Veza Canetti: Aus dem Schatten befreien

Nr. 29 –

Das Schicksal einer Autorin, überschattet vom erfolgreichen Mann: Die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Vreni Amsler würdigt Veza Canetti mit einer neuen «Bildbiografie».

Ist sie von ihrem Ehemann, dem späteren Nobelpreisträger Elias Canetti, jahrzehntelang ausgenutzt worden, da sie den gemeinsamen Lebensunterhalt finanzierte, den Haushalt erledigte, gesellschaftliche und berufliche Kontakte herstellte, an seinen Werken mitarbeitete und seine langjährigen Geliebten ertrug? Ja. Hat Veza Canetti das freiwillig mitgemacht? Nun ja, mit der Freiwilligkeit ist es so eine Sache. Sie hat ihre Lage durchschaut, gegen Ende bitterlich darüber geklagt. Und doch blieb sie bei Elias, aus Zuneigung, aus Bewunderung, aus Pflichtgefühl.

Bereits in den neunziger Jahren wurde versucht, Veza Canetti (1897–1963) aus dem Schatten von Elias zu befreien. So erschienen posthum zwei Romane, ein Theaterstück und zwei Erzählbände, es folgten verschiedene Studien, eine erste Biografie. Die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Vreni Amsler bemüht sich seit zehn Jahren energisch um eine Rehabilitierung. Nach ihrer Dissertation von 2017 publizierte sie 2020 eine monumentale «Netzwerk-Biografie», und kürzlich ist von ihr eine «Bildbiografie» erschienen. Gestützt im Wesentlichen auf das frühere Buch, stellt sie darin kurze, zusammenfassende Texte zu zahlreichen Fotografien und Dokumenten.

Erzählungen unter Pseudonym

Venetiana «Veza» Taubner-Calderon entstammte einer in Wien ansässigen sephardischen Familie. Der Vater war Handelsreisender, starb aber früh. Ein Teil der Familie mütterlicherseits zog nach England und hielt engen Kontakt mit Wien. Veza Taubner unterrichtet ab 1918 als Englischlehrerin, arbeitet als Lektorin, veröffentlicht erste eigene Texte. Ab 1924 ist sie mit dem weitgehend mittellosen, aber seiner Mission als Grossschriftsteller bewussten Elias Canetti liiert, formalisiert diese Beziehung jedoch erst 1934. Veza scheint vielfach als Autorin, Übersetzerin und Vernetzerin für sich und ihren Mann tätig gewesen zu sein. Ab 1932 tauchen in sozialdemokratischen Zeitungen Erzählungen von ihr unter verschiedenen Pseudonymen auf, vor allem unter «Veza Magd» – Amsler betont die ironische Selbstabwertung, die sich darin äussert.

Mit dem Austrofaschismus ab 1934 werden die Lebensumstände schwierig, 1938 können die Canettis nach dem «Anschluss» Österreichs an «Grossdeutschland» gerade noch rechtzeitig nach London fliehen. Dort leben sie zuerst eher ärmlich, obwohl Veza ein neues Beziehungsnetz aufbaut und sich später als Vermittlerin zwischen der englischen Exilszene und neuen deutschen Verlagen versucht. Parallel dazu wird die englische Übersetzung von Elias Canettis Erstlingsroman «Die Blendung» ein überraschender Erfolg. Dessen Durchbruch in Deutschland hat Veza indes nicht mehr erlebt, da sie 1963, lebensmüde, in London stirbt.

Akribische Recherche

Für ihre Biografie von 2020 hat Vreni Amsler den umfangreichen Canetti-Nachlass in Zürich ausgewertet und vielfältige andere Quellen erschlossen. Sie hat weiträumig recherchiert, das familiäre Umfeld ebenso wie die Wiener Kultursalons, in denen Veza Taubner verkehrte, und hat akribisch die linken Publikationen in Österreich und in Deutschland aufgespürt, in denen Vezas Erzählungen pseudonym erschienen. Keine Information entgeht ihr, die sich in Verbindung mit Veza bringen liesse. Der Begriff «Netzwerkbiografie» ist angemessen: So vieles ist vernetzt, familiär, beruflich, politisch, gesellschaftlich. Das ist verdienstvoll und eindrücklich, weitet sich über die Canettis hinaus in eine breitere Kulturgeschichte – aber in Bezug auf Veza Taubner-Canetti ist das Verfahren nur bedingt ergiebig.

