Der Doppelmord von Wohlen AG. Teil 4: Ein Clown und vier Wahrheiten

Nr. 29 –

Ein Staatsanwalt, der lebenslänglich, sechzehn und vierzehn Jahre Zuchthaus fordert. Ein Gericht, das seinen harten Anträgen weitgehend folgt. Ein Gericht aber auch, das zweien der Angeklagten ihre Reue glaubt.

Samstag, der 14. Januar, zehn Uhr morgens. Der Filmsaal der Kaserne Bremgarten ist nahezu voll. An die zweihundert Personen verfolgen vor dem Mittagessen die Urteilseröffnung im Prozess um den «Doppelmord von Wohlen» gegen die Brüder Riccardo und Giorgio Sbardella und Romano Breitschmid, angeklagt der Ermordung von Breitschmids Adoptiveltern, dem Wohlener Ehepaar Peter und Ursula Breitschmid, am 12. Februar 1991, der Gehilfenschaft und der Anstiftung dazu. «Schon 1988/89 war der Lebensstil Romano Breitschmids nicht gerade das, was man vorbildlich nennen würde», beginnt Gerichtspräsident Hansjörg Geissmann die Schilderung des Sachverhalts, wie er, die drei Laienrichter und die Laienrichterin ihn nach einer Woche Verhandlung verstehen.

«Vielleicht zu offen, zu frei, im Sinne des 68er Geistes» sei Romano Breitschmid erzogen worden, so der Gerichtspräsident, der Breitschmid als «schillernde Persönlichkeit» charakterisiert. Für die Urteilsverkündung hat sich das Gericht besonders würdig ausstaffiert, doch schon während der viertägigen Gerichtsverhandlung im Zeughaussaal des Modellstädtchens Bremgarten durfte sich die wohlanständige Aargauer Welt von ihm repräsentativ vertreten fühlen, die Herren Richter mit täglich neu gehissten Krawatten, zielorientiert in jeder Aussage, die Frau Richterin ihrerseits behende mit einem grossen Sortiment von Foulards.

Ihnen gegenüber im meist übervollen Gerichtssaal die drei Angeklagten, Repräsentanten der Künstler- und Artistenwelt, polyglott, nirgends recht daheim.

Kein Beitrag zur Wahrheitssuche

Schwammig waren die Aussagen des kleinen, hageren, fast zerbrechlich wirkenden Romano Breitschmid während der rund zweieinhalbstündigen Einvernahme, die ihn sichtlich körperlich und psychisch mitnahm. Konnte er sich nicht mehr genau erinnern? Wollte er sich nicht erinnern? War er einfach zu geschwächt? Mehr als einmal bekundete die Dolmetscherin, die seine Aussagen den Brüdern Sbardella ins Italienische übersetzte, Mühe, ihn zu verstehen, mehr als einmal verlor sich Breitschmids Stimme im mucksmäuschenstillen Saal. Er wolle bei seinen Aussagen bleiben, hatte er vor der Einvernahme erklärt. Doch seine Version der Ereignisse hörte sich mager an neben den detailreichen Schilderungen Giorgio Sbardellas, der nur dann vage wurde, wenn es um seine eigene Rolle im Mordkomplott ging.

Romano Breitschmid, ein Kind der Landstrasse, zeitlebens ohne Wurzeln. Der Mutter weggenommen, ins Churer Kinderheim, die neue Heimat in Wohlen, an die er sich nur langsam gewöhnen konnte, die letzten Schuljahre in Hasliberg, die Artistenausbildung im Tessiner Verscio, die Weiterbildung in Budapest. Barcelona, Paris, Stuttgart, Palma de Mallorca, Hamburg, Gran Canaria, Monte Carlo, Lloret del Mar, Benidorm, die Stationen eines Künstlerlebens - und dann retour, die Untersuchungshaft im Wauwilermoos, in Lenzburg, Bremgarten, der Prozess. Die Anklage: Anstiftung zum Mord an seinen Adoptiveltern. «Was passiert ist, ist eine Tragödie, die mich seit 47 Monaten beschäftigt und in meinen Träumen verfolgt. Es ist für mich schwer, darüber zu sprechen. Ich werde bis zum Tod mit der moralischen Schuld leben müssen», erklärte er am späten Donnerstag- abend, als die Angeklagten das letzte Wort hatten. Und doch wollte er freigesprochen werden: Er habe sich nur unter massivem Druck und Drohungen seines Artistenpartners Giorgio Sbardella am Mordkomplott beteiligt. Ausserdem habe er «die Sache definitiv abgebrochen» mit einem fingierten Telefonanruf, bei dem er vorgegeben habe, erfahren zu haben, dass seine Familie zum geplanten Zeitpunkt des Mordes, Weihnachten 1990, nicht zu Hause sei. Damit sei er vom Mordplan zurückgetreten.

Der Gerichtspräsident wollte es genauer wissen. Er wies Breitschmid auf Widersprüche in seiner Aussage hin, konfrontierte ihn mit ZeugInnenaussagen, welche die Ereignisse in einem anderen Licht zeigten. «Dann muss es wohl so gewesen sein», korrigierte sich Breitschmid des öfteren. «Von Ihnen bekomme ich heute alles, was ich will», so die lakonische Antwort des Präsidenten. Zur Suche nach der Wahrheit konnte oder wollte Romano Breitschmid nicht viel beitragen.

