Vom Holocausttrauma zum Holocaustbonus: Vorspiel im Libanon
Eine radikale Gruppe der palästinensischen Widerstandsbewegung Hamas, die bis heute das Existenzrecht eines Staates Israel nicht anerkennt, hatte am 25. Juni 2006 einen – einen! – israelischen Soldaten gefangen genommen und als Geisel entführt. Weiter hat am 12. Juli die libanesische Widerstandsbewegung Hisbollah, die eine Vernichtung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hat, zwei – zwei! – israelische Soldaten gefangen genommen und ebenfalls als Geiseln entführt. Bei dieser Aktion sind drei israelische Soldaten getötet worden. Nach israelischer Darstellung, die von der Weltpresse übernommen wurde, fand diese Entführung aus israelischem Territorium, knapp hinter der Grenze zwischen Israel und dem Libanon, statt. Israel bezeichnete das als einen Überfall der Hisbollah auf sein Land 1), damit als Kriegsanlass. Es reagierte darauf mit einer massiven militärischen Invasion des Libanon.
Aber diese Version der Kriegsursache wird bestritten. Laut der «Frankfurter Allgemeinen», die sich auf den britischen «Guardian» berief, erklärte der ehemalige Brigadegeneral der libanesischen Armee Amin Hoteit, der mit der Uno zusammengearbeitet hatte – also kein Mitglied der Hisbollah –, die israelischen Soldaten seien auf libanesischem Gebiet gefangen genommen worden: «Sie wurden auf einer Strasse bei Aita asch-Schaab, 120 Meter innerhalb des Libanon, gefangen genommen. Die Hisbollah drang über keine Demarkationslinie auf israelisches Staatsgebiet vor.» 2) Die Begründung des Kidnapping israelischer Soldaten durch die Hamas und die Hisbollah: Man wolle Israel zu einem Gefangenenaustausch bewegen, um wenigstens einen Teil der in israelischen Gefängnissen ohne Gerichtsbeschluss inhaftierten PalästinenserInnen und LibanesInnen – nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) rund 12000 – 12000! –, darunter 169 Frauen und 400 Jugendliche – freizubekommen. 3)
David gegen Goliath. Allerdings hat David inzwischen die Steinschleuder der Intifada durch Raketen ersetzt, die aus dem Gasastreifen und dem von der Hisbollah kontrollierten Südlibanon abgefeuert wurden und in Israel Menschen töteten und verwundeten und einige Sachschäden verursachten. Innerhalb eines Jahres sind in Israel – vor dem Libanonkrieg – fünf Zivilisten getötet worden. 4) Zur israelischen Reaktion schrieb die NZZ in einem redaktionellen Kommentar, es sei «noch kein Beweis für eine antiisraelische Grundhaltung, wenn man die Verhältnismässigkeit der militärischen Gegenschläge (durch Israel im Libanon, A. K.) infrage stellt. Das Gleiche gilt für Meinungsäusserungen, dass die Bombardierung des einzigen Elektrizitätswerkes im Gasastreifen, die gezielte Zerstörung von Brücken oder die Taktik, eine ganze Bevölkerung durch ohrenbetäubende nächtliche Überschallknalle zu zermürben, eigentliche Kollektivstrafen darstellen. Die Regierung Olmert (...) tut mit ihrer immer martialischer werdenden Rhetorik so, als glaube sie selber an eine rein militärische Lösung.» Olmert weiche «jedem Versuch zu einem wirklichen Dialog über einen Kompromiss im israelisch-palästinensischen Territorialkonflikt aus». 5)
Anstatt der Hamas und der Hisbollah Verhandlungen über einen Austausch von Geiseln und Gefangenen anzubieten, begann Israel, in den besetzten und den «autonomen» Gebieten und im Gasastreifen mit seinen Panzern herumzuwüten, Regierungs- und Parlamentsgebäude zu zerstören und aus der Luft mit seinen amerikanischen Präzisionswaffen führende Hamas-Aktivisten zu töten, dabei immer wieder auch Zivilpersonen, darunter Kinder. Ausserdem weigerte sich Israel, die demokratisch gewählte Hamas als Regierung anzuerkennen, da diese das Existenzrecht Israels leugne, ja, es hat elf Minister, den Parlamentspräsidenten und über vierzig Parlamentarier der Hamas verhaftet. Ein leuchtendes Vorbild für die Demokratisierung des Nahen Ostens. (Ein Teil dieser Gefangenen ist inzwischen wieder freigelassen worden.)
