Droge der Armen: Kein Hunger, kein Schmerz
In Südamerika breitet sich die Billigdroge Paco rasant aus, vor allem bei jungen Menschen. Sie schädigt Organe und führt zu Psychosen und Paranoia. Viele Süchtige begehen Selbstmord. Ein Augenschein in einem Armenviertel von Buenos Aires.
Er nimmt einen Schluck Wein. «Uns interessiert überhaupt nichts mehr», sagt Gallego, der seinen Spitznamen seiner spanischen Herkunft verdankt. Herbert und Pajarito hören schweigend zu und geben ihm mit Blicken ins Nirgendwo recht. «Ich stehe auf, trinke Wein, esse was, und dann rauche ich Paco.» Traurige Stille. Weiter hinten hört man die Motoren der Langstreckenbusse, die im belebten Nordbahnhof ein- und ausfahren. Gallego sitzt auf dem Trottoir auf einem Stück Karton, gleich neben dem Eingang eines der berüchtigsten Armenviertel von Buenos Aires: Villa Retiro 31.
Paco ist der Kurzname für Pasta basica de cocaina, zu Deutsch Kokapaste. Wo in Südamerika Kokain hergestellt wird, trifft man auch auf Paco. Es ist ein Neben- oder Abfallprodukt der Kokaingewinnung. Ganz genau wissen es die ExpertInnen nicht. Sicher ist, dass die meist bräunlichen Paco-Brösel, die lediglich ein paar Pesos kosten, mit allem Möglichen gestreckt werden: mit Putzmitteln, Kopfwehtabletten, Antibiotika, Pflanzenschutzmitteln, Rattengift. «Paco ist keine für den Menschen geschaffene Droge, das Kokain hingegen schon», sagt David Huanambal. Der argentinische Neuropsychiater beschäftigt sich seit über sechs Jahren mit Paco.
«Lebende Tote»
«Willst du unsere Pfeifen sehen?», fragt Herbert mit unkontrollierten spastischen Bewegungen. Sein Nervensystem ist lädiert. Er und Pajarito strecken die gewinkelten Abflussrohrteile hin, die an einem Ende mit Aluminiumfolien abgedeckt sind. Mit Trägermitteln wie Marihuana, Stahlwolle oder Tabak werden damit die Paco-Brösel geraucht. «Ein Genuss ist es nicht», sagt der 40-jährige Pajarito, «aber es weckt mich für zwei oder drei Minuten auf. Ich bin alarmbereit, sehe notfalls die Polizei sofort.» Und vor allem ziehe es ihn aus der Realität heraus. Dann aber kommt die Talfahrt. Die Depression.
Paco macht sehr schnell abhängig und schädigt Lunge, Herz, Leber und das Gehirn. «Wer viel konsumiert, hat Konzentrationsmängel, verfügt kaum noch über ein Erinnerungs- und Aufmerksamkeitsvermögen», sagt Huanambal, der als Forscher an der Universität und als Arzt in der Psychiatrieanstalt Borda in Buenos Aires arbeitet. «Viele Patienten werden mit einer irreversiblen Psychose und Paranoia eingeliefert», so der Neuropsychiater. Am schlimmsten aber sei es, wenn Kinder Paco rauchten. «Ihr Gehirn entwickelt sich nicht fertig.» Der Schaden, den Paco anrichte, sei enorm, vor allem in den Gehirnzonen, «die für die soziale Kompetenz verantwortlich sind».
In Argentinien gibts die Billigdroge erst seit ein paar Jahren – seit Kokainküchen im Land sind. Auf Drängen der Vereinten Nationen wurde in Kolumbien, Peru und Bolivien die Einfuhr von Chemikalien, die für die Kokainherstellung nötig sind, deutlich erschwert. Die Drogenmafia verlagerte daraufhin ihre Kokainproduktion zu grossen Teilen in die angrenzenden Staaten Brasilien, Chile, Uruguay und Argentinien. Als weiterer Grund für die Paco-Ausbreitung wird die argentinische Wirtschaftskrise von 2001/02 genannt. Die Zahl der Arbeitslosen nahm rasant zu. Manch eineR griff schneller zu einer unbekannten Droge. Heute hat Paco das Leimschnüffeln ersetzt.
