Arbeiteraufstand am Gotthard: Durch die Wand

Nr. 26 –

Vor 150 Jahren wird auf der Baustelle des Gotthardtunnels zum ersten Mal in der Schweiz ein Streik blutig niedergeschlagen. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal, für den Bau des damals längsten Tunnels der Welt bezahlen Hunderte Arbeiter mit ihrem Leben.

der Arbeiteraufstand am Tunnelportal in Göschenen in einer zeitgenössischen Radierung
Steine fliegen, dann fällt ein erster Schuss: Der Arbeiteraufstand am Tunnelportal in Göschenen in einer zeitgenössischen Radierung. Foto: Alamy
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Aus Sicht der Bauleitung, der Investoren und der Funktionäre des grössten Tunnelprojekts des 19. Jahrhunderts sind sie Arbeitstiere, mehr als 2000 an der Zahl. Manche der Arbeiter aus Italien schlafen in Ställen. Andere wohnen zu zehnt in schäbigen Mietzimmern. Für ein paar Franken pro Tag kämpfen sie sich mit Muskelkraft, Druckluftmaschinen und Dynamit in den Fels vor. Meter für Meter. Bis zu zwölf Stunden täglich, im Schichtbetrieb. Bei Temperaturen von mehr als dreissig Grad. Immer schneller lässt Bauleiter Louis Favre, ein Hasardeur aus der Gegend von Genf, den Stollen vorantreiben. Häufig kommt es zu Steinschlag, Sprengungen missglücken. Arbeiter verlieren Gliedmassen, ihr Augenlicht oder ihr Leben.

Doch am Mittwoch, 28. Juli 1875, einem schwülen Sommertag, haben sich die Machtverhältnisse im Bergdorf Göschenen, an der Nordseite des Gotthardmassivs, scheinbar verschoben. Mit Metallstangen und Knüppeln bewaffnet, versperren Arbeiter den Eingang zur Tunnelbaustelle. Niemand kann zur Schicht. Mehr als tausend weitere Arbeiter besetzen die Dorfstrasse. Einige haben Messer bei sich. Andere recken Holzstöcke in die Luft, an die sie rote Tücher gebunden haben. Sie fordern Lohnerhöhungen.

Bauunternehmer Favre will den Streik zerschlagen. Aus Altdorf, dem Hauptort des Kantons Uri, fordert er eine Schutztruppe an. Doch als gegen 17 Uhr knapp zwei Dutzend Ordnungshüter eintreffen, ist die Zahl der Streikenden auf 2500 angewachsen. Sie begrüssen die Schutzleute mit Gelächter. Manche laufen ihnen hinterher, klatschen ihnen höhnisch zu, kesseln sie ein, pfeifen durch die Finger. «Bravi militari!», spotten einige – «gute Soldaten!».

Die Bürgerwehr von Göschenen drängt auf die Dorfstrasse: neun Mann Verstärkung für die «militari» aus Altdorf. Mit gesenktem Bajonett versuchen die Ordnungshüter, sich einen Weg zu bahnen. Doch es ist kein Durchkommen. Einige Arbeiter klettern auf eine Anhöhe und beginnen, mit Steinen zu werfen. Einer fliegt scharf am Kopf eines Ordnungshüters vorbei. Johlend und rufend werfen Streikende immer mehr Steine. Da fällt ein Schuss.

Fahrplan der Gotthardbahn von 1902, gestaltet von Gabriele Chiattone
Helvetia verbindet Europa: Fahrplan der Gotthardbahn von 1902, gestaltet von Gabriele Chiattone. Foto: Alamy

Einer aus der Bürgerwehr hat gefeuert. Sofort schiessen auch seine Kollegen und die Schutzleute aus Altdorf. Zunächst zielen sie über die Köpfe der Streikenden hinweg. Doch diese provozieren weiter. Ein Arbeiter lässt seine Hose herunter und zeigt der Bürgerwehr sein entblösstes Gesäss. Mehr und mehr Steine fliegen. Da feuern die Ordnungshüter in die Menge. Erste Arbeiter sinken getroffen zu Boden. Die Streikenden fliehen. Einige schleppen Verwundete mit sich. Dann herrscht Ruhe im Dorf. «Zusammenrottung zur Zeit unterdrückt & Strassen leer», telegrafiert der Kommandeur der Schutztruppe nach Altdorf. Auftrag ausgeführt.

