Friederike Kretzen: Erkenntnisse im Halbschlaf

Nr. 14 –

Im Roman «Weisses Album» erinnert sich die Autorin an ihre Kindheit und Jugend im Deutschland der Nachkriegszeit.

Leverkusen ist eine Stadt am Rhein auf halber Strecke zwischen Köln und Düsseldorf. Wer im Zug vorbeifährt, erkennt sie sofort, auch nachts, denn eine riesige Leuchtreklame schwebt über dem Ort: Bayer. Am Tag sieht man auch das nicht endende Werk des Chemieriesen Bayer-Leverkusen. Die schöneren Ecken der Stadt liegen ausserhalb, angenehme Siedlungen, ein Schloss, das heute ein Museum beherbergt, die Promenade am Rhein.

In Leverkusen ist Friederike Kretzen aufgewachsen, seit 1983 lebt die heute fünfzigjährige Autorin in Basel. In ihrem neuen Buch «Weisses Album» beschwört sie die Atmosphäre der Stadt ihrer Kindheit herauf. Ein Kino gibt es da, in dem die hintere Mauer fehlt, so dass man auf den verlassenen Sitzen einen ewigen «Dokumentarfilm über die Farbenfabriken Bayer, ihre Kamine, Tanks, Leitungen, die staubbedeckten, kalkigen Fabrikationshallen» betrachten kann.

Drei Freundinnen, Hannah, Gitti und Elschen, kehren in Gesprächen in diese Stadt ihrer Kindheit zurück, wo sie auf den vergifteten Böden spielten (aber das wussten sie damals nicht) und im Schultheater Tschechows «Drei Schwestern» darstellten. Deren Sehnsucht «Nach Moskau, nach Moskau» konnten sie gut verstehen, waren sie doch selbst von Fernweh geplagt, getrieben von einer Fliehkraft, die sie nun, viele Jahre später, erst begreifen. Denn auch diese 1956 Geborenen waren noch Kriegskinder. Es waren Kinder von traumatisierten Eltern, die deren Spannungen und Verluste aufzufangen hatten.

Das erzählt Friederike Kretzen alles andere als dokumentarisch. In einer kreisenden Suche, auf assoziativen Wegen über Erinnerungsfetzen und Traumbilder, beschwört sie jene Atmosphäre herauf, die ihr als Heranwachsende die Luft abschnürte. Die drei Figuren des Romans verschmelzen dabei zu Stimmen, die wie im Halbschlaf oder im Traum sprechen. Vielleicht sind es auch nur drei Aspekte eines Ichs: der Tochter. «Ich bin eine Tochter aus diesem Nachleben», heisst es einmal. Die Tochter, die neben der Mutter im Ehebett schläft, auf der Seite des verschollenen Vaters. Die Tochter, die sich als Blitzableiter für die Spannungen am Esstisch fühlt. Das Kind, das glaubt, sich schuldig bekennen zu müssen am Unglück seiner Eltern.

«Wir sind die Stimmenmischung von Toten und Lebenden», sagt eine dieser Töchter, und alle fühlen sich dazu gedrängt, ein fremdes Leben annehmen zu müssen. Das geht über die übliche Tragödie hinaus, Erwartungen der Eltern zu erfüllen oder deren Frust zu kompensieren. Diese Nachkriegskinder spürten, dass sich vor ihrem Dasein Katastrophen abgespielt haben, von denen sie nur vage etwas ahnten, die ihnen grösstenteils verschwiegen wurden. Sie versuchten sich zu befreien, durch Aufbrüche wie die 68er- Revolte, durch Reisen, durch Wegziehen. Daher wohl der Titel «Weisses Album», der auf die Beatles-Platte anspielt, die das Lied enthält: «Back in the USSR».

Aber Kretzens Roman ist der handgreifliche Beweis, dass jene Befreiungsversuche nicht wirklich gefruchtet haben. Erst die Traum- und Seelenarbeit, die er dokumentiert, scheint die Erinnerungen an jenes Nichtleben im «Feinstaub der Ahnen» durchdrungen zu haben. So kann Hannah gegen Ende des Buchs klarsichtig feststellen: «Die Geister, die wir rufen, gibt es nicht ... Doch gibt es die, die uns rufen, und wenn wir sie nicht loswerden, dann sind wir es, die sie nicht loslassen können.» Das ist eine klassische psychoanalytische Erkenntnis. Ihren Spuren scheint das Buch zu folgen. Es ist nicht leicht zu lesen, denn wie Träume folgt es keiner vertrauten Logik. Manchmal sind die kreisenden Assoziationen auch etwas verstiegen, oder man wird der fortwährenden raunenden Beschwörung eines Zustands von Schlaf und Versenkung müde. Aber dafür entschädigen wunderschöne surreale Passagen, die man vielleicht nur im Halbschlaf wirklich verstehen kann.

Friederike Kretzen: Weisses Album. Nagel & Kimche. Zürich 2007. 224 Seiten. Fr. 35.50