Deutschland: Die Besten aus aller Welt

Nr. 28 –

Der Abschiebeweltmeister gibt sich diesen Sommer als weltoffenes Land. Das stimmt – und stimmt auch wieder nicht.

Ob die Teams aus Ghana oder Nigeria das Turnier gewonnen hätten? Wir werden es nie erfahren. Die jungen KickerInnen aus Afrika hatten von den deutschen Behörden keine Visa zur Einreise in die Bundesrepublik erhalten. Und so fehlten sie trotz Einladung zum gleichzeitig neben der Profi-WM ausgetragenen Weltturnier der Strassenfussballer im Berliner Bezirk Kreuzberg. Bundesaussenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bekam bei der Eröffnung deswegen auch den Zorn der KreuzbergerInnen und ihrer internationalen Gäste zu spüren. Seine Rede ging am vorletzten Wochenende auf dem Mariannenplatz – in Anwesenheit von Fifa-Präsident Joseph Blatter und den 200 SpielerInnen der 22 Strassenfussballteams – im Pfeifkonzert unter.

Aber auch Fans aus Teilnehmerländern der Fussballweltmeisterschaft mussten in den letzten Wochen über Schikanen der deutschen Landessicherung berichten. Nach Informationen des antirassistischen Fanbündnisses Fair Play aus Wien erhielten vor allem FussballtouristInnen aus der Ukraine von deutschen KonsularbeamtInnen keine Visa ausgestellt und mussten zu Hause bleiben. Deutsche GrenzerInnen versuchten auch tschechische (EU-)BürgerInnen an der Einreise ins Nachbarland zu hindern. Wer aus Tschechien mit Auto und WM-Ticket, aber ohne Hotelreservierung und ausreichend Bargeld ins Nachbarland wollte, dem bereitete der deutsche Zoll teilweise erhebliche Probleme.

Gänzlich hoffnungslos war das Begehren der hundert offiziell gemeldeten Fussballfans aus dem westafrikanischen Togo. Die togolesische Regierung wollte zwar mit einer halben Million Euro für etwaige Reisekosten ihrer UntertanInnen bürgen. Doch auch das half nichts. Für eine Einreiseerlaubnis verlangten die Deutschen den Nachweis eines eigenen und gut gefüllten Bankkontos, über das die Fussballfans aus dem diktatorisch regierten Togo zumeist nicht verfügten.

Was ist deutsch?

Nicht für alle waren und sind die Hürden für die Einreise nach Deutschland so hoch gesteckt wie für Reisende aus Afrika. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit der Regierungszeit von Rot-Grün (1998-2005) schliesslich zu ihrer Stellung als Einwanderungsland bekannt. Deswegen interessiert heute vor allem die ökonomische Steuerung und nicht mehr die rein ideologisch motivierte gesamte Ablehnung der Migration. Darüber herrscht im Wesentlichen Konsens unter den Eliten, auch bei der zurzeit regierenden grossen Koalition von SPD und CDU.

Den Gesinnungswandel gerade bei den Konservativen mag ein Zitat des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) illustrieren. «Dass wir im Übrigen in Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft haben», sagte er Ende Juni bei einer Rede in Berlin, «ist empirisch ebenso offenkundig wie die Notwendigkeit verbindlicher Regelungen.» Ein bis vor kurzem keineswegs selbstverständliches Bekenntnis. Doch auch führende UnionspolitikerInnen wollen heute die in zweiter und dritter Generation in Deutschland lebenden «Ausländer» nicht mehr einfach rausekeln. Vielmehr sollen sie durch eine Angleichung an «die» deutsche Kultur integriert beziehungsweise assimiliert werden. Umstritten ist derzeit vor allem, was als «deutsch» zu gelten hat und was nicht.

