Durch den Monat mit Ruth Dreifuss (Teil 4): Weshalb Indien?

Nr. 25 –

WOZ: Ihr Waadtländer Parteikollege Roger Nordmann stellt eine Verbindung her zwischen dem Brand in der Genfer Synagoge und den Bestrebungen Christoph Blochers, die Antirassismus-Strafnorm abzuschwächen. Ist das erlaubt?
Ruth Dreifuss: Die Frage ist eher: Ist es realitätsbezogen? Nein, die Verbindung scheint mir nicht der Realität zu entsprechen.

Was halten Sie von der Strafnorm?
Sie ist eines von vielen Mitteln im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus, aber sie genügt nicht. Es braucht auch eine klare Haltung der Parteien und der politischen Exponenten, es braucht die Erziehung in der Schule, soziale und wirtschaftliche Massnahmen. Es gilt, Reibungsflächen im Zusammenleben aufzulösen. Ich erinnere mich 
an die Aussage von Harlem Désir, dem Gründer von «SOS Racisme» in Frankreich. Er sagte, wenn sich Menschen in einer Mietskaserne gegenseitig die Schuld an den Pannen des Lifts zuschieben, muss man, als wichtigste Massnahme gegen die Ausländerfeindlichkeit, den Lift reparieren.

Der umstrittenste Punkt der Strafnorm ist der Negationismus, das Leugnen eines Völkermordes. Finden Sie es richtig, das Gesetz in diesem Punkt zu revidieren?
Nein. Auf jeden Fall nicht im Sinne von Bundesrat Blocher. Einer seiner Vorschläge ist, den Negationismus auf die Schoah zu reduzieren. Es gibt aber mehrere Völkermorde in der Geschichte, nicht nur die Schoah – ich denke 
an Srebrenica, Ruanda, Armenien. Die Schoah ist für mich nicht einzigartig. Oder nur in einer Hinsicht: Alles, was in andern Völkermorden stattgefunden hat, hat auch in der Schoah stattgefunden. Die industrielle Ausrottung, 
der Hunger und die Todesmärsche, die Plünderungen, die Vergewaltigungen, die Apartheid, alle Formen, die man erfunden hat, um Menschengruppen zu zerstören, findet man auch in der Schoah. Elie Wiesel sagt: Man kann einen Menschen zweimal umbringen, das erste Mal, indem man ihn tötet, das zweite Mal, indem man das Verbrechen verschweigt. Für das erste Mal sind die Mörder verantwortlich, für das zweite Mal wir alle. Deswegen brauchen wir diesen Artikel.

Am 7. Juli [2007] beginnt die Kampagne «0,7% – Gemeinsam gegen Armut». Die Schweiz soll 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit einsetzen und damit die Uno unterstützen, die sich zum Ziel gesetzt hat, bis 2015 die Armut auf der Welt um die Hälfte zu reduzieren. Sind Sie dabei?
Ich unterstütze die Forderung, das ist klar. Aber ich kann leider nicht überall selber aktiv sein. Ich werde sehr oft angefragt, meinen Namen für ein Patronat herzugeben. Ich habe mich entschieden, nur dort mitzumachen, wo ich mich voll engagiere, das heisst, wo ich auch in der Basis- und in der Öffentlichkeitsarbeit aktiv bin.

Im November 2006 hat der Bundesrat beschlossen, den Ausgabenzuwachs in den nächsten Jahren generell auf zwei Prozent zu beschränken. Das würde bedeuten, dass die Schweiz bis ins Jahr 2015 sogar weniger für die Entwicklungszusammenarbeit ausgibt als bisher. Mit welchen Folgen?
Für die Schweiz wäre das sehr negativ. Es wäre ein weiteres Zeichen des Rückzugs. Will sie der Völkergemeinschaft angehören oder nicht?

Sie engagieren sich auf der Seite Indiens im Prozess, den Novartis gegen den indischen Staat anstrebt. Sind Sie persönlich betroffen?
Ich war zweieinhalb Jahre Präsidentin einer WHO-Kommission, die einen Bericht über geistiges Eigentum, Medikamente und den Zugang armer Länder zu Medikamenten verfasst hat. Unsere Aufgabe war, einen Weg aufzuzeigen zwischen dem Schutz geistigen Eigentums und dem Recht auf medizinische Versorgung für alle, auch für die Ärmsten. Und Indien spielt eine wichtige Rolle in dieser Hinsicht.

Die chemische Industrie sagt: Ohne Patente keine Forschung!
Es geht nicht darum, für oder gegen Patente zu sein. Sondern um die Frage, wie können die Patentrechte umgesetzt werden, wenn vom gesundheitlichen Standpunkt her Massnahmen notwendig sind? Beispielsweise, wenn eine Notsituation herrscht. Indien hat ein sinnvolles Patentgesetz: Patentierbar ist nur, was ein eindeutiger medizinischer Fortschritt ist. Dass Novartis prüfen lassen will, ob das Medikament Glivec unter diese Definition fällt, ist kein 
Problem. Aber Novartis greift das Gesetz, konkret diesen Grundsatz an. Ich habe den Eindruck, dass der Konzern hier ein Exempel statuieren will: Er möchte den international anerkannten gesetzgeberischen Freiraum der Länder einschränken. Ich stehe auf der Gegenseite, weil es um das Recht geht, günstige Medikamente zu produzieren. Es geht auch um das Recht von kranken Menschen, die Medikamente zu erhalten, die sie nötig haben.

Ruth Dreifuss, geboren 1940, Lizenziat in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Genf, Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Mitglied der Bundesrates von 1993 bis 2002, erste Bundespräsidentin der Schweiz 1999.