Es ist das erste Mal, dass in der Schweiz ein Streik blutig niedergeschlagen wird. Die tödlichen Schüsse von Göschenen am 28. Juli 1875 sind ein tragischer Höhepunkt auf dem rasanten Weg des Alpenstaats in die Moderne, einer Zeitenwende, geprägt von Visionen und Tatkraft, aber auch von Ausbeutung und Brutalität.

Zar von Zürich

Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Schweiz ein verkehrstechnisch schwach erschlossenes Land. Die einzige Eisenbahnverbindung – zwischen Baden und Zürich – ist 23 Kilometer lang. Die meisten Menschen arbeiten in der Landwirtschaft. Die Nachbarstaaten dagegen verfügen bereits über ein weitverzweigtes Schienennetz, grosse urbane Siedlungen und Industriebetriebe. Die Schweiz läuft Gefahr, beim Prozess der Modernisierung abgehängt zu werden.

Der Finanzmann und Politiker Alfred Escher aus Zürich erkennt das als einer der Ersten. Durch neue Eisenbahnlinien will er die Landesteile der Schweiz enger miteinander verbinden und seine Heimat an die internationale Wirtschaft ankoppeln. Die Schweiz benötigt einen gigantischen Tunnel, ist er überzeugt: «Es wurde mir immer klarer, dass die Schweiz ohne eine den Wall ihrer Alpen durchbrechende Eisenbahn zu einem von dem grossen Weltverkehr umgangenen und verlassenen Eilande herabsinken würde.» Alfred Escher, am 20. Februar 1819 geboren, stammt aus einer traditionsreichen Zürcher Familie. Während Jahrhunderten stellten die Eschers insgesamt 127 Ratsmitglieder, 63 Ober- und Landvögte sowie 5 Bürgermeister. Auf dem Familienanwesen «Belvoir» am Zürichsee wuchs Alfred wie an einem Fürstenhof auf.

Später tritt er der radikal-liberalen Partei bei. Nach seiner Juradissertation, im Alter von 25 Jahren, wird er in den Grossen Rat (heute Kantonsrat) von Zürich gewählt. Es ist der Beginn einer steilen Karriere als Politiker und Unternehmer. In Rekordtempo sammelt Escher Ämter und gründet Firmen. Bald wird man ihn den «Zaren von Zürich» nennen. Männern wie ihm solle der Staat beim Ausbau des Eisenbahnwesens freie Hand lassen, fordert Escher.

Gerade weil die Eisenbahn zu Monopolbildungen tendiert, weibelt Escher für Privatbahnen – und setzt sich durch. Die Politik überlässt privatwirtschaftlich geführten Eisenbahngesellschaften das Feld. Der Kapitalbedarf ist so gross, dass ihn die Schweizer Banken nicht decken können. Escher, inzwischen Direktionspräsident der einflussreichen Nordostbahn, warnt vor einer Kooperation mit ausländischen Geldinstituten. 1856 gründet er in Zürich die Schweizerische Kreditanstalt (SKA), die spätere Credit Suisse. Durch die Grossbank steigt seine Heimatstadt endgültig zum wichtigsten Finanz- und Wirtschaftszentrum der Schweiz auf. Escher wird Verwaltungsratspräsident.

Im Herbst 1869 tagt in Bern eine internationale Gotthardkonferenz. Die Delegierten aus der Schweiz, Italien, Preussen, Baden und Württemberg einigen sich auf ein Budget von 85 Millionen Franken. Den Hauptanteil von 45 Millionen übernimmt Italien, 20 Millionen steuern die deutschen Partner bei. Nur die restlichen 20 Millionen muss die Schweiz selbst tragen. Veranschlagte Bauzeit: neun Jahre.