Verschwunden ist die in den achtziger und Anfang der neunziger Jahre dominierende Das-Boot-ist-voll-Rhetorik, die die brutale Anschlagsserie nach der Vereinigung rhetorisch begleitete. Seitdem das vereinte Deutschland durch die EU-Osterweiterung von einem Gürtel «sicherer Drittstaaten» umgeben ist, gelangen auch nur noch wenige Flüchtlinge auf das deutsche Territorium, um hier einen Asylantrag stellen zu können. Die Grenzen sind für Asylsuchende praktisch dicht, wie die Statistiken belegen. Ähnlich ist die Situation in Skandinavien, den Alpenländern oder den Beneluxstaaten. Nicht von ungefähr wandten sich die dortigen Mehrheitsgesellschaften in letzter Zeit verstärkt wieder ihren «inländischen Ausländern» zu, und dies nicht immer so nüchtern wie Bundestagspräsident Lammert in seiner Rede.

«Ehrenmorde», Zwangsheirat, Karikaturenstreit sind Stichworte für extremistische Randphänomene islamisch geprägter Minderheitenkulturen, die zuletzt von den Mehrheitsgesellschaften arg strapaziert wurden. In der Schweiz vertreten Medien wie die «Weltwoche» und Autoren wie Hanspeter Born in der Integrationsdebatte einen neurechten Klassenrassismus, der die längst heimisch gewordene ArbeiterInnenmigration nach Kräften denunziert. Dieser Extremismus der Mitte bedient sich in aller Regel eines Mix aus Islamophobie und demografischen Horrorszenarien.

Schlimmer als das «Dritte Reich»

Frank Schirrmacher formulierte die biopolitische Wahnvorstellung – Verseuchung von Alt-Europa durch Rassenmischung – in einem «Weltwoche»-Interview gewohnt deutlich. «Was gegenwärtig bei uns abläuft», sagte der deutsche Bestsellerautor und Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» dort, «entspricht nicht nur der Veränderung in zwei Weltkriegen. Es entspricht vielmehr dem Schrumpfprozess im Dreissigjährigen Krieg, aber ohne Kriegshandlungen.» Was Schirrmacher demografisch bedeutsamer als «Drittes Reich» und Zweiter Weltkrieg erscheint, ist die – behauptete – Islamisierung Europas durch den Zuzug kinderreicher muslimischer Familien. «Diese Gefahr ist real», so Schirrmacher, und: «Die Islamisierung ist nicht nur eine reale Gefahr. Sie ist sogar Programm. Es gibt in arabischen Staaten starke Kräfte, die eine Reconquista im Sinn haben und auch stark demografisch argumentieren. Noch haben wir viele Muslime, die zur Integration bereit sind. Aber mit jedem Jahr, das verstreicht, wird es schwieriger, weil die muslimischen Gemeinschaften rasant wachsen, während wir gleichzeitig immer nur älter, schwächer, ängstlicher, unsicherer werden, unfähig zu sagen, wer wir sind.»

In Deutschland leben, so wollen es jedenfalls die Ämter wissen, derzeit insgesamt vierzehn Millionen Menschen mit einem «Migrationshintergrund». Man sollte vielleicht besser sagen: mit einem noch erkennbaren, weil aktuellen Migrationshintergrund. Von der Gesamtbevölkerung (82,5 Millionen) haben 6,7 Millionen keinen deutschen Pass. Die grösste Gruppe sind die in der Zeit des «Wirtschaftswunders» gezielt angeworbenen türkischen «Gastarbeiter» (auf den Plätzen zwei und drei folgen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien und ItalienerInnen). Deren Kinder stehen, auch weil sie sich widerspenstiger als ihre Eltern zeigen, im Zentrum der jetzigen integrationspolitischen Debatte.

Von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Auftrag gegebene Studien belegen jedoch, dass ihre Probleme zumeist wenig mit «Islam», dafür viel mehr mit sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung zu tun haben. Migrantischen ArbeiterInnenschichten wurden in beiden früheren deutschen Staaten die rechtliche und die soziale Integration verweigert. Ein schwerer Schlag gegen den völkischen Elitismus von Schirrmacher und Co. war in dieser Hinsicht die überfällige rot-grüne Reform des StaatsbürgerInnenrechts im Jahre 2000. Das neue Gesetz kombiniert Elemente des bislang geltenden Bluts- mit dem Territorialprinzip. Im Land Geborene haben also automatisch den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft. Viele, die schon seit Jahrzehnten in Deutschland lebten und arbeiteten, wurde die Einbürgerung somit erleichtert. «Das Geburtsrecht ist das Kernstück der Reform des Staatsbürgerrechts», sagt die grüne Politikerin Marie-Luise Beck. Seit 2000 wird dank des neuen Gesetzes von jährlich etwa 100 000 Neugeborenen mit ausländischen Eltern automatisch etwa die Hälfte zu deutschen StaatsbürgerInnen. Als Voraussetzung gilt für die Babys, dass zumindest ein Elternteil seit acht Jahren in der Bundesrepublik lebt und seit drei Jahren über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung verfügt.

