Ausrangiert: Der letzte Zug nach Lecce

Nr. 48 –

Der Autoreisezug war für die italienischen EmigrantInnen das Bindeglied zwischen der Schweiz und der Heimat. Und immer wehten Düfte durchs offene Fenster. Nun stellten ihn die SBB aufs Abstellgleis. Eine Nachtzugbegleiterin berichtet von der Abschiedsfahrt.

26. Oktober, Freitagabend, Hauptbahnhof Zürich. Um 18:41 fährt der letzte Nachtzug nach Lecce. SüditalienerInnen versammeln sich auf dem Bahnsteig, in der Nebensaison oft Ehepaare in reiferen Jahren. Auf diesem Zug sind es immer Pugliesi, Leute aus Apulien. Man kennt sich von früheren Reisen, begrüsst sich herzlich. Dazwischen vereinzelt Zugliebhaberinnen, Eisenbähnler aus der Schweiz und sogar aus Deutschland. Die Lautsprecherdurchsage ertönt. Ein auf und ab wogendes Gesumm italienischer Stimmen mischt sich dazwischen, Aufbruchstimmung liegt in der Luft. Fünf Stewards begrüssen vor ihren Wagen die Reisenden, helfen beim Einstieg. Meine Schwester und ich machen diese letzte Reise nach Lecce mit. Seit beinahe zehn Jahren arbeiten wir als Nachtzugbegleiterinnen, als «cuccettiste». Wir besteigen den Zug nach Süden, «il treno per il Sud».

Das Gerücht

Erster Halt im Bahnhof Altstetten. Die fünf doppelstöckigen FS-Auto-Transportwagen werden an den Zug D1389, bestehend aus je vier Liege- und Schlafwagen, angehängt. Diesmal leer, sie werden bloss nach Bari zurückgeführt. Hier im Schatten der Europabrücke wurden jahrzehntelang in den Sommermonaten die Fahrzeuge auf die Autoreisezüge der SBB nach Süditalien verladen. Am Freitagabend rollte die «Freccia delle Puglie» nach Bari und ganzjährig (ohne Autotransport) weiter nach Lecce bis knapp an den untersten Rand des Stiefelabsatzes; am Sonntagnachmittag die «Freccia della Calabria» nach Lamezia Terme und Villa San Giovanni an der Meerenge von Messina, der Rampe des europäischen Festlandes.

Beide Verbindungen werden eingestellt: Der letzte Autoreisezug nach und von Villa San Giovanni fuhr am 26./27. August, und nach dieser Fahrt ist auch mit der Verbindung nach Bari und Lecce Schluss. Dies, obwohl es zu Beginn der Zürcher Ferien jeweils sechzig Autos pro Zug gewesen sind, wie Lorenzo Santini erzählt. Den gebürtigen Neapolitaner, bisher für den Autoverlad verantwortlich, trifft die Abschaffung dieser beiden Linien tief: «Man reisst uns etwas aus der Seele.»

In den achtziger Jahren gab es noch jeden Tag zwei Nachtzüge von Stuttgart über Zürich nach Süditalien (den D384/D385 Stuttgart - Napoli und den D388/D389 Stuttgart - Lecce). Mit dem Ende der Autoreise- beziehungsweise Nachtzüge nach Süditalien geht eine Ära zu Ende - auch die Ära der italienischen Emigration in die Schweiz. Dass mit dem Saisonende 2007 die beiden direkten Verbindungen nach Apulien und Kalabrien eingestellt werden, wissen die langjährigen Nachtzugreisenden nicht. Die Fahrgäste, die heute im Zug nach Lecce sind, haben ein Gerücht gehört. Sie fragen irritiert: «È vero, Signorina, che sparisce questo treno?» - Ist es wahr, dass diese Verbindung eingestellt wird? - «Sì, purtroppo, questo è l'ultimo viaggio ...» - Ja, leider, das ist die letzte Reise. «Ma almeno per Natale e Pasqua lo mettono?» Aber an Weihnachten und Ostern fährt er noch? - «No, Signora, non è previsto.» - Nein, das ist nicht vorgesehen.

