Entwicklungszusammenarbeit: Die verlorene Revolution

Nr. 27 –

Im Land der zahllosen Basisinitiativen sind viele Bewegungen verebbt. Der Druck von oben wird immer stärker, die Solidarität nimmt ab; nur politisch angepasste Organisationen überleben. Und die Hilfswerke machen mit.

«Wir werden nicht ruhen, bis wir unser Land zurückbekommen haben!» Ratneshwar Nath war voll Optimismus, als er mit 285 000 Armen durch die staubigen Strassen von Bhopal zog. Die von ihm angeführte nichtstaatliche Organisation (NGO) mit dem Namen Prayog hatte sich zum Ziel gesetzt, das Land zurückzuholen, das den «tribals», den UreinwohnerInnen im Bundesstaat Madhya Pradesh weggenommen worden war. Und in der Tat: Die Regierung musste handeln. Über 5000 Familien erhielten in den nächsten vier Monaten ein Stück Land, das sie bebauen konnten; ausserdem wurde eine Kommission eingesetzt, die den Klagen der Landlosen nachgehen sollte.

Das war im Sommer 1984. Im gleichen Jahr traf ich im September in Hyderabad den Vorsitzenden einer grossen NGO, der berichtete, dass er die Hälfte aller Parlamentsabgeordneten von Andhra Pradesh sponsore. Das erlaube ihm, die Politik in diesem Bundesstaat massgeblich zu beeinflussen. Im Dezember wiederum wurde ich von einem Treffen von NGO-AktivistInnen im Bundesstaat Maharashtra ausgeschlossen. Ich würde für ein ausländisches Hilfswerk arbeiten, hiess es, und könnte ihre revolutionären Pläne verraten.

Die Hilflosigkeit der NGOs

Vor rund zwanzig Jahren war der Einfluss der politisch agierenden NGOs ernorm. Sie waren selbstbewusst, konnten Hunderttausende mobilisieren, Regierungen unter Druck setzen, auf Parlamente einwirken – und Leute rauswerfen, die das falsche Hemd trugen. Sie glaubten an die Veränderbarkeit der Verhältnisse und machten sich daran, jene «andere Welt» zu schaffen, von der in den Resolutionen der globalisierungskritischen Bewegungen seit Jahren so oft die Rede ist. Doch heute ist davon nur noch wenig zu spüren.

Vor zwei Monaten traf ich in Madhya Pradesh ein paar alte FreundInnen, die mit ihrer lokalen NGO jahrzehntelang gute und wichtige Arbeit geleistet hatten – und seit zwei Jahren ohne jede Unterstützung dastehen. «Letztes Jahr hat uns die Regierung noch zwei kleine Projekte finanziert, sodass wir mit erheblichen Lohnkürzungen gerade noch über die Runden kamen», sagte einer, der sich seit achtzehn Jahren für Trinkwasserversorgung, Wiederaufforstung und «tribals» einsetzt. Doch in diesem Jahr gab es nicht einmal das: «Letzten Monat hat man uns mitgeteilt, dass es keine Zuschüsse, keinen Lohn, kein Projekt mehr gibt: Wir sollen zu Hause bleiben.»

Aus Gujarat berichtet Lallubhai Desai, der im Laufe der letzten Jahrzehnte mehrere NGOs und zwei grosse NGO-Netze gegründet hat, dass seine Familie nur überleben könne, «weil meine Frau noch Geld verdient. Aber wir haben die meisten unserer Mitstreiter auf die Strasse setzen und unsere Arbeit weitgehend einstellen müssen.»

Seine einst überaus mobilisierungskräftige Hirtenbewegung Gujarat Jan Jagaran Sangh, die durch Massenaktionen die Mächtigen herausforderte (siehe WOZ Nr. 43/04), ist mittlerweile nur noch eine Rumpforganisation.

Und dann gibt es da noch die zunehmend verzweifelten Hilferufe von NGOs wie der aus Rajastan, einem politisch besonders harten, trockenen Bundesstaat mit grosser Armut: «Stelle bitte Kontakte zu Geberorganisationen her, du kennst doch viele, und hilf uns bei der Entwicklung von Projekten, die wir umsetzen können. Wir haben kein Geld mehr!»

