtliche Besserstellung gegenüber der vorläufigen Aufnahme», sagt Achermann. Letztere gilt für abgewiesene Asylsuchende, die nicht ausreisen können. Sie leben oft jahrelang unter prekären Bedingungen.
In dieser Hinsicht birgt der Schutzstatus auch ein Problem: Bei der Erteilung werden reguläre Asylgesuche sistiert. Geflüchtete erhalten also Schutz, können aber während fünf Jahren nicht den definitiven Flüchtlingsstatus erlangen. Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen fordert deshalb, dass persönlich Verfolgte aus der Ukraine – politische Aktivist:innen etwa – zusätzlich zum Schutzstatus auch ein Asylgesuch stellen können.
Vor den Medien meinte Keller-Sutter, die russische Aggression erinnere sie an den Einmarsch der Sowjets 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Damals nahm die Schweiz Zehntausende auf – ein beliebter Beweis für die humanitäre Tradition, gerade unter Bürgerlichen. «Diese Erinnerung ist allerdings so selektiv wie die Asylpolitik selbst», sagt Historiker Jonathan Pärli. Im Kalten Krieg zeigte sich die Schweiz vor allem jenen Personen gegenüber grosszügig, die vor dem Kommunismus flohen. Vergessen geht dabei gerne, dass sie eine strikte Politik etwa gegen linke Chilen:innen verfolgte, die aus der Pinochet-Diktatur geflüchtet waren.
Auch die jetzige Ausrufung des Schutzstatus bedeutet eine Ungleichbehandlung. So weigerte sich Keller-Sutter nach der Machtübernahme der Taliban, mehr Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen. Und auch im Ukrainekrieg sind nicht alle Flüchtenden gleich: Die ukrainische Regierung hat allen Männern von 18 bis 60 Jahren die Ausreise verboten. Sie sind damit den Kriegshandlungen ausgeliefert. In Polen wurde zudem in der Ukraine ansässigen People of Color der Grenzübertritt verweigert.
Progressives Potenzial
Oft sind es gerade solche Widersprüche, aus denen sich Fortschritte erkämpfen lassen. Pärli erinnert an die Freiplatzaktion: «Sie setzte die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge durch – auch weil sie gleiches Recht wie für die Ungarinnen oder Tschechoslowaken fordern konnte.» Der Ukrainekrieg könnte nun eine Veränderung der Asylpolitik im europäischen Massstab bringen: Dass die Massenzustrom-Richtlinie bisher nicht aktiviert wurde und es bis heute zwischen den Dublin-Staaten keinen Verteilschlüssel für Flüchtende gibt, liegt an den osteuropäischen Staaten. Nun, da sie selbst Hunderttausende Geflüchtete unterbringen müssen, könnten sie einer Verteilung zustimmen.
Das wird auch für Keller-Sutter zur Herausforderung. Die Justizministerin, die sich bisher jeder Flüchtlingshilfe verweigerte, wird beim nächsten Treffen der EU-Innenminister:innen sagen müssen, wie viele Asylsuchende die Schweiz aufnehmen kann.
Alberto Achermann bringt noch einen anderen Vorschlag ins Spiel: «Die Schweiz könnte einfach ihre Kontingente für Drittstaaten erhöhen und mindestens einem Teil der Personen so einen regulären Aufenthalt verschaffen. Arbeit gibt es genug.»