Maschinenhaus und Pulvermagazin

1871 wird die Gotthardbahngesellschaft gegründet. Ihr Direktionspräsident: Alfred Escher. Im April 1872 lässt er das Tunnelprojekt in Zeitungen ausschreiben. Sieben Offerten treffen ein. Die überzeugendste stammt vom angesehenen Ingenieur Severino Grattoni aus Turin, der in Norditalien den Bau des Mont-Cenis-Tunnels geleitet hat, des mit 12,8 Kilometern bis dahin längsten Tunnels der Welt. Doch dann ist da noch die Bewerbung des Schweizers Louis Favre aus der Gegend von Genf. Der längste Tunnel, für den er bisher verantwortlich zeichnete, misst nur einen Kilometer. Aber Favre lockt mit einem Dumpingpreis: fünfzehn Millionen Franken günstiger als Grattonis Angebot. Und er verspricht, den Tunnel in nur acht Jahren zu bauen – zwölf Monate schneller als gefordert.

Louis Favre ist 46, er stammt aus einfachen Verhältnissen. Nach der Primarschule lernte er in der väterlichen Zimmerei. Später sammelte er erste Erfahrungen beim Brücken- und Tunnelbau. Er beherrscht keine Fremdsprache und kann kaum fehlerfrei schreiben. Mit Grattonis Expertise und Qualifikationen kann er nicht mithalten. Dennoch erhält er den Zuschlag. Aus Geldgier lässt Escher einen als Leiter von Grossprojekten Unbedarften den Gotthardtunnel bauen.

Tunnelbauer Louis Favre
Hauptsache, günstig: Tunnelbauer Louis Favre. Aus «La Science Illustrée» (Paris, 1985), Ullstein Bild

Am 7. August 1872 unterzeichnet Favre an der Zürcher Bahnhofstrasse den Vertrag: Am 23. August 1880 – genau acht Jahre nach dem Stichtag – muss der Tunnel vollendet sein. Für jeden Tag Verspätung wird eine Strafzahlung von 5000 Franken fällig. Bei einer Fristüberschreitung von mehr als einem Jahr verfällt zudem eine Kaution in Höhe von acht Millionen Franken, die Favre hinterlegen muss.

Für die Einwohner:innen des Bergdorfs Göschenen bricht ein neues Zeitalter an. Riesige Gebäude werden errichtet: ein Maschinenhaus, eine Schmiede, ein Pulvermagazin, eine 52 Meter lange Reparaturwerkstätte und zahlreiche Wohnbaracken. Das Bauunternehmen Louis Favre & Cie. plant mit mehr als tausend Tunnelarbeitern.

Bisher lebten in Göschenen nur etwa 300 Menschen. Die meisten sind Eheleute, die kleine Bergbauernhöfe bewirtschaften. Jetzt strömen massenhaft Fremdarbeiter ins Dorf. Agenten werben sie in der Poebene und im Piemont an. Denn bei den Einheimischen ist die Arbeit als Mineur oder Schutter, der die durch Sprengungen gelösten Gesteinsmassen abtransportiert, verhasst. Manche der Tunnelarbeiter bringen Frau oder Familie mit in die Schweiz. Die meisten aber sind alleinstehend.

Insgesamt werden in Göschenen sowie in Airolo – an der Alpensüdseite, wo Favre zeitgleich mit dem Tunnelbau beginnen lässt – durchschnittlich 2600 Arbeiter beschäftigt sein. Aufgrund von hoher Fluktuation sind es bis zum Ende der Bauzeit insgesamt etwa 18 000. Das Durchschnittsalter beträgt 28 Jahre, der Jüngste der Arbeiter ist 12. Auch Händler, Wirtsleute, Dienstmädchen und Kellnerinnen kommen über die Grenze. Viele Einheimische sind verunsichert. Angst vor Überfremdung macht sich breit.

In Göschenen beginnen die Arbeiten am Tunnel am 24. Oktober 1872. Gegenüber dem im Vertrag festgelegten Baustart liegt Favre bereits Wochen im Rückstand. Der Bau des Gotthardtunnels wird nicht nur ein gnadenloser Kampf gegen den Fels. Favre kämpft auch gegen die Zeit.

Empfindliches Dynamit

Der nur 160 Zentimeter grosse Unternehmer ist ein Charismatiker – und ein Menschenschinder. Während der ersten Monate müssen seine Arbeiter den Stollen mit Muskelkraft in den Fels treiben. Erst im Frühsommer 1873 können sie erstmals Maschinen nutzen.