Könnte Gandhi heute protestieren?

Was für ein Unterschied zwischen 1984 und 2007! Damals wurden fast alle indischen NGOs auf die eine oder andere Art gefördert. Damals hatten selbst politisch eher konservativ gestrickte Hilfswerke wenig Mühe, indische Basisbewegungen zu unterstützen, die für einen gesellschaftlichen Wandel kämpften. Was lief danach schief? Wie kam es, dass die einst von ihrer revolutionären Mission überzeugten Initiativen heute betteln gehen müssen, um selbst überleben zu können? Wie hat es das System, das viele vor kurzem noch stürzen wollten, geschafft, die ehemals so unbeugsamen NGOs in eine Bittstellerrolle zu drängen?

Liegt es etwa daran, dass es in Indien kaum noch Arme gibt, wie selbst indische Wirtschaftsprofessoren in Hochglanzbroschüren behaupten? Sicher nicht. In den ärmeren Regionen des indischen Bundesstaats Orissa verfügen – so eine kürzlich publizierte Studie – 96 Prozent der Bevölkerung über keine Toilette, die nächstgelegene Gesundheitsstation liegt mindestens zehn Kilometer entfernt, zwei Drittel aller Kinder verlassen vorzeitig die Primarschule. Ein Fünftel der indischen Bevölkerung ist dauerhaft unterernährt.

Nur: Darüber berichten die Zeitungen nicht. Sie schildern mit grosser Hingabe die Zuwachsraten der Wirtschaft, die glitzernden Metropolen, die schönen Märkte. Das andere Indien taucht nur in Fussnoten auf – wenn mal wieder eine ganze Reihe von Bauern Selbstmord begehen, wenn der Widerstand gegen die Sonderwirtschaftszonen für spektakuläre Bilder sorgt, wenn die maoistische Guerilla der NaxalitInnen zuschlägt. Über die alltägliche Gewalt der Machtverhältnisse verlieren die indischen und die ausländischen Medien kaum ein Wort. Und über die Demokratie schon gar nicht.

In den achtziger Jahren waren Begriffe wie Friede, Demokratie, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit noch keine blossen Schlagworte gewesen. Heutzutage aber hätte selbst ein so friedfertiger Mensch wie Mahatma Gandhi weitaus mehr Schwierigkeiten, als ihm die britischen Kolonialbehörden vor über siebzig Jahren bereiteten. Wenn er heute versuchen wollte, eine Handvoll Salz zu stehlen und durch Gujerat zu tragen (wie er das bei seinem Protest gegen die britische Besatzungsmacht 1930 tat), würden ihn die Mächtigen und die Behörden wohl erschiessen. Oder den Job für ein paar Rupien einem Killer überlassen – so wie im Fall des Bergarbeitergewerkschafters Shankar Guha Niyogi, der 1991 in Chhattisgarh einem Attentat zum Opfer fiel, oder des Bombayer Gewerkschaftsführers Datta Samant, der 1997 erschossen wurde (siehe WOZ Nr. 5/97).

Druck von oben

Seit den achtziger Jahren ist der Spielraum für radikale Bewegungen enger geworden. Jawaharlal Nehru, Indiens erster Regierungschef, sah in den Basisbewegungen noch ein probates Mittel, um Hilfe bis ins letzte Dorf zu tragen und die Entwicklung des Landes voranzutreiben. Bis in die späten Achtziger hinein setzten Minister der Zentralregierung auf NGOs – vor allem dann, wenn sie ihren WählerInnen umstrittene, langwierige und mit viel Aufwand verbundene Projekte und Entscheidungen nahebringen wollten.

