Schweiz - Palästina - Israel: Heuchlerisch? Unrealistisch?

Nr. 28 –

Der grüne Nationalrat Daniel Vischer vertritt eine Petition, die eine «neue Nahostpolitik» verlangt. SP-Nationalrätin Verena Müller-Hemmi wirft dem Text vor, einseitig zu sein.

Drei konkrete Forderungen stellt die Palästina-Petition, für die derzeit Unterschriften gesammelt werden (vgl. Kasten), an die Politik der Eidgenossenschaft.

«1. Die Schweiz anerkennt das begangene Unrecht gegenüber dem palästinensischen Volk und beteiligt sich an international zu vereinbarenden Wiedergutmachungen.»

WOZ: Frau Müller-Hemmi, die Gesellschaft Schweiz-Israel wurde vor fünfzig Jahren gegründet, nicht zuletzt eingedenk des Unrechts, das dem jüdischen Volk im Nationalsozialismus angetan wurde. Haben Sie in diesem Sinn Verständnis für die erste Forderung der Petition?

Vreni Müller-Hemmi: Ich frage mich, was daran neu ist. Ein Grund für das friedenspolitische Engagement der Schweiz im Nahen Osten ist ja gerade der Wille, dass es einen palästinensischen Staat geben soll, dass dafür eine internationale Vereinbarung gesucht werden muss. Auch im Punkt der Wiedergutmachung und der Entschädigung der Flüchtlinge für damalige Verluste erkenne ich nichts Neues.

Mein Problem mit der Petition ist ihre einseitige Schuldzuweisung an Israel - das ist keine Basis für einen Friedensprozess und vielmehr der Grund dafür, dass keine Fortschritte erzielt werden. Die Petition ist eine Deklamation, die auf die Schweizer Politik keinen grossen Einfluss haben wird. Ich setze mich mit meinen bescheidenen Mitteln für den Friedensprozess ein und unterstütze, dass sich die offizielle Schweiz daran beteiligt - wie sie das mit der Genfer Initiative getan hat, die 2003 auf Schweizer Anregung von Israelis und PalästinenserInnen ausgearbeitet wurde. Für mich ist einfach unklar, was mit dieser Petition erreicht werden soll.

Daniel Vischer: Die Petition vertritt einen klaren Standpunkt: Die Gründung des Staates Israel beruht auf der Vertreibung von Zehntausenden von PalästinenserInnen. Dieses historische Unrecht ruft nach einer Wiedergutmachung. Die Schweiz und andere Staaten, die die Gründung von Israel unterstützt haben, sollen sich für diese Wiedergutmachung einsetzen. Es ist sinnvoll, wenn eine möglichst grosse Zahl von SchweizerInnen mit dieser Petition eine solche Forderung stellt, denn bisher ist mir kein offizieller Akt bekannt, mit dem die Schweiz diesen Standpunkt übernommen hätte. Ich nehme aber gerne zur Kenntnis, dass Frau Müller-Hemmi in dieser Forderung kein Problem sieht und sie unterstützt - umso besser.

Vreni Müller-Hemmi: Die Gesellschaft Schweiz-Israel wurde nie angefragt, ob sie diese Petition mit entwickeln wolle. Auch die SP wurde erst angefragt, als die Petition stand. Sie trägt sie nun wegen ihrer Einseitigkeit nicht mit. Anlass der Petition sind die vierzig Jahre Besatzung. Mit dem Erwähnen von nur diesem Datum 1967 wird ein grosser Teil der Geschichte ausgeblendet. Wer von der Besatzung spricht, muss fairerweise auch sagen, wie es dazu gekommen ist.

Daniel Vischer: Ich sehe darin keine Unausgewogenheit, die Petition spricht lediglich jene Punkte an, die im Zentrum eines Friedensabkommens stehen und stehen müssen. Es geht um Uno-Resolutionen und nicht um Ausgewogenheit.

«2. Die Schweiz tritt in der Uno für Sanktionen gegenüber dem Staat Israel ein, bis dieser das Völkerrecht einhält und die Uno-Resolutionen erfüllt, d.h. insbesondere sich auf die Grenze vor 1967 zurückzieht (Uno-Resolution 242) und das Recht der Flüchtlinge anerkennt, zurückzukehren beziehungsweise ihren Anspruch auf Entschädigung (Uno-Resolution 194).»

Daniel Vischer: Es kann ausserhalb der Uno-Resolution 242 kein Friedensabkommen geben. Die palästinensische Seite hat im Rahmen des Osloer Friedensprozesses eingewilligt, sich mit den Grenzen von 1967 und damit mit einer Staatsfläche von 22 Prozent des ursprünglich geplanten Palästina zufriedenzugeben. Die israelische Seite hat bisher diese Grenzen für einen palästinensischen Staat nicht anerkannt und keinerlei Anstalten für einen Rückzug aus der Westbank und Jerusalem getroffen. Die Petition übernimmt hier klar die Position des aktuellen arabisch-palästinensischen Friedensplanes.