Israel hat die Geiselnahmen israelischer Soldaten zum willkommenen Anlass genommen, den Libanon ohne Kriegserklärung militärisch zu überfallen mit dem erklärten Ziel, die Soldaten freizupressen und die Hisbollah zu vernichten. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter: «Für die Bombardierung des gesamten Libanon fehlt Israel jede legale oder moralische Rechtfertigung. Israel hält zehntausend Gefangene fest. Wenn dann militante Kräfte ein oder zwei Soldaten kidnappen, sieht Israel das als Rechtfertigung für einen Angriff auf die Bevölkerung des Libanon.» 6)
Die Städte des Libanon, darunter auch die Hauptstadt Beirut, wurden von Israel einen Monat lang bombardiert ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, die höchstens durch abgeworfene Flugzettel aufgefordert wurde, ihre Wohngebiete zu verlassen. Manche Städte sehen heute so aus wie die deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Im ganzen Land hat Israel Autobahnen und Hauptstrassen durch Zerstörung von Brücken unbefahrbar gemacht sowie Flughafenpisten, Häfen, Treibstofflager, Elektrizitätswerke, kurz: die gesamte Infrastruktur des Landes zerstört, sodass die internationalen Hilfswerke und das IKRK die rund eine Million Vertriebenen nicht mit den lebensnotwendigen Gütern versorgen konnten. Ausserdem unterwarf Israel den Libanon einer See- und Luftblockade. Das alles musste von langer Hand vorbereitet worden sein. «Die Zeit» berichtete: «Für jede Rakete auf Israel, sagen die Militärs in Tel Aviv, würden sie bis zu zehn mehrstöckige Häuser im Libanon zertrümmern. Israel zielt nicht nur auf die Hisbollah, es nimmt ein ganzes Volk in Geiselhaft.» 7)
Bis zum Waffenstillstand am 14. August, der nach langem Hin und Her durch die Vereinten Nationen erzwungen wurde, sind durch Israel im Libanonkrieg über 1100 Zivilpersonen – darunter viele Kinder – getötet und gegen 4000 verwundet worden. Die Hisbollah hat während des Krieges täglich Hunderte von Raketen auf Israel abgeschossen. Israel hat 159 Tote, davon 43 Zivilpersonen, zu beklagen. 8) Der Libanon ist übersät mit Zehntausenden nicht explodierter Splitterbomben, die die israelische Armee noch in den letzten Kriegstagen wahllos abgeschossen hat und die heute fast jeden Tag, vor allem unter spielenden Kindern, Opfer fordern. Eine Million Libanesen sind in den ersten Tagen des Krieges aus ihren Städten und Dörfern in sichere Gebiete – Hunderttausende nach Syrien – geflohen. Als sie nach dem Waffenstillstand zurückkehrten, fanden Tausende ihre Häuser und Wohnungen zerstört.