Anfang der neunziger Jahre änderte sich dies: Die immer aufmüpfiger agierenden NGOs wurden den Regierenden zusehends lästig. Denn sie stellten Fragen, verlangten von den PolitkerInnen Rechenschaft und mobilisierten Zigtausende (manchmal sogar Millionen) gegen Ungerechtigkeiten und die Ausbeutung im Land. Die Politik reagierte mit einer Reihe von Massnahmen und Gesetzesänderungen: Die NGOs mussten sich registrieren lassen, ihre Bilanzen vorlegen, Projektbeschreibungen einreichen und ihre Finanzierung durch internationale Hilfswerke genehmigen lassen. Auf diese Weise wurden aus basisorientierten Initiativen, die SozialaktivistInnen in die Dörfer schickten (wo sie die Bevölkerung über ihre Bürgerrechte informierten und in Workshops über nachhaltige landwirtschaftliche Produktionsformen vor den Verheissungen multinationaler Agro-Konzerne warnten) bürokratische Organisationen.

Dazu kam, dass sich jede Partei – kaum an die Macht gekommen – eigene NGOs zulegte und entsprechend gross-zügig mit Mitteln und Projekten versorgte. Das hatte Auswirkungen: Den regierungs- und parteinahen NGOs fehlt es auch heute an nichts. Sie residieren in noblen Quartieren, ihre Angestellten düsen in Offroadern durch urbane Elendsquartiere (aber selten aufs Land), während die radikaleren NGOs ständig von Ermittlungs- und Steuerbehörden heimgesucht und manchmal verboten werden.

Nach altem britischem Muster

Viele Organisationen haben freilich auch die fundamentale Verwandlung der indischen Gesellschaft verpasst. Über die Hälfte der weit mehr als hunderttausend registrierten indischen NGOs arbeiten im Bildungs- und Gesundheitsbereich, doch ihr Ansatz hat sich in den letzten zwanzig Jahren kaum geändert. Noch immer folgen die Bildungsinstitutionen dem britischen Muster, das Lehrpläne auf Unternehmen zuschnitt, die nach Buchhalterinnen und Fabrikarbeitern verlangten. Doch die offenen Stellen in diesen Sektoren gibt es nicht mehr, über sechzig Prozent der indischen Arbeitslosen sind ausgebildete Arbeitskräfte – und weiterhin werden qualifizierte Erwerbslose produziert.

Dasselbe gilt für den Gesundheitssektor. Hunderttausende von Krankenpflegern und Ärztinnen werden nach den Regeln der importierten Schulmedizin herangebildet, obwohl sie nur in den Städten und im Ausland einen Job finden und antreten wollen. Von den Problemen auf dem Land will niemand etwas wissen. Desinteresse herrscht auch gegenüber der rapiden Zunahme der chemikalisierten Landwirtschaft, des fabrikproduzierten Fastfoods und der freien Verfügbarkeit dubioser Arzneimittel. Auch die Universitäten und die Ministerien interessiert das nicht.

Auch die internationalen Hilfswerke scheinen die bewegungsorientierten NGOs mittlerweile aufgegeben zu haben. Die meisten Antworten von Geberorganisationen, die von NGOs auf Basis konkreter Projekte um Unterstützung gebeten werden, beginnen mit dem Wort «sorry» und enden mit der Phrase: «Wir wünschen Ihnen bei Ihren Bemühungen viel Erfolg.» Dazwischen liegen Myriaden von Entschuldigungen, die Desinteresse signalisieren. Lallubhai Desai hat mir einen solchen Brief gezeigt. Darin steht: «Wir haben Ihren Projektvorschlag im Detail geprüft und danken für die Zeit und die Mühe, die sie dafür investieren. Leider haben wir beschlossen, ab 2004 keine Projekte in Gujarat zu unterstützen. Wir sind uns jedoch sicher, dass so ein guter Vorschlag die Unterstützung anderer …» Dabei, sagt Desai, «haben sich seit den Anti-Muslim-Pogromen in Gujarat unsere Probleme vervielfacht». Ausgerechnet jetzt, da die rechtshinduistische Regierung von Gujarat die NGOs bekämpfe, «lassen uns die Hilfswerke im Stich».

Sorry und viel Glück!