Vreni Müller-Hemmi: Politisch realistisch werden bei einem Friedensabschluss wohl nicht die Grenzen von 1967 sein. Es wird Korrekturen und Landabtausch geben, insbesondere was die Siedlungen rund um Jerusalem betrifft. Solche Korrekturen enthält auch die Genfer Initiative.

Daniel Vischer: Solche Korrekturen sind nicht auszuschliessen, aber dar-um geht es Israel nicht, sondern es anerkennt die Uno-Resolution 242 nicht. Das ist unrealistisch und verhindert echte Verhandlungen.

Vreni Müller-Hemmi: Der ganze Oslo-Friedensprozess und die Roadmap basieren doch auf dieser Resolution, in beide ist Israel involviert, und beide werden von Israel akzeptiert - auf dieser Grundlage wird nach einer Lösung gesucht.

Daniel Vischer: Der Oslo-Prozess ist seit der Ermordung des israelischen Premierministers Jitzhak Rabin im Jahr 1995 ins Stocken geraten und von seinem Nachfolger Ariel Scharon später gebrochen worden. Seit 1993 hat sich der Siedlungsbau vertragswidrig verdoppelt, die im Jahr 2006 gewählte palästinensische Regierung wurde nicht anerkannt, die Bevölkerung namentlich im Gasastreifen wird ausgehungert, und es wurde eine völkerrechtswidrige Mauer gebaut. Da können Sie nicht kommen und sagen: Wir sind eigentlich auf dem Weg zum Frieden und nun kommen da ein paar Radikale, die plötzlich weiter gehende Forderungen stellen. Das ist ein krasses Verkennen der Realität - das von Ihnen beschworene Gespräch ist folgenlos.

Vreni Müller-Hemmi: Der Oslo-Prozess ist auch wegen der Radikalisierung in der palästinensischen Gesellschaft, der Selbstmordattentate und des Aufbaus verschiedenster Milizen gescheitert - all dies hat den Friedensprozess ebenfalls unterlaufen. So kommen wir nicht weiter ...

Was das Rückkehrrecht betrifft, wird in der Resolution 242 des Uno-Sicherheitsrates von 1967 die Suche nach einer Lösung gefordert, diese wird Entschädigungen beinhalten und, in einem gewissen Umfang und in Absprache mit Israel, auch die Rückkehr - vor allem aber muss das Grundprinzip der Rückkehr durch die Schaffung eines Staates Palästina erfüllt werden.

Daniel Vischer: Das Rückkehrrecht ist verbrieft und eine im Bewusstsein der PalästinenserInnen innerhalb und ausserhalb Palästinas zutiefst verankerte Forderung. Es geht um die Schuldanerkennung Israels an der Vertreibung. Ohne sie wird es keinen Friedensvertrag geben. Ein palästinensischer Staat ist dafür keine Abgeltung: Israel hat diese Gebiete widerrechtlich besetzt, wie kann damit etwas abgegolten werden? Bisher hat Israel in keiner Weise die Grenzen der grünen Linien von 1967 anerkannt.

WOZ: Der Punkt 2 der Palästina-Petition erwähnt nicht nur die beiden Uno-Resolutionen, sondern verlangt zudem Sanktionen gegenüber Israel: An welche Sanktionen denken die PetitionärInnen?

Daniel Vischer: Das muss die Uno entscheiden - sie hat auch Sanktionen gegenüber Iran verhängt. In allen anderen Konflikten wird dies - namentlich von der Linken - als normal betrachtet, und es ist nicht einzusehen, warum hier nicht. Seit vierzig Jahren sind Westbank und Gasa von Israel besetzt, alljährlich erneuert die Uno die entsprechende Resolution, ohne aber das Geringste zu deren Durchsetzung zu unternehmen - genau zu dieser Durchsetzung soll die Schweiz beitragen.

Vreni Müller-Hemmi: Sanktionen bringen in diesem Konflikt nichts. Hingegen sollte sich die Uno verstärkt dafür einsetzen, dass sich das für die Roadmap verantwortliche Nahostquartett - USA, Russland, Europa und die Uno selbst - , aber auch die arabische Liga um eine Fortsetzung des Friedensprozesses bemühen. Die Schweiz soll Koexistenzprojekte unterstützen, auf diesem Gebiet hat sie Kompetenz und ist geschätzt. Meine innenpolitische Forderung ist, dass das Parlament für solche friedenspolitische Initiativen mehr Geld zur Verfügung stellt.