Als Energiequelle lässt Favre Wasser aus der Reuss durch einen 135 Meter langen Kanal in ein Ausgleichsbecken leiten. Von dort aus fliesst das Wasser über eine Druckleitung in das Maschinenhaus, wo es über Turbinen Kompressoren antreibt. Der Bauleiter setzt auf die moderne Drucklufttechnik, ein Verfahren, das Synergien schafft: Komprimierte Luft treibt nicht nur die Maschinen an, sie wird auch zur Belüftung des Stollens genutzt. Zumindest theoretisch. Denn die Ventilation, die Frischluft zuführen soll, ist meist überlastet. Die Schlagbohrer, mit deren Hilfe Sprenglöcher ins Gestein getrieben werden, lässt Favre dennoch mit voller Kraft laufen.

An der Oberseite des späteren Tunnelprofils sprengen Favres Mineure einen schmalen Firststollen mit einer Ausbruchsfläche von etwa sechs Quadratmetern in den Berg, der später ausgeweitet wird. Den Firststollen lässt Favre in rasantem Tempo vorantreiben. Den Vollausbruch und das Ausmauern, um den Tunnel zu stabilisieren, vernachlässigt er. Er will den Berg so rasch wie möglich durchdringen.

zwei Arbeiter mit einer Tunnellampe im Tunnel
Lohnabzug: Für die Tunnellampen müssen die Arbeiter 5 Franken bezahlen, für das Lampenöl täglich 30 Rappen. Foto: World History Archive, Alamy

Gesprengt wird anfangs mit Schwarzpulver. Doch schon bald lässt Louis Favre seine Mineure einen neuartigen Zündstoff nutzen, den der schwedische Chemiker Alfred Nobel 1866 erfunden hat: Dynamit. Anders als Schwarzpulver ist Dynamit gegen Feuchtigkeit resistent, was bei den vielen Wasseradern am Gotthard Vorteile bietet. Vor allem aber hat Dynamit eine mehr als dreimal so grosse Sprengkraft.

Das wohl grösste Risiko für die Mineure: Wird Dynamit zu kühl gelagert, ist es stossempfindlich – und kann jederzeit hochgehen. Mehrere Dynamitwärmehütten explodierten im Lauf des Tunnelbaus. Auch im Stollen selbst kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen mit Sprengstoff.

Die Gesichter vom Lampenrauch und von Dynamitsprengungen geschwärzt, kommen die Arbeiter nach Schichten von bis zu zwölf Stunden aus dem Tunnel. Von Schweiss befeuchteter Staub liegt wie eine Kruste auf Körper und Kleidung. Viele gehen schwerfällig, ihr Blick ist matt, Haare und Bart sind zerzaust. Sie leiden unter Husten, Kopfschmerzen und Schwindel. Silikose, eine Lungenkrankheit, die durch Feinstaub ausgelöst wird, grassiert.

Die Tageslöhne sind bescheiden: Ein Mineur erhält 3.90 Franken, ein Schutter gar nur 3.50 Franken. Für die Tunnellampen müssen die Arbeiter 5 Franken bezahlen, für das Lampenöl täglich 30 Rappen. Der Oberingenieur der Gotthardbahngesellschaft verdient jährlich 40 000 Franken, Sonderzahlungen noch nicht mit eingerechnet.

Einen Teil des Lohns senden viele Arbeiter ihren Angehörigen in der Heimat, allein 1874 insgesamt 550 000 Franken. Dafür kommt Tag für Tag oft nur Suppe oder Polenta auf den Tisch. In von Spekulanten billig hochgezogenen Wohnanlagen leben bis zu zehn Männer in einem Zimmer. Manche behalten auch beim Schlafen Arbeitskleidung und Stiefel an. Betten werden im Dreischichtbetrieb genutzt. Ungeziefer nistet sich ein, Krankheiten werden übertragen.

Die Zeit drängt für Favre: Ab dem Sommer 1874 erhöht er die Zahl der Arbeiter auf der Baustelle weiter. Und während der Firststollen noch im Vorjahr gerade mal 581 Meter vorankam, sind es 1874 und 1875 immerhin 1000 Meter.