Der berühmte jüdische Pianist und Orchesterdirigent Daniel Barenboim, der ein israelisch-palästinensisches Orchester gegründet hat, in einem Gespräch mit dem ehemaligen deutschen Aussenminister Joschka Fischer: «Man hat mehr und mehr das Gefühl, dass der einzige Weg, den Israel im Moment wählt, der ist, alles niederzuschlagen.» 9) Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des KZ-Überlebenden und ehemaligen Zentralpräsidenten der Juden in Deutschland: «Ständige Verstösse gegen die Genfer Konventionen seit 39 Jahren, andauernde Besetzung, Entrechtung, Unterdrückung und tagtägliche Demütigungen der Palästinenser, die unzähligen militärischen Übergriffe gegen ein Volk ohne Staat und Armee, gezielte Tötungen, (...) Zerstörung der Infrastruktur, (...) ungebremster Siedlungsbau (...) können von uns nicht länger schweigend hingenommen werden.» 10)
Bei der Betrachtung der Bilder von den zerstörten Wohnhäusern in Beirut erinnerte ich mich an jene vom Fernsehen übertragene Ansprache Usama Bin Ladens, in der er zum ersten israelisch-amerikanischen Libanonkrieg sagte, die Gedanken einer Rache an den USA hätten ihn 1982 zu plagen begonnen, «als Amerika den Israelis den Einmarsch in den Libanon erlaubte (...). Die ganze Welt sah dabei zu und unternahm nichts (...). Als ich diese zerstörten Wohnhäuser im zerstörten Libanon sah, kam mir der Gedanke, die Unterdrücker auf die gleiche Weise zu strafen, Wolkenkratzer in Amerika zu zerstören (...), um sie davon abzuschrecken, unsere Frauen und Kinder zu töten.» 11) Das war die Geburtsstunde von «9/11». Auf was für Gedanken kommt bin Laden wohl, wenn er in seinem Versteck am Fernsehen die Schutthaufen sieht, in die sich grosse Teile der libanesischen Dörfer und Städte verwandelt haben? Der «Spiegel» hat das Foto eines etwa siebzehnjährigen israelischen Mädchens veröffentlicht, das mit Kreide auf eine meterlange Flugzeugbombe einen Gruss an deren Zielgruppe schreibt: «Nassrallah with love from Israel». 12) (Nassrallah ist der Chef der Hisbollah). Man wird wohl nicht allzu lange warten müssen, bis dieser Gruss entsprechend erwidert wird.
«Juden-Nazis»?
So viel in dürren Worten zu den Fakten. Jeshajahu Leibowitz, Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, hatte nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 prophezeit: «Wir haben den Sechstagekrieg am siebenten Tag verloren, wenn wir die eroberten Gebiete nicht sofort zurückgeben.» 13) Zögen die Israelis sich nicht sofort zurück, würden sie als Besetzer zu «Juden-Nazis»: «Die Besetzungspolitik ist eine nazistische Politik.» 14) Den 1994 verstorbenen Jeshajahu Leibowitz nannte der damalige israelische Staatspräsident Ezer Weizman in einem Nachruf «einen der grössten Menschen des jüdischen Volkes seit Generationen». 15) Leibowitz hatte 1993 den höchsten israelischen Staatspreis erhalten, dessen Annahme aber wegen des Aufruhrs, den das im israelischen Establishment verursachte, abgelehnt.
In der nach Öl dürstenden und von der israelischen Lobby inspirierten Nahost-«Politik» des von Freiheit und Demokratie schwärmenden US-Präsidenten George W. Bush und in der machtarroganten Apartheidpolitik Israels in Palästina manifestiert sich in der Tat eine Art Protofaschismus des 21. Jahrhunderts. Leibowitz hat 1988 in einem Vortrag in Basel – wo er 1934 zum Doktor der Medizin promovierte – erklärt: Seit dem Sechstagekrieg «ist der Staat Israel (...) ein Instrument der gewaltsamen Beherrschung eines anderen Volkes (...). Es gibt keine politische nichtmilitärische Lösung, die es ermöglicht, dass weiterhin der Staat Israel über das palästinensische Volk herrscht. Dieser Zustand kann nur durch Gewalt aufrechterhalten werden (...). Der Staat Israel wird, wenn dieser Zustand anhält, der nur durch Gewalt aufrechterhalten werden kann, notwendigerweise ein faschistischer Staat werden.» Dies, obschon er innenpolitisch eine Demokratie mit weitgehender Rede- und Pressefreiheit sei: «Die Wahl ist absolut frei, die arabischen Bürger des Staates Israel haben volle politische und bürgerliche Rechte.» 16) (Allerdings werden sie, wie sie selbst sagen, als Bürger dritter Klasse behandelt.)