Zwei unvereinbare Versionen

Eine zweite Version lieferte Giorgio Sbardella, der Breitschmid 1987 für seine Show engagiert hatte. Schönfärberisch in jeder Aussage, die seine Beteiligung am Mordkomplott betraf, präsentierte Giorgio Sbardella sich vor Gericht, der Spross einer norditalienischen Zirkusfamilie, mit wenigen Wurzeln auch er: Milano, La Chaux-de-Fonds, wo er seine Frau, eine Tänzerin, kennenlernte, Paris, Las Vegas, Miami, Brüssel, Stuttgart, Hamburg, Bristol, Lloret del Mar, Benidorm, die Haft in Barcelona und im Bostadel (ZG), schliesslich Bremgarten. Der Gutachter bescheinigte ihm eine ausserordentliche Intelligenz, während seiner Einvernahme wirkte der gedrungen-untersetzte, herzkranke Artist und Tenor eloquent, ganz der väterliche Freund Breitschmids, als den er sich darstellte. Nur durch dessen ständiges Insistieren habe er sich dazu bringen lassen, als Vermittler zwischen diesem und dem Killer zu wirken, erklärte er. Fatalistisch, schicksalsergeben präsentierte er sich dem Gericht: «Ich war verwirrt, konnte nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Ich weiss, dass ich Strafe verdiene. Ich schäme mich.» Dabei belastete Giorgio seinen Bruder Riccardo Sbardella schwer, dieser sei der Killer; als er Breitschmids Plan gegenüber seinem Bruder erwähnt habe, sei dieser sofort bereit gewesen, den Mord auszuführen.

Die dritte mögliche Wahrheit stammt von Riccardo Sbardella, dem wachsten der drei Angeklagten, eitel, seine kleine Statur mit hohen Absätzen kaschierend, die Verhandlung aufmerksam verfolgend, immer wieder mit Zwischenrufen kommentierend. Mit empörtem Ernst beteuerte er seine Unschuld: «Il questo signore», dieser Herr da, er meinte seinen Bruder, sei «die Lüge in Person». Nichts, aber auch gar nichts habe er mit dem Doppelmord zu tun, sein Bruder belaste ihn nur wegen Geldgeschichten und weil er ihm eine angebliche Affäre mit seiner Frau nie verziehen habe. Während der Einvernahme schilderte Riccardo Sbardella seine Version: seine Suche nach einer Spezialfarbe, seine Spazierfahrten im Mietauto, die Übernachtung in Annecy während der Tatnacht, auch wenn ihn seine beiden Söhne damals nicht dort gesehen haben wollen, eine Darstellung, der niemand recht folgen wollte, zu unheimlich und verworren war die Geschichte. Doch dann ordnete sein Verteidiger in einem fulminanten Plädoyer die Erzählstränge, brachte Indizien bei, die Sbardellas Thesen stützten, versuchte dem Gericht zu beweisen, dass sein Klient mit dem gemieteten Renault 5 aufgrund des Kilometerstands von Annecy aus Wohlen gar nicht hätte erreichen können.

Am späten Donnerstagabend zog sich das Gericht zur Urteilsberatung zurück, nicht ohne vorher dem Publikum für die ruhige Teilnahme an der Verhandlung zu danken. Elf Stunden brauchten die Richter und die Richterin am Freitag, um zu einem Urteil zu kommen.

Die vierte Version

Die Angeklagten müssen sich erheben. Hansjörg Geissmann eröffnet die Urteile. Das Gericht hat sich für eine vierte Version der Wahrheit entschieden, diejenige des Staatsanwalts, die mehrheitlich auf die Aussagen Giorgio Sbardellas abstellt. Lebenslänglich für Riccardo Sbardella. Vierzehn Jahre Zuchthaus für Romano Breitschmid. Gegen Giorgio Sbardella wird noch kein Urteil gesprochen. Das Gericht erachtet sein Verschulden als ebenso gross wie dasjenige von Romano Breitschmid. Er soll deshalb wie Breitschmid wegen Anstiftung zum mehrfachen Mord und nicht, wie vom Staatsanwalt gefordert, wegen Gehilfenschaft verurteilt werden. Man habe sich den Entscheid nicht leichtgemacht, betont Geissmann. Man sei nicht aufgrund einzelner Indizien, sondern aufgrund der präsentierten Indizienkette der Staatsanwaltschaft gefolgt. Dem Gericht, so Geissmann weiter, sei die «Strafempfindlichkeit» Romano Breitschmids bekannt. «Wir gehen davon aus, dass dies eine Strafe für den Rest seines Lebens bedeutet.» Aber Breitschmid trage eine grosse Verantwortung. Zudem sei damit zu rechnen, dass Breitschmid bei Fortschreiten seiner Aidskrankheit wegen fehlender Hafterstehungsfähigkeit entlassen werde. Und: «Die Strafe wird dem Andenken an das liebe, karitative und aufgeschlossene Ehepaar gerecht.»

Riccardo Sbardella und Romano Breitschmid haben inzwischen Berufung ans Obergericht des Kantons Aargau angekündigt.