Buenos Aires/Berlin: Krisenlabors
Woher, so fragt der argentinische Gewerkschafter Guillermo Robledo, kommt eigentlich in Deutschland «die Angst, eine Fabrik zu besetzen?» Robledo war Mitinitiator und zeitweise Geschäftsführer der Kooperative IMPA, einer seit 1998 selbstverwalteten Aluminiumfabrik in Buenos Aires, die inzwischen auch als Kulturzentrum genutzt wird. Die Antwort eines Berliner Stadtteilaktivisten und «taz»-Redaktors ist vielleicht kurz gegriffen, aber erhellend. Einerseits, sagt Uwe Rada, «sind natürlich die rechtlichen Verhältnisse anders». Andererseits aber würde in Deutschland «unter den Bedingungen bei IMPA - mit diesen uralten Maschinen, ohne Filter und ohne jeden Arbeitsschutz - hier wohl niemand arbeiten wollen».
Dieser kurze Wortwechsel an einer gemeinsamen Diskussion von Künstlerinnen, Aktivisten und anderen Kulturschaffenden aus Buenos Aires und Berlin ist bei weitem nicht der einzige aufschlussreiche Disput, den Anne Huffschmid in dem von ihr herausgegebenen Band «Stadt als Labor» protokolliert hat. An der gleichen Debatte hatten sich beispielsweise die Diskutierenden auch über die Rolle des Staates unterhalten und darüber, ob die sozialen «Bewegungen nicht eher die Avantgarde eines neoliberalen Nachtwächterstaates sind, der keine sozialen Rechte mehr garantiert, sondern darauf setzt, dass alle Leute sich um sich selbst kümmern». Eine gute, viel zu selten gestellte Frage.
Nicht nur Themen wie sozialer Protest und soziale Verhältnisse bewegten die DiskussionsteilnehmerInnen, die durch den Austausch ihrer Erfahrungen einander näher kommen. Es werden auch Fragen wie die nach der Identität erörtert. In der weissen Mittelschichtsmetropole Buenos Aires, deren BewohnerInnen zu neunzig Prozent europäische Wurzeln haben, leben mittlerweile Hunderttausende aus Bolivien, Peru, Paraguay - und Berlin ist wesentlich geprägt von den über 400 000 BewohnerInnen nicht deutscher Herkunft.
Beide Metropolen, die seit 1994 eine Städtepartnerschaft pflegen, eint jedoch weit mehr: die Erinnerung an den Staatsterror (da der deutsche Nationalsozialismus, dort das argentinische Militärregime von 1976 bis 1983), der Umgang mit dieser Geschichte und mit dem Gedenken an die Opfer dieser Dikta-turen, der vielfältige Widerstand heute.
In Huffschmids Buch schildern Autorinnen und zeigen Fotografen, wie sie die beiden Städte erleben, die sich in einer Krise, zumindest in einem Umbruch befinden - das dicht besiedelte Buenos Aires erholt sich (siehe Seite 12) gerade vom Crash 2001, die urbane Stadtlandschaft Berlin bewegt sich gen Osteuropa. Dass die protokollierten Debatten, die Fotos und die Begleittexte bruchstückhaft daherkommen, ist Absicht. Die zentrale Frage «Wem gehört die Stadt?» kann schliesslich niemand endgültig beantworten. Huffschmids Montagetechnik - die alle enttäuschen wird, die nach schnellen, vordergründigen Antworten suchen - entspricht also durchaus einem Konzept, das urbane Gemeinschaften als fliessende, experimentelle und sich stets verändernde Bestandteile einer lebendigen, demokratischen Gesellschaft begreift.
Herausgekommen ist ein höchst informativer, schön gestalteter und sorgfältig editierter Band für alle, die mehr über das Leben in den Metropolen und die Unterschiede zwischen Nord und Süd lernen wollen.
Anne Huffschmid (Hrsg.): Stadt als Labor. Krise und Erinnerung in Berlin und Buenos Aires. Parthas Verlag. Berlin 2006. 264 Seiten. Fr. 47.40
Anne Huffschmid (Hg.): «Stadt als Labor. Krise und Erinnerung in Berlin und Buenos Aires» Parthas Verlag. Berlin 2006. 264 Seiten. Fr. 47.40.