Dieses Paradox macht es so schwer, sich ein gerechtes Urteil über den mörderischen israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt – er ist inzwischen über ein halbes Jahrhundert alt – zu bilden. Alles spricht dafür, dass Leibowitz, und mit ihm zahlreiche westliche NahostexpertInnen, recht behalten werden: Eine friedliche, dauerhafte Lösung dieses Konflikts scheint nur als Einigung über eine Zweistaatenbildung innerhalb der Grenzen von 1967 möglich, was einen Rückzug Israels und eine Räumung sämtlicher Siedlungen im Westjordanland und eine Anerkennung des Existenzrechts Israels durch die Palästinenser verlangt.
Ein Existenzrecht des Staates Israel gibt es aber nur innerhalb dieser Grenzen, und dieses gründet auf der «UN Partition Resolution 181» vom 29. November 1947, wonach in Palästina zwei unabhängige Staaten geschaffen werden sollen: ein jüdischer und ein arabischer, mit einem «internationalen Regime» für Jerusalem, das von beiden Seiten als Hauptstadt beansprucht wird. Israel hat bis heute das Existenzrecht eines solchen unabhängigen palästinensischen Staates nicht anerkannt und sich weiter um diese Uno-Resolution futiert, indem es einseitig Jerusalem zu seiner Hauptstadt erklärte. 17) Dabei wäre es am israelischen Goliath, dem palästinensischen David die Hand zur Versöhnung hinzustrecken, anstatt als Antwort auf den Terrorismus der PalästinenserInnen – seinerseits eine Antwort auf die israelische Kolonialpolitik, ein eigentlicher Staatsterrorismus – sich mithilfe einer mehrere Meter hohen «chinesischen Mauer» einzuigeln. Aber Israel zeigt den PalästinenserInnen nur «die jüdische Faust, die einen amerikanischen Stahlhandschuh trägt, wunderbar gepolstert mit amerikanischen Dollarnoten.» (Jeshajahu Leibowitz) 18)
Der Rekurs Israels auf eine unbarmherzige Gewaltpolitik hat seine Geschichte. Nachdem die Türkei als Kolonialmacht über Palästina von westlichen Alliierten besiegt worden war, übernahm Britannien deren Rolle als Kolonialmacht und erhielt 1922 vom Völkerbund ein Mandat über Palästina, über die Köpfe der 91 Prozent AraberInnen hinweg, die damals Palästina besiedelten und denen 97 Prozent des Bodens gehörten. 19) Britannien, das 1917 mit der berühmten Balfour-Erklärung den ZionistInnen die Zusicherung gegeben hatte, sie dürften Palästina als «Heimstätte des jüdischen Volkes» – unter Wahrung der Rechte der PalästinenserInnen! – betrachten, liess daraufhin der jüdischen Einwanderung nach Palästina freien Lauf und unterwarf die AraberInnen einer brutalen Gewaltpolitik. Nach eigenen Angaben wurden 1936 bis 1939 mehr als 3000 PalästinenserInnen getötet. Nachdem die britische Mandatsmacht es den ZionistInnen, die inzwischen auf über eine halbe Million jüdische EinwandererInnen angewachsen waren, erlaubt hatte, eigene Streitkräfte aufzubauen, begannen diese einen Terrorkrieg gegen eben diese Mandatsmacht, um die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates zu erzwingen: 1945/46 «versenkten sie britische Kriegsschiffe, steckten die Ölraffinerie von Haifa in Brand, attackierten Eisenbahnlinien und britische Polizeiposten, Flughäfen, Radarstationen, Brücken und Strassen und kidnappten britische Offiziere». 20) Bei einem Terroranschlag auf das King David Hotel in Jerusalem wurden über 200 Personen getötet und verwundet, darunter höhere britische Offiziere.