Um die Arbeiten auf Nord- und Südseite der Alpen gleichermassen anleiten zu können, reitet er häufig über den Gotthard. Zu Pferd ist er schneller als mit der Postkutsche. Abends speist er dann mit Vertrauten und gibt Anekdoten zum Besten. Lange Zeit wirkt er optimistisch, das Projekt trotz aller Widrigkeiten stemmen zu können.

«Grösseres Unglück verhütet»

Doch Mitte Juli 1875 stellt der Oberingenieur der Gotthardbahngesellschaft bei einer Kontrolle fest, dass der Abstand zwischen Tunnelbrust, dem Punkt des weitesten Vortriebs, und der Ausmauerung auf 1770 Meter angewachsen ist – ein grosses Sicherheitsrisiko für die Arbeiter. Am Dienstag, 27. Juli 1875, setzt er Favre unter Druck: Bis die Ausmauerung nur mehr höchstens 600 Meter zurückliegt, erhält er keinen Franken mehr. Und holt er den Rückstand gegenüber dem Zeitplan nicht innerhalb von drei Monaten auf, wird er von der Bauleitung suspendiert.

Ausgerechnet an diesem für Favre schwarzen Tag verlassen in Göschenen gegen 18 Uhr einige Dutzend Arbeiter während ihrer Schicht die Baustelle. Die Luft im Stollen sei zu schlecht, beklagen sie sich. Sie verlangen mehr Geld. Als ihre Forderung kein Gehör findet, versammeln sie sich gegen 19.30 Uhr beim Postgebäude und beschliessen einen Streik. Am nächsten Morgen, am 28. Juli, versperren bewaffnete Tunnelarbeiter den Eingang zum Stollen. Sie fordern mindestens zwanzig Prozent mehr Lohn.

Arbeiter verlassen nach Schichtende mit einer Grubenbahn den Tunnel
Feierabend: Die Schichten im Tunnelbau dauern bis zu zwölf Stunden. Foto: World History Archive, Alamy

In Göschenen, wo mittlerweile rund 3000 Menschen leben, gibt es nur eine schwache Bürgerwehr. Louis Favre fordert in Altdorf, dem gut zwanzig Kilometer entfernten Kantonshauptort, eine Schutztruppe an. Doch auch dort sind nur sieben Polizisten verfügbar. Mit dem Auftrag, unterwegs Freiwillige zu rekrutieren und mit Waffen auszustatten, kommandieren die Behörden sie nach Göschenen. Fünfzehn Mann heuern die Polizisten zur Unterstützung an: Schuster, Schreiner, Bauarbeiter, einen Briefträger. Zehn Franken erhalten die Freiwilligen – fast dreimal so viel, wie ein Tunnelbauarbeiter pro Tag verdient.

Mindestens fünf Tunnelarbeiter sterben an diesem Abend in Göschenen durch die Kugeln von Ordnungshütern: Doselli Cottartin, 20 Jahre alt, aus der Gegend von Parma, Giovanni Gotta, 25, Salvatore Villa und Giovanni Merlo, 26, aus der Provinz Turin, sowie Cosi Celestion, von dem weder Alter noch Heimatort bekannt ist. Wie viele Tunnelarbeiter insgesamt verletzt werden und ob weitere in der Folge ihren Wunden erliegen, ist nicht überliefert.

Für die «Neue Zürcher Zeitung» steht im Sommer 1875 ausser Frage, dass der Einsatz der Schusswaffen angemessen war. «Dass die Landjäger sich nicht ungestraft steinigen liessen, war nicht nur ihr Recht, sondern ihre strenge Pflicht», heisst es in einem Artikel. Man habe dadurch «viel grösseres Unglück verhütet». Was geschehen sei, werde Arbeitern «hoffentlich zur ernsten Warnung vor ähnlichen Versuchen dienen». Die linke Zeitung «Tagwacht» dagegen berichtet von einer «Arbeitermetzelei» am Gotthard.

Alle Augenzeugen haben ausschliesslich von Steinwürfen der Streikenden berichtet. Dennoch behaupten die Behörden in Altdorf, die Arbeiter hätten mit Revolvern das Feuer eröffnet. Eine Lüge.