Trotz aller Bemühungen bleibt vieles in diesem Leben und Werk im Ungewissen. Selbst der Unfall, bei dem Veza als Jugendliche einen Arm verlor – sie trug deshalb eine Prothese und lernte, mit einem Arm die Schreibmaschine zu benutzen –, kann nicht datiert oder lokalisiert werden. Wann und was sie für den renommierten Malik-Verlag gearbeitet hat, bleibt mangels Verlagsunterlagen unklar. Die laut eigenen Briefen von ihr verfassten Kinderbücher sowie ein knappes Dutzend Romane und Theaterstücke sind zumeist verschollen. Elias Canetti hat sie zweifellos zugearbeitet, aber wie weit diese Zuarbeit ging, ist schwierig zu bestimmen. Veza muss etliche angelsächsische Romane übersetzt haben, aber nur bei einem taucht ihr Name auf. Sie hat als Literaturagentin gewirkt, stand während und nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Arbeitsverhältnis mit Robert Neumann, doch lassen sich handfeste Nachwirkungen nicht feststellen.

Stattdessen stürzt sich Amsler in Mutmassungen. Könnte, höchstwahrscheinlich, vielleicht, gut möglich, nicht auszuschliessen, unsicher, aber denkbar, muss offenbleiben, nicht mehr rekapitulierbar – das Buch wirkt zuweilen wie ein Kompendium von Synonymen für: Man weiss es nicht.

Einiges von dem, was Amsler ihrer Heldin zugutehält, ist «gut möglich» oder zumindest «nicht auszuschliessen». Die Zusammenarbeit mit ihrem Mann ist mehrfach bezeugt. Einen programmatischen Vortrag zum Schriftsteller Hermann Broch scheint sie tatsächlich nicht nur recherchiert, sondern wesentlich verfasst zu haben. Aber ob Veza die wichtigsten Werke von Elias Canetti, «Die Blendung» und «Masse und Macht», zur Hälfte geschrieben hat und dass auch drei Übersetzungen von Upton-Sinclair-Romanen, die unter dem Namen von Elias Canetti erschienen, von ihr stammen, muss wohl «offenbleiben». Zumal dieser die Sachlage auch selbst verunklärt hat. Nachdem er, eifersüchtig auf Verehrer wie auf ihre schriftstellerischen Qualitäten, Veza zu deren Lebzeiten eher behinderte, setzte er nach ihrem Tod zu einer Apotheose an, übte sich in heftiger Selbstanklage und meinte, sie habe mehr Anteil an seinen Büchern als er selbst.

Was bleibt

Dass Arbeiten, etwa Übersetzungen, von Frauen geringschätzig behandelt und unterschlagen wurden, steht ausser Frage; dass «Ghostwriting» existierte, wie es Veza womöglich für Robert Neumann betrieben hat, ebenfalls. Veza war insofern nicht nur ein Opfer ihres Mannes, sondern des patriarchalen Literaturbetriebs. Aber wie weit das ging und vor allem, welche literarisch hochstehenden Werke von Veza selbst uns deshalb verloren gegangen sind: Man weiss es nicht.

«Die gelbe Strasse», ihr erster Roman, den sie 1934 aus früheren Erzählungen neu gebaut hatte, zeigt einen ganz eigenen Stil und eine eigene Stimme, alltagsgesättigt und grotesk, sozialkritisch und anrührend. Das ist grandios. Dagegen ist der zweite, 1939 in London geschriebene und posthum 1999 veröffentlichte Roman «Die Schildkröten» quälend missraten. Beklemmend zwar die autobiografisch fundierte Handlung der sich steigernden antijüdischen Anfeindungen in Wien bis hin zu den Pogromen im November 1938. Beschrieben aber wird das in einer hochgeschraubten Sprache, die sich in philosophischen Auslassungen verliert, mit fünf Hauptfiguren, die im Angesicht der Verfolgungen scharf zugespitzte unterschiedliche Lebenshaltungen repräsentieren müssen, und mit einem abstrusen Plot um einen bestechlichen SA-Mann. Zuweilen fühlt man sich an Elias Canettis «Die Blendung» erinnert. Das hat Veza Taubner denn doch nicht verdient.

Cover von «Veza Canetti. Bildbiografie. Orte und Artefakte»
Vreni Amsler: «Veza Canetti. Bildbiografie. Orte und Artefakte». StudienVerlag. Innsbruck 2023. 368 Seiten. 52 Franken.