«Lebende Tote» werden die Süchtigen genannt. Zombies. Bleich sind sie, abgemagert. Sie haben Flecken auf der Haut, aufgeplatzte Lippen wegen Vitamin- und Nährstoffmangels. In kürzester Zeit ist der Konsument ein Wrack. «Du spürst keinen Hunger, keinen Schmerz, keine Müdigkeit», sagt der im Gesicht ausgemergelte Pajarito. Einmal habe er sieben Tage nicht geschlafen, wirft Herbert ein. Gallego und Pajarito winken ab, das sei nicht möglich. Herbert pocht darauf, ist erbost. Ungewisse Stille. Plötzlich springt er auf und verschwindet.
«Sekundäre Folgen»
Je nach Abhängigkeit braucht ein Paco-Raucher zwischen 50 und 150 Pfeifen pro Tag. Obwohl die Droge an sich billig ist, wird der Konsum in dieser Menge teuer. Die Entzugserscheinungen sind unerträglich und bringen Aussetzer mit sich. «Beinahe alle Süchtigen werden gewalttätig», sagt Huanambal. Vor kurzem erstach eine abhängige Mutter ihr Kind. Es kam nach dem Betteln ohne Geld zurück.
Paco führt in den Tod. Wenige sterben allerdings an körperlichem Versagen, etwa durch einen Herzstillstand. Viele verlieren ihr Leben wegen der Beschaffungskriminalität. «Nicht selten durch einen Pistolenschuss», sagt Huanambal. Über Herberts Oberkörper zieht sich eine lange Narbe, ein Paco-Dealer griff ihn mit einem Messer an. In letzter Zeit verbreitet sich zudem unter den Abhängigen der Suizid: Sie erhängen sich, wenn sie das Paco-Leben nicht mehr ertragen. Offizielle Zahlen zu Paco-Toten in Argentinien gibt es nicht, da viele an «sekundären Folgen» sterben. Die «Mütter gegen den Paco», eine Selbsthilfeorganisation von Betroffenen (vgl. weiter unten), sprechen von 210 Drogentoten pro Monat.
«Die stehen dort», sagt Gallego und zeigt auf einen Strassenabschnitt vor dem Armenviertel. Am Abend kämen die zehnjährigen Mädchen und prostituierten sich für zehn Pesos (drei Franken). So viel koste ein Säckchen Paco. Die Lastwagenfahrer würden anhalten, die Mädchen stiegen ein. Mit Paco würden alle Schwellen überschritten.
Allmählich reagiert der argentinische Staat. Wieso hat das so lange gedauert? Tatsache ist, dass Paco zu Beginn nur in den Armenvierteln verbreitet war. Huanambal erinnert sich, dass er bis 2006 noch nie von einem Fall gehört hat, der nicht aus prekärsten Verhältnissen stammte. Mit der Zeit stellte die Justiz fest, dass gefasste Verbrecher sehr häufig auf Paco waren. In der Provinz Buenos Aires sind nach offiziellen Angaben 68 Prozent der Paco-Raucher kriminell. ExpertInnen sprechen von 98 Prozent. Heute bedroht die Droge nicht nur die BewohnerInnen der Armenviertel, sondern auch die Mittel- und Oberschicht.
Polizei verdient mit
Zehntausende ArgentinierInnen sind von Paco abhängig. Die Tageszeitung «Clarín» berichtete nach einer im Jahr 2009 durchgeführten Erhebung von 300 000 bis 700 000 Abhängigen, alleine in der Stadt und im Grossraum Buenos Aires. Präzise offizielle Zahlen gibt es keine. Fast alle ExpertInnen schütteln den Kopf, wenn sie von der Regierung geschätzte Zahlen sehen. «Je nach Armenviertel rauchen heute mindestens fünfzig Prozent der Kinder und Jugendlichen Paco», sagt Huanambal, der früher Strassenarbeit in den Slums in und um Buenos Aires geleistet hat. Der Konsum hat sich auf jeden Fall beängstigend vervielfacht. Die Paco-Mütter reden von einem 200-prozentigen Zuwachs im Jahr 2009. Tendenz steigend.
Der Wein ist alle. Gallego und Pajarito wollen Paco rauchen. Sie stehen auf und biegen am Wochenmarkt vorbei ins Armenviertel ein. Rund 30 000 EinwohnerInnen leben nach offiziellen Zahlen in der Villa Retiro 31, die BewohnerInnen reden von 80 000. Es gibt kein fliessendes Wasser, keine Abwasserkanäle. In der Nacht sind Schreie und Schüsse zwischen den Blechdächern nichts Ungewöhnliches. Der Staat ist fast gänzlich abwesend. Heute beherrschen Paraguayer den Paco-Handel im Quartier, früher waren es Peruaner.