In den letzten zehn Jahren haben sich die Politik und die Strategie der Hilfswerke verändert:

  • Einige haben sich – ähnlich den multinationalen Konzernen – zusammengeschlossen und globale Netze geschaffen, die in der Erwartung von Mega-Auswirkungen nur noch Mega-Projekte fördern.
  • Andere unterstützen in der Annahme, der Kapitalismus habe gewonnen, vorsichtshalber nur noch traditionelle Programme wie Direkthilfe, Katastrophenmanagement und – seit Jahren ein Renner – Kleinstkredite.
  • Manche haben auch – ohne Rücksprache mit ihren bisherigen AktivistInnen vor Ort – entschieden, nur noch in den von ihnen bevorzugten Regionen oder Staaten zu operieren beziehungsweise nur noch bestimmte Themenfelder zu berücksichtigen.
  • Nicht wenige beschlossen zudem, nur noch grossen NGOs zu helfen, die enorme Summen aufnehmen können und in der Lage sind, exzellente Berichte und makellose Abrechnungen abzuliefern.
  • Etliche sind dazu übergegangen, selbst vor Ort tätig zu werden, eigene Büros einzurichten, selber Leute anzustellen und Projekte umzusetzen.
  • Und dann gibt es da noch Hilfswerke, die (aus welchen Gründen auch immer) ihren Schwerpunkt verlegt haben – nach Afghanistan und in den Irak zum Beispiel, nach Osteuropa, in die Länder der ehemaligen Sowjetunion oder nach Afrika.

Aber wohin gehen die Armen?

All dies hat viele lokale NGOs verwirrt: Gestern noch sprach man von Solidarität, gemeinsamen Visionen und langfristiger Partnerschaft – und heute sind sie weg. Das Schlimme daran ist, dass viele indische NGOs dasselbe mit den lokalen Gemeinschaften tun: Auch sie hauen ab, stellen kurzerhand die Hilfe ein, beenden die Programme und kündigen die Arbeitsverhältnisse.

Aber wohin sollen die 300 Millionen gehen? Von den Behörden können sie keine Hilfe erwarten. Bei denen versickern, wie der indische Handelsminister Jairam Ramesh im April zugab, 85 Prozent aller Gelder im Apparat.

Gibt es eine Lösung? Die meisten NGOs und Hilfswerke beteuern, wie wichtig ihnen Demokratie, verantwortungsbewusste Regierungsführung und eine Beteiligung der Bevölkerung sei. Ihre Ressourcen, ihre Bemühungen, ihre Arbeit dienten, so verkünden sie, allein der grossen Mehrheit der Bevölkerung, die von sozio-ökonomischer Ausbeutung, von Zwangsarbeit und politischer Bevormundung befreit werden muss.

Aber die NGOs und Hilfswerke tragen nicht dazu bei, die vielen Armen zu mobilisieren. Im Gegenteil. Wenn die Armen sich selbst organisieren und gegen die wirtschaftlichen, politischen und legalen Machtverhältnisse revoltieren, ziehen sich die HelferInnen meist zurück. Oder wechseln stillschweigend die Seite.

In Bombay zum Beispiel leben siebzig Prozent der Menschen in Slums und auf der Strasse. Wenn die vielen tausend NGOs, die hier arbeiten, diese grosse Mehrheit in die Lage versetzt hätten, ihren Anteil am städtischen Raum und an den städtischen Ressourcen zu verlangen, wäre die Stadt heute ein leuchtendes Beispiel für Volksbeteiligung und verantwortungsbewusste Regierungsführung. Es ist diese Kluft zwischen den Absichtserklärungen und den Handlungen der Wohlmeinenden, in der die NGOs scheitern und die Demokratie stirbt.

Joseph Keve – er war von 1981 bis 1993 Indien-Koordinator von Swissaid und von 1997 bis 2000 internationaler Direktor des kanadischen Hilfswerks South Asia Partnership – arbeitet als Berater verschiedener sozialer Bewegungen. Er schreibt seit 1993 für die WOZ.