Der Anschlag war eine Tat der jüdischen Terrororganisation «Irgun Zwai Leumi», deren Chef Menachem Begin hiess. 1948 kam es zum Massaker von Deir Yassin, einem Dorf in der Nähe von Jerusalem – um nur dieses zu erwähnen. Verbände der Irgun töteten dort die gesamte Dorfbevölkerung. Begin bezeichnete das von seiner Terrorgruppe angerichtete Blutbad als «gerechtfertigt», da es sonst keinen israelischen Staat gegeben hätte. In der Tat verursachte das Massaker unter der palästinensischen Bevölkerung eine Panik, die sie zur Flucht aus dem im selben Jahre gegründeten Staate Israel veranlasste. 21) Der schon damals oppositionelle israelische Journalist Uri Avnery: «Die Evakuierung der arabischen Zivilbevölkerung war zu einem Kriegsziel des Zionismus geworden.» 22)
Derselbe Menachem Begin hat Jahre später geplant, den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer zu ermorden. Man schrieb das Jahr 1952. Bundeskanzler Adenauer und der damalige israelische Ministerpräsident David Ben Gurion waren daran, ein Abkommen über eine deutsche «Wiedergutmachung» für die von den Deutschen an den Juden begangenen Verbrechen zu schliessen. Begin wollte die sich anbahnende Versöhnung zwischen dem neuen Deutschland und dem Judentum sabotieren, da es für ihn überhaupt keine Versöhnung mit Deutschland geben konnte. So plante er eine Ermordung Adenauers mithilfe einer an ihn adressierten Paketbombe. Der heute in Tel Aviv lebende 82-jährige damalige Konstrukteur dieser Bombe, Elieser Sudit, erklärte vor kurzem dem «Spiegel»: «Begin hat mir den Auftrag erteilt.» 23) Die Bombe tötete den Münchner Polizisten Karl Reichert, der das bei der Polizei gelandete verdächtige Paket öffnete. Menachem Begin ist später israelischer Ministerpräsident geworden. Ausserdem erhielt er den Friedensnobelpreis, da er sich um eine Versöhnung mit Ägypten bemüht hatte. Es kann einem schwindlig werden, wenn man die Geschichte des Staates Israel studiert ...
Das Holocausttrauma und sein Bonus
Wer sich um ein Verstehen dessen bemüht, was in Palästina geschehen ist und geschieht, sieht sich gezwungen, sich mit der mentalen Situation Israels zu befassen. Sigmund Freud hatte entdeckt, dass ein grosser Schrecken, der den psychischen Reizschutz durchbricht, eine «traumatische Erregung», kurz: ein Trauma verursachen kann und dass der Traumatisierte im späteren Leben einem Zwang unterworfen bleibt, die von diesem Trauma bewirkte Schrecksituation wieder zu beleben. Dieses Wiedererleben in der Erinnerung kommt einer Reaktivierung der Opferrolle gleich, in die man durch den grossen Schrecken hineingezwungen worden war. Traumatisierte werden so gezwungen, sich immer wieder mit der ursprünglichen Schrecksituation auseinanderzusetzen und nach Wegen zu suchen, sich – vielleicht mithilfe eines Arztes – von diesem Wiederholungszwang zu befreien.
