Durch den Monat mit Ruth Dreifuss (Teil 1): Mit Wadenkrämpfen?

Nr. 22 –

WOZ: Man hat Sie als Bundesrätin oft «Landesmutter» genannt. Sind Sie mütterlich?
Ruth Dreifuss: Ich habe die Bezeichnung nie besonders gemocht. Auch das Wort «Landesväter» behagt mir nicht. Die Bürgerinnen und Bürger sind keine Kinder.

Man kann verschiedene «Kinder» haben. Welches von ihnen macht 
Ihnen im Moment am meisten Sorgen?
Der Bundesrat. Die Beziehungen zwischen Bundesrat und Parlament verschlechtern sich, und dies schon seit einiger Zeit. Unser politisches System ist ein seltsames Ding: Es kennt keine institutionelle Lösung für Konflikte. In andern Ländern kann die Regierung das Parlament auflösen oder das Parlament die Regierung absetzen. Bei uns nicht.

Sodass das System selbst zu Kompromissen zwingt?
Genau. Und wenn es am Willen fehlt, Kompromisse zu finden, stösst es schnell an seine Grenzen. Ich war in letzter Zeit öfter schockiert von Kehrtwendungen des Bundesrates. Beispielsweise die plötzliche Unterstützung der Initiative der Freisinnigen Partei zum Verbandsbeschwerderecht in Umweltschutzfragen. Das ist im klaren Widerspruch zu allen Positionen, die der Bundesrat bisher erarbeitet hat. Ein weiteres Beispiel ist der Vorschlag des Bundesrats im Bereich der zweiten Säule. Noch bevor die erste Revision des BVGs umgesetzt wird, werden bereits Vorschläge gemacht, es drastisch zu verschärfen, mit schwerwiegenden Folgen für die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner. Das schlimmste für eine Regierung ist aber, wenn es ihr an Zuverlässigkeit und Kohärenz mangelt.

Wenn Sie sich an Ihre Jahre im Bundesrat erinnern und mit den 
letzten vier Jahren vergleichen – was ist anders geworden?
Das Klima im Bundesrat war auch damals nicht frei von Spannungen. Aber es war ein Klima des menschlichen Vertrauens, man konnte offen diskutieren. Und gemeinsame Lösungen finden. Wir waren mehr aufeinander abgestimmt.

Hat die Veränderung mit Bundesrat Christoph Blocher zu tun?
Ist es die Ursache, ist es ein Symptom?

Macht Ihnen Blocher Angst?
Ich bin nicht besonders ängstlich. Er spornt mich höchstens an, Widerstand zu leisten.

Was Sie getan haben, als Sie sich gegen die blocherschen Asyl- und Ausländergesetze engagiert haben.
Ja, genau.

Kürzlich hat Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey die SP kritisiert. Sie sei in Immigrationsfragen zu 
wenig volksnah. Teilen Sie die Kritik der Genossin?
Nein. Sicher darf man nicht naiv sein und so tun, als gebe es keine Probleme. Aber die SP ist nicht naiv in ihrer 
Ausländerpolitik, sie ist realistisch. 
Wissen Sie, was mir während der ganzen Kampagne gegen das Ausländergesetz aufgefallen ist? Wie wenig realistisch dieses Gesetz ist. Wie wenig Wille darin zu spüren ist, die realen Probleme zu lösen. Zum Beispiel das Problem der Sans-Papiers. Die Schweiz tut, als ob es dieses Problem nicht gäbe, und blockiert damit jede Entwicklung. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wenn die SP aus Angst, negative Gefühle zu schüren, zu wenig über die Probleme des Zusammenlebens spricht, ist das das Gleiche, wie wenn andere Parteien sich weigern, das Problem der Sans-Papiers anzugehen.

Hat die Schweiz ein Problem mit ihren ausländischen EinwohnerInnen?
Nein. Die Schweizer Immigration ist eine Erfolgsstory. Sowohl für die Schweiz als auch für die Menschen, die gekommen sind. Auch wirtschaftlich gesehen. Die Integration war leichter als in vielen anderen Ländern, weil die Migration heterogener war und sich auf das ganze Land verteilte. So konnte die Ghettobildung weitgehend vermieden werden.

Woher kommt Ihre Sensibilität für Migrationsfragen?
Das muss in meinen Genen liegen! Oder besser gesagt, es hängt wohl mit meiner Geburt, in St. Gallen Anfang 
des Zweiten Weltkrieges, zusammen. Damals bedeutete die Schweizer Grenze Leben oder Tod, je nachdem, auf welcher Seite man sich befand.

Welches ist Ihre schönste Erinnerung an die Jahre im Bundesrat?
In zehn Jahren passiert viel, es ist ein Langstreckenlauf. Welches ist der wichtigste Schritt in einem Marathon? Jeder ist gleich wichtig. Wichtig ist, weiterzumachen, selbst wenn man Wadenkrämpfe hat. Und schön war es immer, trotz Wadenkrämpfen.

Wer hat Sie besonders beeindruckt an diesem Lauf?
Das ist schwierig zu sagen. Die freundschaftlichsten Beziehungen hatte ich zu Dölf Ogi. Aber man wird mit dem Alter weniger beeindruckbar – die Menschen, die für mich wirklich ein Vorbild waren, gehören einer früheren Epoche an, vor meiner Zeit im Bundesrat. Etwa Pierre Mendès-France, das Symbol der Ehrlichkeit und der offenen Sprache in der Politik.

Gibt es jemanden, den Sie nicht mögen?
Ich hasse niemanden. Ich schätze viele. Ich gehe auf alle Menschen mit dem gleichen Interesse zu. Und ich habe 
natürlich politische Gegner …

Ruth Dreifuss, geboren 1940, 
Lizenziat in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität 
Genf, Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Mitglied des 
Bundesrates von 1993 bis 2002, 
erste Bundespräsidentin der Schweiz 1999.