Keine ComputerinderInnen

Noch 1997 unter der Regierung von Helmut Kohl (CDU) lag die Zahl der Einbürgerungen in Deutschland bei 82 913. Den Spitzenwert erreichten sie unter Rot-Grün im Jahr 2000 mit 186 688, um bis Ende 2004 langsam wieder auf 127 153 zu sinken. Dieser Rückgang gilt beiden heutigen Regierungsparteien als problematisch. «Wir haben nach meiner festen Überzeugung in Deutschland nicht zu viele Zuwanderungen, sondern zu wenige Einbürgerungen», sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert. Hatte man gegen die rot-grüne Reform des StaatsbürgerInnenrechts noch kräftig polemisiert, scheinen die Einbürgerungen vielen Konservativen mittlerweile ohne Alternativen zu sein. Sie werden als rechtliche Voraussetzung für eine vollwertige Integration in die Gesellschaft begriffen. Bei der sinkenden Geburtenrate der «deutschen Deutschen» scheinen IngenieurInnen mit erkennbarem Migrationshintergrund inzwischen sogar erstrebenswert.

«Von Januar bis März 2006 haben sich laut Statistischem Bundesamt gerade noch 138 hoch qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland niedergelassen», klagte Eberhard von Koerber, Vizepräsident der nichtkommerziellen Organisation für einen globalen Gedankenaustausch Club of Rome, im Juli in der «Frankfurter Rundschau». Ein neuer Tiefstand. Die von Rita Süssmuth (CDU) geleitete Zuwanderungskommission hatte 2001 noch den Zuzug von jährlich 20 000 Fachkräften empfohlen und hoffte vor allem auf InderInnen aus dem IT-Bereich. Die rot-grüne Regierung hatte im Jahr 2000, damals unter heftigem Protest von CDU und Gewerkschaften, die so genannte Greencard eingeführt. In wenigen Monaten konnten so 10 000 ausländische Arbeitskräfte angeworben werden. Doch die «New Economy» kriselte, und das 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz gilt erneut als ein Abschottungsgesetz. Wirtschaftseliten beklagen, dass Britannien und die USA für internationale Spitzenkräfte wesentlich attraktiver sind. Sie gelten als weltoffen und unbürokratisch. Auch sind die Löhne dort höher.

Cruijff und Olcay

«Die Besten aus aller Welt müssen in Deutschland attraktive Studien- und Arbeitsbedingungen vorfinden», fordern auch die Grünen in ihrem im Juni vorgelegten «Integrationsvertrag». Ebenfalls strikt an ökonomischer Nützlichkeit orientiert ist die Asylpolitik des von der SPD gemeinsam mit der Linkspartei PDS verwalteten Berliner Senats. Die GenossInnen wollen derzeit unter anderen die kurdische Familie Olcay abschieben. Sie war 1989 vor dem Bürgerkrieg aus der Türkei nach Deutschland geflohen. Der neunzehnjährige Sohn Besir Olcay soll – nach siebzehn Jahren – am 10. August abgeschoben werden. Offensichtlich reicht es nicht zum Computerinder oder zum Fussballstar der deutschen Nationalmannschaft wie bei David Odonkor oder Oliver Neuville.