Aber – und das scheint Freud übersehen zu haben – das Trauma kann auch einen Krankheitsgewinn vermitteln, die Opferrolle kann süchtig machen. Jedes Kranksein gewährt einen Bonus: Der Kranke hat ein Recht auf besondere Rücksichtnahme der Umwelt, auch ein Recht auf ein gewisses egoistisches Verhalten und auf einen Dispens von der Verantwortung gegenüber der Umwelt. Er darf sich narzisstisch auf sich selbst konzentrieren, gleichzeitig von anderen mehr erwarten als einem Gesunden erlaubt wäre. Das und noch einiges mehr ist der Krankheitsbonus. Nun verspricht der traumabedingte Wiederholungszwang auch eine Wiederholung der Erfahrung des Krankheitsgewinns. Zurückversetzt in die ursprüngliche Opferrolle, die einer privilegierenden Sonderrolle in der Gesellschaft gleichkommt, darf man sich dieser gegenüber mehr herausnehmen als ein Gesunder und auch mehr von ihr erwarten. Der Wiederholungszwang kann dann zu einem Mittel werden, in der gleichsam verewigten Opferrolle mit ihrer Bonusgewährung zu verharren, wenn nicht sogar darin seine Identität suchen und finden zu können. Die eigentliche Funktion des Wiederholungszwangs, soweit man von einer solchen sprechen kann, nämlich den Traumatisierten zur Auseinandersetzung mit seinem Trauma zu zwingen, bis er es in seinem seelischen Haushalt gleichsam neutralisiert hat, wird so in ihr Gegenteil verkehrt: Sie dient jetzt dazu, dem Traumatisierten den vom Trauma vermittelten Krankheitsbonus zu erhalten. Damit wird der Wiederholungszwang pervers: Er garantiert dem Traumatisierten in seinen gesellschaftlichen Beziehungen gleichsam ein Abonnement auf einen Sonderstatus, was ihn zu einem Verhalten legitimiert, das die Gesellschaft sonst nicht tolerieren würde.
Nun hat der kollektiv erlebte Holocaustschrecken die Überlebenden auch kollektiv traumatisiert. In einem Sonderheft der Zeitschrift «Psyche» zum Thema «Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis» 24) befassen sich mehrere Aufsätze mit diesem Holocausttrauma. Der Herausgeber der Zeitschrift, Werner Bohleber, schreibt sogar: «Durch die seelischen Folgen des Holocaust für die Überlebenden und ihre Nachkommen erzwang sich eine extreme traumatische Realität Eingang in die psychoanalytische Theorie.» Man habe bei den Überlebenden «eine chronische reaktive Aggression» und eine «narzisstische Regression» 25) festgestellt. Doris Laub schreibt in ihrem Aufsatz: «Schwere Traumatisierung färbt und formt über mehrere Generationen hinweg die gesamte innere Repräsentation von Realität; das Trauma wird zum unbewussten Strukturprinzip, das die Eltern weitergeben und die Kinder internalisieren.» 26)
Diese durch das Holocausttrauma geformte innere Repräsentation von Realität führte das in der Welt zerstreute Volk der Juden dazu, den alten Traum der ZionistInnen von einem Judenstaat endlich in Realität umsetzen zu wollen. Der bisher in der Diaspora gelebten Macht- und Gewaltlosigkeit, die das Judentum zu einem ohnmächtigen Opfer der Nazimörder werden liess, wollte man abschwören und zu seinem künftigen Schutz einen eigenen Staat mit dem jedem demokratischen Staate zustehenden Gewaltmonopol und Machtpotenzial gründen. Dieser Staat wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen, durch ein vom Holocaustschrecken zutiefst traumatisiertes Volk, und dieses Trauma erhielt gleichsam die Bedeutung einer Staatsraison. Schon bei der Gründung des Staates Israel, das heisst bei dessen völkerrechtlicher Legitimierung durch die Uno im Jahr 1948, wurde jedoch etwas erkennbar, das bis heute diesen Staat und seine militante Politik im Innersten kennzeichnet: Der neue Staat erhob unausgesprochen den Anspruch auf eine durch den Traumabonus des Holocaust legitimierte Sonderrolle innerhalb der Staatengemeinschaft. Man betrachtete diesen Bonus als einen stillschweigend von der Welt akzeptierten funktionalen Bestandteil seiner Legitimität.