Die Passagiere sind sich einig: Im Nachtzug zu reisen ist viel entspannter als auf der Autobahn. «Wir können gemütlich essen, und die Kinder können sich bewegen. Ferien beginnen für mich mit Abschalten und Zur-Ruhe-Kommen. Ich komme ausgeruht zu Hause an.» Ausserdem gewinnt man mit der Reise über Nacht einen Ferientag und spart sich die Kosten einer Übernachtung. Auf dieser langen Strecke werden sich die Buchungen kaum von Nachtzügen auf die in der SBB-Pressemitteilung beworbenen Tageszüge - mit mehrmaligem Umsteigen - verlagern. «Umsteigen in Mailand mit meinem vielen Gepäck, das geht nicht.» Die Passagiere werden in Zukunft wohl eher das Auto oder das Flugzeug nehmen, zum Nachteil der Umwelt.

Wie im Film

Ich habe zu Beginn des Studiums begonnen, als «cuccettista» zu arbeiten. Auch für mich sind die Reisen zu einem wichtigen Teil im Leben geworden: Die nächtlichen Bahnsteige im Schein der Lampen vorbeihuschen sehen, die entfliehende Landschaft im Fenster, dann die Dämmerung des anbrechenden Tages und der blendende Morgen bei Ankunft mitten in der Stadt.

Einfahrt in den Gotthardtunnel. Damit die Reisenden während der nächtlichen Kontrollen ungestört schlafen können, habe ich die Billette und Pässe der Passagiere eingesammelt. Als der Zug in Chiasso einfährt, hat es eben 23 Uhr geschlagen. Die Carabinieri kontrollieren die Pässe in meinem Dienstabteil. Nach dem Lokwechsel geht es weiter Richtung Mailand. Um 00:05 Uhr hält der Zug im gespenstig leeren Milano-Lambrate. Die Frühstücksschachteln werden eingeladen.

Im Schlafwagen sind noch einige Reisende wach, man hört gedämpfte Stimmen. Der Schlafwagen AB33 mit seinen Messingleuchtern und den tiefen, altmodischen Fauteuils, die sich in bequeme Betten umwandeln lassen, ist klimatisiert. In jedem Abteil hat es ein Lavabo aus Keramik und einen kleinen Spiegelschrank mit einem Handtuch und Seife, die Wände sind aus dunklem Holz. Eine Atmosphäre wie in einem alten Film. Nachts schlafe ich unruhig, ich döse mehr vor mich hin. Ich bin ständig für unsere Fahrgäste da und für deren Sicherheit verantwortlich. Frühmorgens fährt der Zug unter grauem Licht der Küste entlang. Ich wecke die ersten Passagiere und bringe ihnen heissen Kaffee und Cornetti. Die ersten Reisenden steigen um 05:51 Uhr in Pescara in den Abruzzen aus. Den Schlafenden entgeht die Aussicht auf das Adriatische Meer in der Morgendämmerung.

06:58 Halt in Termoli, Region Molise. Die Strahlen der Sonne, deren Kraft Ende Oktober schon gebrochen ist, bescheinen mit ihrem milden Licht die weichen Hügelzüge des Apennins. Es geht weiter südwärts. Ich sammle die schmutzige Wäsche, die Wolldecken und Kissen ein und verstaue alles im Dienstabteil. In Bari Centrale um 09:46 werden die FS-Auto-Transportwagen abgehängt. Ein schriller Pfiff kündet die Weiterfahrt an.

