Agrarpolitik und Krisenvorsorge: Notlösung Ragusa

Nr. 7 –

Auf die Landwirtschaftspolitik hat das für die Krisenvorsorge zuständige Bundesamt keinen Einfluss. Aber wenn es eng wird, werden zuerst die Hühner geschlachtet.

Die Ladenregale sind gefüllt, die Einkaufswagen auch. Der Nachschub rollt, in den Gestellen dürfen keine Lücken entstehen. Was aber passiert, wenn nicht mehr genug Güter nachgeliefert werden können? Wenn in der Schweiz Lebensmittel, Strom, Öl und Medikamente knapp werden?

Dann schlägt die Stunde des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL). Untergebracht in einem unscheinbaren Bürogebäude in einem Berner Quartier, beschäftigt sich das Amt in einer Art Parallelwelt mit Planungen für den Ernstfall, für die Krise. Vizedirektor Gerold Lötscher nennt Beispiele: Tschernobyl, die Rinderseuche BSE oder die langen Trockenperioden der letzten Jahre. «Besonders exponiert und anfällig ist die Nahrungsmittelproduktion. Sie ist kompliziert, nicht zu vergleichen mit der Fabrikation von Kleiderbügeln.» Die internationale Arbeitsteilung ist ein höchst sensibles Gebilde – eine vernetzte Struktur mit Just-in-time-Produktion. «Heute lässt sich alles aus dem Ausland beziehen», sagt Lötscher: «Aber das kann sich alles ändern von einem Tag auf den anderen.» Als die Rheinschifffahrt im heissen Sommer 2003 wegen des niedrigen Wasserstands rund zwei Monate lang eingeschränkt werden musste, habe dies die Versorgung der Schweiz beeinflusst. «Damals mussten wir auch feststellen, dass bei den Heuimporten die gutnachbarschaftlichen Beziehungen mit Frankreich plötzlich nicht mehr spielten.»

3000 Kalorien pro Person

Beim Erdöl ist die Schweiz vollständig abhängig von ausländischen Lieferungen. Auch bei der Versorgung mit Lebensmitteln ist sie auf Einfuhren angewiesen, vor allem von pflanzlichen Produkten – Getreide, Speiseöl, Zucker. Hat das BWL deshalb bei der derzeitigen Umgestaltung der Landwirtschaft - Stichwort Agrarpolitik 2011 – mitzureden? Schliesslich hält der Artikel 104 der Bundesverfassung sehr generell fest, dass die einheimische Landwirtschaft einen wesentlichen Beitrag zur sicheren Versorgung der Bevölkerung zu leisten habe.

«Wir dürfen nicht in die Strukturen der Landwirtschaft eingreifen, weil die Politik sie nicht auf den Krisenfall ausrichten will. Uns bleibt die Aufgabe, aus den gegebenen Verhältnissen das Beste herauszuholen.» Lötscher stört sich nicht an den laufenden Umwandlungsprozessen: Noch nie sei die Landwirtschaft so leistungsfähig gewesen wie heute. Die aktuelle Landwirtschaftspolitik komme seinem Amt entgegen: «Landwirtschaft, die Erfolg hat, dient uns auch in einer Krise am meisten.»

Wirtschaftliche Landesversorgung in Krisenzeiten bedeutet die Bewirtschaftung des Mangels. Ehe das BWL aktiv werden kann, muss der Bundesrat in einem politischen Entscheid einen Engpass feststellen. Im BWL macht man sich schon Gedanken, wie ein Versorgungsengpass aussehen könnte: «Wir wollen nicht warten, bis eine Hungersnot ausbricht», sagt Lötscher.

Das BWL richte sich auf die ersten sechs Monate Krise ein und wolle in dieser Periode 3000 Kalorien pro Person abgeben können: «Unseren luxuriösen Versorgungsstandard können wir natürlich nicht aufrechterhalten.»