Erst als der italienische Staat, der den Tunnelbau mit 45 Millionen Franken subventioniert, eine Aufklärung der Hintergründe fordert, schickt die Schweizer Regierung einen Kommissär nach Göschenen. Der Militär und Politiker Hans Hold ist ein enger Vertrauter hoher Funktionäre der Gotthardbahngesellschaft.

In seinem Bericht vom 16. Oktober 1875 erwähnt Oberst Hold denn auch – ganz im Sinne der Bauleitung und der Schweizer Regierung – «Revolverschüsse seitens der Arbeitermassen» und kommt zum Schluss, «dass die Notwehr der aufs Brutalste angegriffenen Polizeimannschaft sich in den engsten Schranken gehalten» habe. Zwar weist Hold in seinem Bericht auch auf Sicherheitsmängel und die prekären Wohnverhältnisse der Arbeiter hin. Doch letztlich sind Eisenbahnprojekte in der Schweiz damals Privatsache, wie es Alfred Escher in den 1850er Jahren durchgesetzt hat. Kein Politiker kann Bauleiter Favre oder der Gotthardbahngesellschaft Vorschriften machen.

Weder eine Lohnerhöhung noch verbesserte Lebens- und Sicherheitsbedingungen haben die Arbeiter durch ihren Streik erreicht. Die Qualität der Luft im Stollen bleibt katastrophal. Die meisten Arbeiter hausen weiterhin zu Wucherpreisen in Ställen oder Baracken. «Ein Haus mit über 200 Arbeitern hat überhaupt gar keinen Abtritt», notieren Gutachter der Schweizer Regierung im März 1876 in einem Bericht.

Auf der Baustelle selbst kommt es in den Jahren nach dem Streik gar zu mehr Unfällen als zuvor: Steinschläge und Fehlsprengungen fordern Dutzende Todesopfer, auch weil gefährliche Passagen mangelhaft gesichert sind. Favre behauptet, alle Unfälle seien bedauerliche Zufälle oder auf mangelnde Vorsicht der Arbeiter zurückzuführen.

Pro Kilometer kommen mehr Menschen zu Tode als bei allen anderen grossen Tunnelprojekten des 19. Jahrhunderts. Offiziell sterben 119 Arbeiter. Doch in dieser Zahl sind jene Opfer nicht mit eingerechnet, die Krankheiten erliegen, die direkt oder indirekt mit den Verhältnissen auf und rund um die Baustelle zusammenhängen. Dem Göschener Tunnelarzt zufolge sterben allein in diesem Dorf jeden Monat zwei bis drei Arbeiter. Auf beide Tunneldörfer und die gesamte Bauzeit hochgerechnet, ergibt das rund 540 weitere Tote.

Gegen Ende der Bauzeit werden in Airolo, auf der Südseite der Baustelle, viele Arbeiter an «Blutarmut» erkranken. Ärzte rätseln über die Gründe. Mediziner aus Turin stellen fest, dass Parasiten der Auslöser sind. Hakenwürmer saugen Blut aus den Darmzotten der Erkrankten und zerstören sie. Oft verläuft die Krankheit tödlich. Mit vierzig bis hundert Franken «Wegzehrung» schickt Favre Betroffene in die Heimat zurück: «Zur Pflege.» So erspart sich sein Tunnelbauunternehmen die Sarg- und Transportkosten.

Besser ohne Escher

Im Juni 1877 wird in Luzern eine zweite internationale Gotthardkonferenz einberufen. Nur mit einer zusätzlichen Subvention in Höhe von vierzig Millionen Franken scheint das Projekt noch zu stemmen zu sein: Für acht Millionen soll die Schweiz aufkommen. Ausgerechnet der Millionär Alfred Escher, der eiserne Verfechter von Privatbahnen, bettelt nun beim Staat um Geld.

Im Sommer 1878 tagt das Parlament in Bern in einer Sondersitzung. Im Vorfeld haben Vertraute Escher diskret dazu aufgefordert, als Direktionspräsident der Gotthardbahngesellschaft zurückzutreten. Am 19. Januar 1879 votieren zwei Drittel der Schweizer Stimmbürger für die Budgeterhöhung. Der Tunnel ist gerettet.