Der Zug in den blau-weissen und blau-violetten Farben setzt sich wieder in Bewegung und rüttelt bald gemächlich südwärts durch ausgedehnte Weiten, um dann einzumünden in Olivenhaine, unter denen Netze ausgebreitet sind. In wenigen Wochen beginnt die Ernte. Auf der rötlichen Erde wachsen die Pflanzen dicht und üppig. Der balsamische Duft wilden Thymians strömt durch das Fenster. Der Zug durchquert die Halbinsel Salento. An den Stationen Monopoli, Fasano, Ostuni und Brindisi werden die Aussteigenden von ihren Familienclans abgeholt. Mit energischer Geste nehmen die Verwandten das Gepäck aus den Waggonfenstern entgegen und türmen es auf dem Bahnsteig auf.

Zwei Palmen, die sich schlank in den weisslichen Himmel recken, verkünden die Ankunft um 11:45 im Bahnhof von Lecce, der barocken Stadt mit ihren verborgenen Orangen- und Zitronengärten in den Innenhöfen der honigfarbenen Palazzi. Meine Kolleginnen, Freunde und die italienischen Zugführer gehen in eine Trattoria, wo wir seit Jahren zu Mittag gegessen haben. Es gibt Orecchiette und frischen Fisch. Auch im Zug haben wir oft «in compagnia» gegessen: Brot, Käse, Oliven.

Im Schatten des späten Tages kehren wir zum Bahnhof zurück. Um 19:55 fährt der Nachtzug D1188 zum letzten Mal aus dem Bahnhof von Lecce. Auf den vielen Stationen - Brindisi, Ostuni, Fasano, Monopoli, Bari Centrale, Barletta, Foggia, San Severo, Termoli, San Vito-Lanciano, Pescara Centrale - kommt Bewegung in die Leute, die dicht gedrängt im Gang stehen: Neu Zugestiegene zwängen sich mit Koffern und Taschen zu ihrem Abteil.

«Vado e vengo»

Die meisten Reisenden sind EmigrantInnen aus dem Mezzogiorno, die in der Nachkriegszeit in die Schweiz oder nach Deutschland ausgewandert sind. Ab 1950 zogen ungefähr neun Millionen Menschen, in den ersten Jahren hauptsächlich junge Männer, vom Süden in den industrialisierten Norden, ein Teil davon in die Schweiz. Eigentlich wollten sie nicht lange bleiben, trotzdem leben die meisten heute noch in der Schweiz. Der Filmemacher Alexander J. Seiler hat ihre Geschichte erzählt, in den Filmen «Siamo italiani - Die Italiener» und «Il vento di settembre - Septemberwind».

Im Nachtzug habe auch ich viele der EmigrantInnen kennengelernt. Die PassagierInnen erzählten, dass sie die Heimat der Armut und des Elendes wegen verlassen mussten, dass sie anfangs in der unwirtlichen Fremde mehr geduldet als akzeptiert waren und hart arbeiten mussten.

Ein vor 47 Jahren in die Schweiz ausgewandertes Paar berichtet, dass sie gerade von einer Hochzeit kommen. Für Tommaso und Pasqualina stellt der Nachtzug seit fast einem halben Jahrhundert die Verbindung zwischen der alten Heimat und der neuen dar. Normalerweise reisen sie zweimal jährlich nach Italien, wo sie dann für zwei, drei Monate bleiben. «Wie soll es ohne Nachtzug weitergehen? Wir haben einen Garten und bringen Tomaten, Melonen, Orangen, eigenes Olivenöl und Wein mit.»

«Wo fühlen Sie sich daheim?» - «Vado e vengo.» Ich gehe und ich komme. Nicht mehr dort und nicht da. Wegfahren und nicht ankommen. Zurückfahren und kein Zuhause erreichen. Viele erzählen, dass sie sich in der alten Heimat nicht mehr zurechtfinden. An eine Rückkehr denken die wenigsten - die Nachkommen leben ja in der Schweiz. Ein Aufleuchten in den Augen Pasqualinas, als sie mir von ihren Enkelkindern erzählt. Doch auch die emotionale Bindung an den Heimatort, ein halbes Jahrhundert lang stets lebendig, ja für das Lebensgefühl bestimmend, bricht immer wieder durch. Dennoch ist die alte «Wir-Identität» brüchig geworden. Die rückständige italienische Bürokratie und das Gesundheitswesen zu beklagen, ist geradezu ein Gemeinplatz. Die erste Generation italienischer EmigrantInnen ist heute in der Schweiz weitgehend integriert.