In diesen ersten sechs Monaten wird die Versorgung über das Angebot geregelt. Für jeden speziellen Fall wird für den Nachschub mit den drei Faktoren Aussenhandel, Inlandproduktion und Pflichtlager eine optimierte Rechnung gemacht. Nur bei länger andauernden Versorgungsengpässen greift das BWL über Kontingente und Rationierungen auf der Nachfrageseite ein.

Kaffee im Pflichtlager

Lötscher betont, dass nicht mehr einfach auf Teufel komm raus produziert werde wie während des Zweiten Weltkriegs. Damals hatte die Anbauschlacht – der sogenannte Plan «Wahlen» – jede irgendwie nutzbare Fläche zur Produktion zugezogen. Städtische Grünanlagen wurden in Kartoffeläcker verwandelt. «Aber», sagt Lötscher, «damals war da noch eine Bevölkerung, die selber Hand anlegen konnte. Heute funktioniert der Gedanke der Selbstversorgung nicht mehr.»

Von den drei Faktoren zur Angebotssteuerung ist der Import wohl am wenigsten planbar. Immerhin unterhält die Schweiz eine eigene Hochseeflotte mit 29 Schiffen. In Krisenzeiten sollen sie notwendige Rohstoffe und Produkte eigens für die Schweiz transportieren.

Innerhalb der Schweiz kann der Bund über die Pflichtlager den mittelfristigen Bedarf ergänzen und längerfristig die Inlandproduktion steuern. Zur Bedeutung der Pflichtlager sagt Lötscher: «Wir haben fünf Produkte vorrätig: Zucker, Speiseöl und -fett, Reis und Getreide sind nahrhafte Produkte. Hinzu kommt Kaffee, er dient eher der psychologischen Unterstützung: «Kaffee ist ein Motivator und Muntermacher», sagt Lötscher: «Warum sollten wir auf ein Gut verzichten, das so problemlos zu lagern ist?» Doch mit diesen Nahrungsmitteln allein kann sich die Bevölkerung nicht ernähren. «Wir stellen aus den Pflichtlagern und der einheimischen Produktion ein insgesamt verträgliches Menü zusammen», sagt Lötscher: «Wir wollen die Bevölkerung nicht mit Reis durchfüttern.»

Die Führung der Pflichtlager delegiert der Bund an die Industrie. Dieses Modell ist weltweit einzigartig: Die Importeure sind verpflichtet, einen Teil der Produkte für den Krisenfall am Lager zu halten. «Der Bund hat selber keine Lager. Wir greifen auf jene zurück, die bereits im Geschäft sind und immer tipptoppe Ware haben», sagt Lötscher. Der Bund muss diese Vorräte nicht bezahlen. Er gestattet aber den Importeuren, die zusätzlichen Kosten von bis zu vier Rappen pro Kilo auf die Preise zu schlagen. Ausdruck dieser Arbeitsteilung ist die Tatsache, dass immer VertreterInnen der Privatwirtschaft als Delegierte das BWL leiten. Bislang kamen diese Führungskräfte aus dem Energiesektor. Mit der Migros-Managerin Gisèle Girgis-Musy ist erstmals die Lebensmittelbranche am Zug.

Von den in den Pflichtlagern aufbewahrten Gütern lassen sich Getreide und Zucker in der Schweiz anbauen. Im Notfall lässt sich also der Grad der Selbstversorgung steigern – heute liegt er für Getreide bei sechzig Prozent. Aber eine Umstellung der landwirtschaftlichen Produktion im Krisenfall braucht Zeit und ist heikel. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Informatik der Universität Freiburg sind die Grundlagen bereits vorbereitet. «Das ist eine sehr genaue Angelegenheit. Da werden keine Entscheide aus dem hohlen Bauch gefällt», sagt Lötscher: «Wir machen nur Änderungen, die praktikabel sind und einen Mehrwert schaffen.»