Auf einem unzementierten, desolaten Platz sitzen mehrere Gestalten. «Alle wissen, dass diese Jungs hier Paco verkaufen», sagt Pajarito, «niemand aber will mit ihnen Probleme haben.» Und die Polizei verdiene am Paco-Handel kräftig mit. Ein junger Dealer steckt ihnen ein Paco-Säckchen zu. Pajarito und Gallego zahlen, verlassen das Quartier und setzen sich in der Nähe in ein verrostetes Autowrack. Herbert taucht wieder auf. Er beisst in ein abgelaufenes Sandwich. Der Supermarkt um die Ecke hat Ware weggeworfen.
Eine «Epidemie»
Vergangenen August erklärte das Oberste Gericht Argentiniens den Besitz kleiner Marihuanamengen für den persönlichen Gebrauch als «nicht strafbar». Einer der Richter begründete: «Wir müssen uns auf den Kampf gegen Paco konzentrieren.» Im selben Monat stellte die Regierung von Cristina Kirchner ein Expertenteam zusammen, es soll unter anderem einen Plan zur Prävention und Betreuung von Paco-Abhängigen erarbeiten. Eine Erhebung der staatlichen Drogenbekämpfungsstelle Sedronar im Juni 2009 ergab, dass landesweit nur 3000 vom Staat finanzierte stationäre Plätze für den Drogenentzug existieren. Die sind zudem alle belegt und die Wartelisten lang.
Paco ist keineswegs nur ein argentinisches Problem, auch Chile, Peru, Kolumbien, Venezuela und Brasilien sehen sich mit der Billigdroge konfrontiert. In Argentinien und Uruguay spricht man von einer «Epidemie». Ende Mai hat nun auch der brasilianische Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva der Droge den Kampf angesagt – mit einem Budget von 200 Millionen Dollar. «Wir erlauben es nicht, dass eine junge Generation ihre Zukunft verliert», so Lula.
Pajarito legt einen Paco-Brösel auf die Pfeife. Ungeduldig wartet daneben Herbert. Pajarito raucht und gibt die Pfeife weiter. Schweigen. Entrückte Blicke. «Paco ist nicht zu bremsen», sagt Gallego sinnierend. Der Mensch sei wie ein Tier. Aber nicht einmal ein Tier töte für Genuss. «Ich sehne mich nach einem Leben», sagt der 39-Jährige.
Es dunkelt allmählich. In der berüchtigten Villa Retiro 31 fängt für viele der Tag jetzt erst an. Pajarito und Gallego verabschieden sich. Ihre Schatten verlieren sich in den Gassen des Armenviertels.
Die Mütter gegen den Paco
Frauen mit schwarzen Kopftüchern laufen donnerstags auf der Plaza de Mayo, dem Platz vor dem Regierungsgebäude in Buenos Aires, im Kreis. Man stutzt. Die Frauen, die hier in den vergangenen Jahren Runden drehten, trugen weisse Kopftücher. Es waren Mütter, die nach ihren Kindern suchten, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 entführt und ermordet worden waren. Wer also sind die Frauen mit den schwarzen Kopftüchern? «Stoppt den Genozid», «Niemand will unsere Kinder rehabilitieren» oder «Paco wird wie Bonbons verkauft» steht auf den Schildern, die sie hochhalten. Sie verlangen ein Treffen mit Cristina Kirchner, der Präsidentin von Argentinien. Die Frauen sind verzweifelt. Sie fürchten eine Sache: Paco. Die Droge, die ihre Kinder umbringt. Die Droge der Armen, wie sie auch genannt wird.
Die Frauen gehören der im Jahr 2003 in Buenos Aires gebildeten Organisation «Mütter gegen den Paco» (Madres contra el paco) an. Viele der Gründungsmitglieder waren selber einmal Paco-abhängig – bis ihre Kinder mit der Droge anfingen. Heute zählt die Nichtregierungsorganisation einige Hundert Mitglieder in Argentinien. Die Mütter werfen der Regierung vor, «dass sie die Toten der Armenviertel nicht interessiert». Sie organisieren Gesprächsrunden, Vorträge und Protestmärsche. Die Mütter ziehen durch Gassen der Armenviertel und überzeugen Süchtige davon, dass man von der Droge Paco wegkommen kann. Sie protestieren vor Häusern der Drogendealer und sperren Strassen, damit Medien und Politiker auf sie aufmerksam werden. Eine der Forderungen: Der Staat soll spezielle Einrichtungen für die Paco-Süchtigen schaffen.