Daniel Vischer: Mit Letzterem bin ich einverstanden. Die Roadmap hingegen hat einzig die PalästinenserInnen hingehalten. Der kürzlich in Mekka beschlossene arabische Friedensvorschlag wurde von Israel und den USA bislang in keiner Weise aufgenommen. Ich sehe nichts von einem realen Friedensprozess.

«3. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass der Staat Palästina auf einer ökonomisch lebensfähigen territorialen Basis entsteht. Sie tritt in der Uno dafür ein, den Boykott gegenüber den (...) palästinensischen Behörden (...) zu beenden.»

Daniel Vischer: Die Schweiz anerkennt Staaten oder im Falle von Palästina staatsähnliche Institutionen, unabhängig von jeweilig gewählten Regierungen. Dies hat Bundespräsident Leuenberger 2006 nach dem Wahlerfolg von Hamas unterstrichen. Gleichzeitig erklärte er, er sehe aufgrund der demokratischen Legitimation keinen Grund für eine Nichtanerkennung. Das ist bei Ihnen auf Kritik gestossen ...

Vreni Müller-Hemmi: Die offizielle Schweiz hat der neuen Regierung die gleichen Bedingungen gestellt wie viele andere, nämlich Anerkennung des Staates Israel und von früher eingegangenen Verträgen. Sicher hat die Schweizer Vertretung auch mit Vertretern der Hamas-Regierung gesprochen, aber ich gehe davon aus, dass die andern Länder dies auch getan haben ...

Daniel Vischer: Reden wir nicht um den Brei herum, es gibt doch einen klaren Konflikt: Die westlichen Staaten unter Führung der USA haben diese Regierung nicht anerkannt und die Geldzahlungen eingestellt, und die Schweiz hat eine andere Haltung eingenommen, und das haben Sie kritisiert.

Vreni Müller-Hemmi: Die Schweiz hat die Hamas-Regierung finanziell nicht unterstützt. Ich kann das schon klar sagen, diesen dritten Petitionspunkt unterstütze ich nicht. Demokratische Wahlen sind sicher positiv, aber wenn dadurch - und ich sage das nun grundsätzlich - eine Regierung an die Macht kommt, die von rechtsstaatlichen Kriterien weit entfernt ist, dann sind solche Wahlen kein Persilschein.

Daniel Vischer: Das ist der heuchlerische Standpunkt, der von vielen westlichen Regierungen eingenommen wird: Überall werden Wahlen gefordert und gefördert - und die palästinensischen gehörten zu den vorbildlichsten - und wenn eine nicht genehme Regierung gewählt wird, wird sie nicht anerkannt. Das Argument vom Rechtsstaat ist vorgeschoben und nicht ernsthaft: Wie steht es um die israelische Rechtsstaatlichkeit mit 10 000 inhaftierten PalästinenserInnen? Da gehören Folterungen zum Rechtsstaat, und der tägliche Bruch des Völkerrechts ist evident.


Daniel Vischer (56), Rechtsanwalt, ist Nationalrat (GP, ZH, seit 2003) und Präsident der Sektion Luftverkehr des Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Seit 2003 ist er Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina (GSP), die im Jahr 1976 gegründet wurde. Die GSP setzt sich laut ihren Statuten zum Ziel, «die Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu verbreitern und zu vertiefen». Sie hat rund 600 Einzelmitglieder und ein jährliches Vereinsbudget von 50 000 Franken.

www.palaestina.ch

Die Petition

Als private Initiative gestartet und von verschiedenen Organisationen, insbesondere von der Gesellschaft Schweiz-Palästina unterstützt, sammelt die Palästina-Petition Unterschriften für die im Text erwähnten drei Forderungen an die Schweizer Regierung für eine neu orientierte Nahostpolitik. Die Liste der 200 ErstunterzeichnerInnen und der vollständige Petitionstext sind im Internet abrufbar, dort erhältlich sind ausserdem Unterschriftenbögen und weitere Informationen. Die Petition kann auch elektronisch unterzeichnet werden.

www.palaestina-petition.ch

Die GesprächspartnerInnen

Vreni Müller-Hemmi (56), Nationalrätin (SP, ZH, seit 1995) und Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats. Seit 2000 ist sie Zentralpräsidentin der Gesellschaft Schweiz-Israel, die 1957 gegründet wurde. Die Gesellschaft Schweiz-Israel setzt sich gegen Antisemitismus und unter anderem für die Anerkennung der Existenz Israels durch alle arabischen Staaten und die palästinensische Behörde ein. Die Gesellschaft hat rund 2000 Mitglieder und ein jährliches Vereinsbudget von 100 000 Franken.

www.schweiz-israel.ch