Nach Pescara um 01:19 betrete ich ein leeres Abteil im Liegewagen und öffne das Fenster. Ich strecke den Kopf hinaus und sauge die Luft ein. Bald wird ein Streifen Meer sichtbar, der in der Nacht aussieht wie ein Quecksilberband. Durch das Fenster strömt salzige Luft.

Ein Bindeglied

Kälte in der Poebene am frühen Morgen. Während der Zug durch Uri fährt, komme ich mit einem Fahrgast ins Gespräch. Der Mann greift in seine Tasche und holt ein Brot hervor, mit Salami dazwischen. Er legt es behutsam auf das Tuch, das er über seine Knie gelegt hat. Dann nimmt er eine Flasche hausgemachten Weins, «un vino casareccio» aus seiner Gegend, Minervino Murge, und bietet uns ein Glas an. Sein Blick ist müde, und doch schaut er zufrieden. Franco war Schneider in Bari gewesen. Er hatte zwei kleine Kinder. Doch das Geld reichte nicht, er musste am Feierabend daheim weiterarbeiten. Die Armut zwang die Familie, Italien 1961 zu verlassen und in die Schweiz auszuwandern.

Neben ihm seine Frau, elf Jahre jünger als er, warmherzig und quirlig. Sie sagt, die ersten Tage, die ersten Wochen, das erste Jahr in der Schweiz habe sie nur geweint. Wenn Gott ihr nicht die Kraft gegeben hätte, hätte sie die Koffer gepackt und wäre ohne ihren Mann nach Italien zurückgekehrt. Sie bekamen drei weitere Kinder, die Einsamkeit verlor sich allmählich. Jemand, der jahrelang in der Fremde arbeitet, schlägt Wurzeln, übernimmt Fremdes ins Eigene. Im Laufe der 46 Jahre, in denen das Paar zwischen der Fremde und der Heimat hin- und herpendelte, hat sich beides vermischt. Nicht mehr dort, nie ganz hier. Dazwischen der Nachtzug, das Bindeglied.

Früher, sagt die Frau, sei sie in den Schulferien mit den Kindern und Sack und Pack im Nachtzug nach Italien gereist. Der Mann fuhr mit dem Auto nach. Doch seit der Pensionierung vor 21 Jahren legen sie die Strecke nur noch mit dem Nachtzug zurück. Doch in Zukunft? «Zum Autofahren bin ich zu alt», sagt der 86-Jährige. Seine Miene verdüstert sich.

In uns LiegewagenbegleiterInnen werden auf dieser letzten Reise Erinnerungen wach: Erinnerungen an die betäubende Sonne in Villa San Giovanni, die die Müdigkeit in einen fieberhaften Zustand wandelte. An die Liegewagen, die tagsüber im Zugpark von Reggio Calabria standen und eine Innentemperatur von gewiss 50 Grad erreichten. An die Abfahrten, wenn dann der Fahrtwind die Abteile abkühlte. An die stundenlangen Fahrten entlang der Küste. Man war allem so nah und doch so fern, im Raum und noch mehr in der Zeit.

Am Prellbock des Zürcher Hauptbahnhofs endete am 28. Oktober 2007 um 12:15 Uhr ein Stück Schweizer Eisenbahngeschichte. Der Zug rollt hinaus aus dem Bahnhof auf das Abstellgleis. Mit ihm verschwinden auch die letzten SBB-Schlafwagen: Sie werden tags darauf ausrangiert.