Tendenziell bedeute eine Umstellung mehr Getreide und Kartoffeln und weniger Fleisch und Geflügel. Dabei ist klar: Im Umstellungsfall müssten wohl die Hühner zuerst dran glauben, denn als Körnerpicker stehen sie in direkter Nahrungskonkurrenz zur Bevölkerung. Komplizierter ist es bei Rindern, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits sollten Kälber nicht voreilig geschlachtet werden, da sie als Rinder deutlich mehr Fleisch liefern. Anderseits darf man den Bestand an Milchkühen nicht allzu sehr reduzieren, denn vor allem Kleinkinder sind auf Milchprodukte angewiesen.

Die Ökofrage

Dank der vorhandenen Grundlagen kann das BWL laut Lötscher innert drei Tagen einen Anbauplan entwickeln, der angemessen auf eine spezifische Lage reagiere. Kantone und Gemeinden müssen ihn dann mit den BäuerInnen umsetzen. Die Lenkung der Produktion bedeutet für die Bauern natürlich einen Eingriff in ihre Wirtschaftsfreiheit, und die Verlagerung von der Milchwirtschaft hin zum Getreideanbau führt tendenziell zu geringeren Einnahmen. Dies dürfte aber dank generell höherer Preise in Krisenzeiten mehr als kompensiert werden.

Bleibt die Frage, ob die Bemühungen um eine ökologische Produktion auch unter erschwerten Bedingungen aufrechtzuhalten sind: «Grundsätzlich ist es sinnvoll, so weiterzuproduzieren, wie man sich das gewohnt ist», sagt Lötscher. «Ökologisch produzieren heisst ja auch weniger Einsatz von importierten Ressourcen. Das wäre in Krisenzeiten vielleicht nicht so schlecht.» Aber irgendwann stosse man an eine Grenze: «Wenn mit anderen Methoden mehr zu produzieren wäre, dann würden die ökologischen Auflagen wohl gelockert.»

Schliesslich wäre ein Notregime auch für die verarbeitende Industrie mit Änderungen verbunden: Abstriche an der Verpackung, Verzicht auf Spezialbrote und Spezialjoghurt. Zuweilen schafft die Industrie unter derart schwierigen Umständen sogar kreative Überraschungen. Wie während des Zweiten Weltkriegs, als der Schokolademangel einen bernischen Unternehmer zwang, seinen Produkten Haselnüsse beizufügen. Daraus entstand «Ragusa», das «unangefochtene Leaderprodukt» (Eigenwerbung) aus dem Haus Camille Bloch.

Kluger Rat - Notvorrat?

Zur Zeit des Kalten Kriegs war das Thema Notvorrat ein Dauerbrenner. Publikationen wie das berühmte Büchlein «Zivilverteidigung», das im Auftrag des Bundesrats vom Justiz- und Polizeidepartement herausgegeben und 1969 an alle Schweizer Haushalte verteilt wurde, unterschieden zwischen einem Schutzraumvorrat für zwei Wochen und einem auf zwei Monate angelegten Notvorrat für den Haushalt.

Und heute? «Notvorrat ist immer eine gute Sache», sagt Lötscher. «Ob Tschernobyl, die Irakkriege oder andere unerwartete Ereignisse – die Schweizer und Schweizerinnen decken sich mit allen möglichen und unmöglichen Artikeln ein.» Beim Irakkrieg von 1991 sei teilweise die doppelte Menge über den Ladentisch gegangen. «Steigt die Nachfrage plötzlich um hundert Prozent, kommt es zu Lieferschwierigkeiten. Und ‹la baisse amène la baisse›: Wer vor einem leeren Regal steht, ist alarmiert …»

Es gibt keine Pflicht zum persönlichen Notvorrat, das BWL macht auch keine Werbung dafür. «Aber wenn die Leute etwas zu Hause haben, dann ist einer Notsituation etwas die Spitze gebrochen», sagt Lötscher. Es sei erstaunlich, wie dem Notvorratgedanken auch heute noch nachgelebt werde: «Vor allem ältere Menschen und jene auf dem Land, die noch einen Bezug zur Herkunft der Lebensmittel haben, legen einen Notvorrat an.»