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sind derzeit 200 000 Menschen in Deutschland akut von der Abschiebung bedroht. Von ihnen leben 120 000 seit über fünf Jahren mit einer jederzeit aufhebbaren «Duldung» im Lande. Viele von ihnen stammen aus dem Irak, dem Kosovo oder aus Afghanistan. Doch trotz Schlagzeilen wie «Leichenhallen im Irak sind überfüllt» oder «Bundeswehrsoldat bei Anschlag in Afghanistan verletzt» sind die Anerkennungsquoten für AsylbewerberInnen aus Krisenregionen sehr gering.

Undenkbar jedoch, dass die Deutschen einem Stürmerstar wie Salomon Kalou von Feyenoord Rotterdam die Einbürgerung verweigern würden, wie es die niederländischen Behörden getan haben. Fussballidol Johann Cruijff war über die Einwanderungspolitik seines Landes denn auch so aufgebracht, dass er lauthals auf die Ministerin für Immigration und Integration Rita Verdonk schimpfte. «Sie trägt einen Teil der Verantwortung», sagte Cruijff über die «eiserne Rita» beim Ausscheiden des Oranje-Teams gegen Portugal und forderte ihren Rücktritt. «Wenn ein grosser Spieler von Kalous Kaliber sich vorstellt und mein Klubmanager ihn wegschickt, müsste der Manager die Konsequenzen tragen. Das gilt auch für Verdonk.»

Verdonk und die gesamte holländische Rechtsregierung sind Ende Juni zurückgetreten. Aber so etwas wäre in Deutschland undenkbar: Ein polternder Franz Beckenbauer könnte zwar die CDU-Kanzlerin Angela Merkel zu Fall bringen, er würde es aber nicht tun. ·



1996 bezogen 488 974 AsylbewerberInnen eine staatliche Zuwendung in Deutschland. 2003 waren es noch 264 240. Die Nettoausgaben sanken im gleichen Zeitraum von jährlich 2,8 Millionen auf 1,4 Millionen Euro. 1992 stellten 438191 Menschen einen Asylantrag , 2004 waren es nur noch 35 607. Die Anerkennungsquote lag 2004 bei geringen 1,5 Prozent. Am ehesten bekamen noch Menschen aus der Türkei oder dem Iran Asyl. Die tausenden AntragstellerInnen aus Nigeria, Ghana, Liberia oder Indien wurden zu hundert Prozent abgewiesen. Die meisten AsylbewerberInnen kamen in den letzten zehn Jahren aus der Türkei, aus Serbien und Montenegro, Afghanistan, dem Irak, Bosnien und Herzegowina sowie dem Iran. Ungeachtet der rückläufigen Entwicklung von Asylanträgen gibt es in Deutschland relativ starke Wanderungsbewegungen: 2003 zogen 768 975 Menschen zu, 626 330 fort. Eine grosse Einwanderungsgruppe bilden traditionell die als «Volksdeutsche» betrachteten SpätaussiedlerInnen aus Osteuropa: 1992 waren es 230 565; 2004 noch 59 093.

Asyl und Migration

1996 bezogen 488974 AsylbewerberInnen eine staatliche Zuwendung in Deutschland. 2003 waren es noch 264240. Die Nettoausgaben sanken im gleichen Zeitraum von jährlich 2,8 Millionen auf 1,4 Millionen Euro. 1992 stellten 438191 Menschen einen Asylantrag in Deutschland, 2004 waren es nur noch 35607. Die Anerkennungsquote lag 2004 bei geringen 1,5 Prozent. Am ehesten bekamen noch Menschen aus der Türkei oder Iran Asyl. Die tausenden AntragstellerInnen aus Nigeria, Ghana, Liberia oder Indien wurden zu hundert Prozent abgewiesen. Die meisten AsylbewerberInnen kamen in den letzten zehn Jahren aus der Türkei, Serbien und Montenegro, Afghanistan, Irak, Bosnien und Herzegowina sowie Iran.
Ungeachtet der rückläufigen Entwicklung von Asylanträgen gibt es in Deutschland relativ starke Wanderungsbewegungen: 2003 zogen 768975 Menschen zu, 626330 fort. Eine grosse Einwanderungsgruppe bilden traditionell die als «Volksdeutsche» betrachteten SpätaussiedlerInnen aus Osteuropa: 1992 waren es 230565; 2004 noch 59093.