Veza und Elias Canetti: Szenen einer Ehe

Nr. 38 –

Die Briefe des Ehepaars an Canettis Bruder Georges zeugen von einer fragilen, mitunter bedenklichen «Dichterliebe».

Ihre Liebe war gross. Und - wenn man Elias Canettis Worten Glauben schenken will - genau so, wie eine «Dichterliebe» sein soll. Sie begann bei einer Vorlesung von Karl Kraus, ging nahtlos über in nächtelange Gespräche über Literatur und schliesslich in dreissig Jahre Ehe, in denen unter anderem Canettis Jahrhundertwerk «Masse und Macht» entstand - nach heutigem Wissen ein Gemeinschaftsprodukt von Veza und ihm. Es sei «unnatürlich, dass heute über ihr Schreiben nichts bekannt ist», schrieb Canetti 1989, inzwischen Nobelpreisträger, im Vorwort zur ersten Buchveröffentlichung seiner Frau - fast dreissig Jahre nach ihrem Tod. Dabei schwieg gerade er, der ihr wichtigster Agent gewesen wäre, sich jahrzehntelang darüber aus. Erstaunt gab er sich auch über den Inhalt von Vezas Werk: «Am liebsten schrieb sie von Frauen, die im Dienst an anderen oder in einer schlechten Ehe zugrunde gingen, obwohl kein einziges dieser Geschöpfe ihr auch im Geringsten nur glich.» Dass das Gegenteil der Fall ist, erfahren wir nun so deutlich wie bisher nirgends aus den unzähligen Briefen, die das Ehepaar - immer einzeln und oft heimlich - an Canettis jüngsten Bruder Georges schrieb, einen in Paris lebenden Arzt. Canetti selbst, der alle seine Briefe von und an Veza vernichtete, hätte die Veröffentlichung wohl zu verhindern versucht.

Später Fund

Zum Glück entging ihm dieser späte Fund. Wunderbar sind nämlich nicht nur Canettis intime Bekenntnisse an Georges, sondern insbesondere die entzückenden, kindlich-koketten Prosastückchen Vezas, die sich vor der zeitweiligen Kälte ihres Mannes in eine verzweifelte (Ersatz-)Briefliebe zu dessen Bruder flüchtet. Aus dem Londoner Exil schickt sie dem schwer kranken Georges nicht nur messerscharfe ironische Analysen des aufkommenden Nationalsozialismus, sondern möchte ihrem «süssen Playboy», der schreibe wie Proust, auch immerzu die «Bazillen wegküssen».

Erschreckend klar wird hier auch das Ausmass der psychischen Labilität Canettis, die er selbst gern verschwieg. Veza schildert Wahnausbrüche, in denen Canetti glaubt, sie sei seine tote Mutter, dann wieder, sie wolle ihn erdolchen. Um ihrem Mann die Arbeit zu erleichtern, tut sie dennoch alles. Denn sie weiss, Canetti schreibt nur, wenn es ihm gut geht. Und gut geht es ihm nur, wenn er seine Geliebte Friedl Benedikt um sich hat. Über Jahre hinweg darf diese denn auch immer wieder bei den Canettis wohnen, Veza pflegt sie sogar gesund und kocht für die beiden, während sie im Nebenzimmer miteinander schlafen. Dass sie - ohnehin schwer depressiv - darob immer wieder beinahe zerbricht und sich das Leben nehmen will, vertraut sie Georges verzweifelt an. Dennoch bittet sie ihn immer wieder, ihren «Bauscherl» für sein Verhalten nicht zu tadeln. Er sei der gütigste Mensch, den sie kenne, ein «unentwickeltes, bezauberndes, geniales Kind», das es mit Samthandschuhen anzufassen gälte. Und so sind die Schreiben an Georges nicht nur ein einziger grosser Liebesbrief an den Bruder und Schwager, sondern immer auch an eine zwar unendlich schwierige, doch letztlich für Verfasserin und Verfasser (über-)lebenswichtige Ehe.

Elias Canetti und Veza Canetti: Briefe an Georges. Hanser Verlag. München 2006. 424 Seiten. Fr. 46.20