Frauen und Tunnelbau: Draussen vor dem Portal

Nr. 25 –

Vor 125 Jahren wurde der Gotthardtunnel fertig gebaut, diesen Juni der Lötschberg-Basistunnel eingeweiht. Gefeiert wurden vor allem Männer. Ein Ausstellungsprojekt erinnert an die Leistungen der Frauen.

Fast ist es ein intimer Moment - wenn der Blick auf die verdunkelte Fensterscheibe fällt, sobald der Zug in den Tunnel einfährt. Zeit, die Frisur zu korrigieren und den Sitznachbarn unauffällig zu betrachten. Beim Verlassen des Tunnels löst sich der Blick von der Scheibe, fällt zurück ins Buch, in die Zeitung oder direkt auf den Sitznachbarn. Gelegenheiten zur Frisurkorrektur bieten sich auf vielen Strecken: Über 750 Tunnel gibt es auf den Schweizer Bahnstrecken.

Die Geschichte des Schweizer Tunnelbaus ist eine Heldengeschichte: Sie erzählt von visionären Planern und Vermessern, von ausdauernden Politikern und von mutigen Mineuren. Die Abwesenden sind - wie häufig in der Geschichtsschreibung - die beteiligten Frauen. Mit einer grossen Ausnahme: die heilige Barbara. Als Schutzpatronin der Bergleute befindet sich ihre Statue in fast jedem Tunnel. Ansonsten haben Frauen auf einer Tunnelbaustelle nichts zu suchen, denn noch immer ist der Aberglaube verbreitet, eine Frau im Tunnel bringe Unglück.

Auch wenn Frauen nicht direkt am Tunnelbau beteiligt waren, haben sie massgeblich zur Entstehung der Tunnel beigetragen: als Köchin in der Kantine, als Serviertochter oder Wirtin im Restaurant, als Näherin, als Wäscherin oder als Krankenpflegerin im Tunnelspital. Da diese Leistungen nicht aktenkundig sind und auch nicht in offiziellen Dokumenten festgehalten wurden, sind sie weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Zum Jubiläum von 125 Jahren Gotthardtunnel präsentiert der Verein Tunnelbau und Gender in Brig, Göschenen, Kandersteg, Pollegio, auf dem Gotthardpass und im Verkehrshaus Luzern sechs Ausstellungen zur Sozialgeschichte des Tunnelbaus und wirft dabei auch einen Blick auf die Rolle der Frau.

Im Dienste des Tunnels

Göschenen. Dass hier, in diesem kleinen, verschlafenen Nest einmal mehrere Tausend Menschen gewohnt haben, kann man sich heute kaum mehr vorstellen. An diesem regnerischen, grauen Montag in Göschenen ist kein Mensch unterwegs, ab und zu fährt ein Auto durch die schmale Hauptstrasse. Drei Restaurants und Hotels gibt es noch im 500-Seelen-Dorf, eines steht neben dem anderen.

Dass es hier tatsächlich einmal anders zu und her ging, erfährt man auf dem historischen Rundgang «Göschenen im Dienste des Tunnels». An Originalschauplätzen hängen pinkfarbene Plakate, deren Texte und Bilder Geschichten von damals erzählen, als Göschenen die «Zukunftsstadt Uris» genannt wurde: «Ein Dorf an der Schwelle zu einer neuen Zeit, ein Ort, auf den man im ganzen Kanton, in der ganzen Schweiz das Augenmerk richtet.»

Es begann 1872: Mit dem Bau des Gotthardtunnels, der zehn Jahre dauern würde, entstand in Göschenen die grösste Baustelle der Schweiz. Diese lockte Tausende Mineure aus Italien ins Dorf. Vor dem Tunnelbau zählte das Dorf 300 EinwohnerInnen, 1880 waren es 681 Frauen und 2990 Männer, fast alle arbeiteten im und um den Tunnel. Durch die vielen ArbeitsmigrantInnen veränderte sich die Dorfstruktur völlig: Es brauchte mehr Wohnraum, die ArbeiterInnen brauchten Nahrungsmittel. Die Nachfrage nach vertrauten, heimischen Esswaren entstand, die Kinder mussten eingeschult werden. Rund um den Tunnelbau wuchsen Wirtschaftszweige, in denen die Frauen - Einheimische wie Migrantinnen - die aktive Rolle spielten.

Zum Beispiel Helena Nell: Die geschäftstüchtige Dame verdiente ihr gutes Geld, indem sie den Tunnelarbeitern Wohnraum vermietete. In sieben Zimmern quartierte sie 44 Arbeiter ein. Tritt man während des Rundgangs in das kleine, niedrige Haus ein, an dem die Informationen über Helena Nell hängen, erhält man Einblick in die Wohnverhältnisse: In einem engen, dunklen Zimmer liegen Säcke, die den Arbeitern als Bett dienten. Die Arbeiter teilten sich die Betten jeweils zu zweit und schliefen in Schichten.

Neben Helena Nells Haus befindet sich das Hotel Krone. Im Fenster sind Spirituosen ausgestellt, und man erfährt von den «liederlichen Frauen», die in diesem Haus arbeiteten, und von dem wachsenden Alkoholkonsum im Dorf. Im Schaufenster eines alten Hauses, an dessen Fassade in verbleichter Schrift «Metzgerei Wursterei» zu lesen ist, stapeln sich Risotto- und Pastaverpackungen. Was heute selbstverständlich zu unseren täglichen Mahlzeiten gehört, wurde während des Gotthardtunnelbaus erstmals in die Schweiz importiert, und viele Migrantinnen arbeiteten als Verkäuferinnen in den neu entstandenen Läden.