Louis Favre aber steht weiterhin mit dem Rücken zur Wand. Manchmal klagt er über Schwindel und Schwäche. Zwar versucht er, die Sorgen zu überspielen. Doch obwohl erst Anfang fünfzig, geht er gebückt wie ein alter Mann.

Am Samstag, 19. Juli 1879, besucht ihn in Göschenen ein befreundeter Ingenieur aus Paris. Gemeinsam mit seinem Stellvertreter, Ernest von Stockalper, führt Favre den Gast tief in den Stollen. Bei Kilometer sieben werden gerade Sprenglöcher präpariert. Giftige Dämpfe hängen in der Luft. Später bittet er von Stockalper, mit dem Gast zurück ans Tageslicht zu gehen. Er werde gleich nachkommen.

Doch Favre schliesst nicht zu den beiden Männern auf. Ihre Zurufe verhallen ohne Antwort. Als sie umkehren, finden sie den Bauunternehmer an der Tunnelwand sitzend, den Kopf leicht nach vorne geneigt. Favre hat einen Herzinfarkt erlitten. Er wurde 53 Jahre alt.

Gut ein halbes Jahr nach Favres Tod, am Samstag, 28. Februar 1880, durchbricht um 18.45 Uhr ein Sondierbohrer das letzte Stück Fels zwischen Nord- und Südschweiz. Die Mineure jubeln. «Durch!», titelt die «Neue Zürcher Zeitung». Der längste Tunnel der Welt! Journalisten vergleichen seine Bedeutung mit derjenigen des Suezkanals.

Die Funktionäre der Gotthardbahngesellschaft können zufrieden sein: Zwar war der Tunnel teurer als geplant. Doch am Ende beträgt der Gewinn 4,7 Millionen Franken. Mehr als 3 Millionen streicht die Bahngesellschaft selbst ein, der Rest fliesst an die Aktionäre. Als die Kosten aus dem Ruder liefen, rief man den Staat zu Hilfe. Die Gewinne bleiben privat. Für die Bauherren erweist sich das Grossprojekt, das Hunderte Menschen das Leben gekostet hat, als gutes Geschäft.

Am 22. Mai 1882 steigt in Luzern ein Freudenfest. Die Häuser sind mit Nationalflaggen geschmückt. Der Präsident des deutschen Reichstags, der Vizepräsident des italienischen Parlaments und zahlreiche Minister geben sich die Ehre. Leuchtkörper zaubern mit Feuerwerk das Portal des Gotthardtunnels an den nächtlichen Himmel.

Insbesondere in der Schweiz gibt es tatsächlich Grund zu feiern. Dank der neuen Nord-Süd-Trasse sinken die Preise für den internationalen Transport. Ende der 1880er Jahre sind bereits deutlich mehr Menschen in der Industrie beschäftigt als in der Landwirtschaft. Die moderne Schweiz ist bestens angebunden an die sich international immer stärker verzahnende Wirtschaft. Die urbanen Zentren werden zu Gewinnern. Zürich erlebt einen Boom.

Und die Arbeiter aus Italien, die die Knochenarbeit geleistet haben? Die Zeitungsberichte zum Streik am 28. Juli 1875, bei dem mindestens fünf von ihnen erschossen wurden, sind bald vergessen.

Eine Erkenntnis aus der Pionierzeit am Gotthard aber beherzigen in der Schweiz weiterhin viele Unternehmer: Arbeiter, insbesondere Fremdarbeiter, sind austauschbar und lassen sich schinden. Als um das Jahr 1900 der Simplontunnel gebaut wird, rekrutiert man wieder in Italien. «Die gesunde, kräftige Konstitution des italienischen Arbeiters, seine Genügsamkeit, die Leichtigkeit, mit welcher er die Tunnelhitze erträgt, und die relativ bescheidenen Lohnansprüche kommen dabei sehr in Betracht», notiert ein zuständiger Arzt. Der Robustheit dieser Spezies liege wahrscheinlich frühe Gewöhnung an das Arbeiten zugrunde. «Denn leider ist es dem Italiener noch nicht recht begreiflich, dass Kinder unter 16 Jahren noch geschont werden müssen.»