Als der Gotthardtunnel 1882 eröffnet wurde, hatten viele MigrantInnen Göschenen bereits verlassen und anderswo Arbeit gefunden. Sie hinterliessen jedoch Spuren, die der Rundgang sichtbar macht.

Signora Minatore

Brig. Auf dem Stadtplatz ziehen lange, gelbe Tische mit pinkfarbenen Plakaten die Aufmerksamkeit auf sich. «Signora Minatore in Brig und Naters» heisst die Ausstellung, in der Familiengeschichten erzählt werden aus der Zeit, als hier das Zentrum des Tunnelbaus war. Brig und Naters waren von 1898 bis 1921 vom Tunnelbau geprägt: Der Bau des Simplontunnels wurde vom Bau des Lötschbergtunnels abgelöst, auf diesen folgte der Ausbau der zweiten Röhre am Simplon. Auch hier veränderte die Ankunft der ArbeitsmigrantInnen den Wohn- und Lebensraum nachhaltig.

Die Ausstellungstische sind thematisch gegliedert in «Heimat», «Arbeit», «Feiern» und «Bildung». Je nach Thema sind passende Gegenstände auf den Tischen ausgestellt: Peperoni, klobige Arbeiterschuhe, eine Kuchenform, eine Wandtafel ... Daneben liegen wasserfeste und stabile Familienalben, die Familiengeschichten erzählen, die mit dem Tunnelbau verknüpft sind.

Zum Beispiel jene der Familie Giachetto: Maria Beisone kam als Mineurstochter mit ihren Eltern aus Norditalien nach Naters. Hier lernte sie den italienischen Mineur Giovanni Giachetto kennen, sie heirateten. «Meine Grossmutter Maria war gross und kräftig. Man nannte sie im Dorf 'la grande'», erzählt Marlene Loretan-Giachetto in ihrer Wohnung an der Bahnhofstrasse in Brig. Mit persönlichen Anekdoten macht die gesprächige Signora ihre Familiengeschichte, die in der Ausstellung zu lesen ist, lebendig.

Marlene Loretan-Giachettos Mutter, die Brigerin Lydia Zenklusen, arbeitete in den dreissiger Jahren in der von Italienern gegründeten Teigwarenfabrik Dell'Oro. Hier lernte sie Giuseppe Giachetto kennen, den Sohn von Giovanni und Maria Giachetto. «In der Generation meiner Grosseltern hatten die Schweizer und Italiener noch nichts miteinander zu tun. Auf den Tunnelbaustellen gab es kaum Schweizer, deswegen blieben die italienischen Arbeiter unter sich. Freizeit hatten sie praktisch keine, und auch ihre italienischen Ehefrauen waren immer am Chrampfen», sagt Marlene Loretan-Giachetto. Doch in der Generation ihrer Eltern veränderte sich die Situation in Brig und Naters: Die Tunnelbauten waren abgeschlossen, und die in der Schweiz geborenen italienischen Mineurskinder fanden in anderen Bereichen Arbeit. Hier trafen sie auf SchweizerInnen. Wie andere Frauen verlor auch Marlene Loretan-Giachettos Mutter durch ihre Ehe mit einem Italiener das Schweizer Bürgerrecht. Giachetto, D'Alpaos, Bernini, Ferrarini, Milani, Fantoni, Lombardo, Michelitsch - dies sind alles Namen, die heute zum festen Bestandteil der Adressregister in Brig gehören und für eine Generation stehen, die vom Tunnelbau geprägt war.

Temporäre Barackendörfer

Die noch immer gängige Vorstellung einer fast ausschliesslich männlichen Welt beim Tunnelbau werde genährt von den Verhältnissen auf den Grossbaustellen der jüngeren Geschichte, schreibt Elisabeth Joris, Historikerin und Mitinitiantin des Ausstellungsprojekts «Cantina Transalpina» im Buch «Tiefenbohrungen». Diese Realitäten seien jedoch das Resultat der eidgenössischen Ausländergesetzgebung seit dem Ersten Weltkrieg: «Als Folge der eingeschränkten Möglichkeiten zur Niederlassung und zum Familiennachzug entwickelten sich die temporären Barackendörfer der Grossbaustelle zu einer fast ausschliesslich von Männern bevölkerten Welt, zu der Frauen von Gesetzes wegen kaum Zugang hatten.»

Auch heute, 125 Jahre nach der Gottharderöffnung, drehen sich die Geschichten des Tunnelbaus hauptsächlich um Männer. Die Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels wurde von einem grossen Medienecho begleitet, erzählt wurde von den Planern, den Politikern und den Mineuren. Jene Frauen, die auch hier rund um den Tunnelbau aktiv waren, bleiben unsichtbar.


www.cantina-transalpina.ch

Cantina Transalpina

Unter dem Titel «Cantina Transalpina» inszenieren sechs wetterfeste Sommerausstellungen in Göschenen, Pollegio, Brig, Kandersteg, im Gotthardpassmuseum und im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern das Leben am Portal zum Tunnel. Die Ausstellungen blicken dabei über die reine Baugeschichte hinaus, im Zentrum der Ausstellungen stehen die Frauen, die am Portal zum Tunnel Schulen, Spitäler und Wirtshäuser am Laufen hielten. Das Ausstellungsprojekt stützt sich auf die Resultate eines interdisziplinären Forschungsprojekts unter der Leitung von Elisabeth Joris und Beatrice Ziegler, aus dem auch das Buch «Tiefenbohrungen. Frauen und Männer auf den grossen Tunnelbaustellen der Schweiz 1870 - 2005» (hier + jetzt Verlag) hervorgegangen ist.