Zur Zustimmung der in der Uno vereinigten Weltmächte zur Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina hat dieser Holocaustbonus entscheidend beigetragen. Er half mit, die Bedenken zu zerstreuen, die wegen des vehementen Widerstandes der arabischen Staaten gegen die Staatsgründung auf in ihren Augen arabischem Territorium, das 1948 zu über neunzig Prozent im Besitz von Arabern war 27), aufgekommen waren. Zu Unrecht, wie sich sogleich herausstellte, als die arabischen Staaten Israel unmittelbar nach der Gründung mit Waffengewalt überfielen, «um die Juden zurück ins Meer zu treiben». Fest steht: Der Staat Israel ist den PalästinenserInnen, ohne sie zu befragen oder gar mitentscheiden zu lassen, durch die Weltmächte – inklusive der Sowjetunion – aufgezwungen worden.
Wäre eine andere Lösung möglich gewesen? Am Zionistenkongress 1903 in Basel überraschte Theodor Herzl die Delegierten mit der Mitteilung, dass die britische Regierung bereit wäre, den Juden Uganda in Britisch-Ostafrika zur Gründung eines Judenstaates zu überlassen. Herzl unterstützte den Plan als Interimslösung, und der führende westliche Zionist Max Nordau empfahl ihn als «Nachtasyl», als Station auf dem Weg nach Palästina. 295 Delegierte stimmten für, 175 gegen eine Annahme des Plans, rund 100 enthielten sich der Stimme. Das Resultat war zu knapp, um eine Verwirklichung des Planes zu erlauben. Ein Jahr darauf starb Herzl, und 1905 verwarf ein weiterer Kongress den Plan endgültig, da eine Annahme eine Politik der Panik gewesen wäre. 28)
Bei der Gründung des Staates Israel verliess man sich von Anfang an auf den Schutz und den «Freibrief», die der Holocaustbonus gewährte und die diesem neuen Nationalstaat ein besonderes Gepräge gaben. Man fühlte sich durch den Holocaustbonus legitimiert, seine Interessen nötigenfalls rücksichtslos und ohne Furcht vor Sanktionen der Weltmächte durchzusetzen. Der Identitäts- und Immunitätsgewinn, den das Holocausttrauma mit seinem Bonus vermittelt, ist in der Politik Israels zu einem festen Kalkül geworden. Evelyn Hecht-Galinski: «Die Regierenden in Israel haben die Stirn, sich auf die ermordeten Vorfahren zu berufen.» 29) Und der israelische Friedenskämpfer Uri Avnery: «Die Palästinenser sind die Opfer der europäischen Schuldgefühle.» 30)
Aber man war sich von allem Anfang an auch der Existenz eines weiteren Bonus bewusst: der quasi bedingungslosen Unterstützung durch die Hegemonialmacht USA mit ihrer einflussreichen jüdischen Gemeinde und deren höchst effizienter Lobby. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Palästinapolitik der USA in Israel formuliert wird.
Israel profitiert so von einer doppelten Bonusgarantie. Europa hat dieser Politik gegenüber zwar seine Bedenken. Aber Deutschland ist aus historischen Gründen gelähmt, und was den Rest Europas anbelangt, so kritisierte ein Uri Avnery dessen Haltung als «feige». Joschka Fischer, der frühere deutsche Aussenminister, habe ihm gesagt: «Die USA haben die Macht, wir können nichts tun.» 31)
Um sich diesen doppelten Bonus erhalten zu können, musste die Opferrolle von Israel möglichst glaubhaft gespielt werden. Einige arabische Staaten und dann vor allem der palästinensische Terrorismus haben dafür gesorgt, dass das nicht allzu schwerfiel. Und nötigenfalls konnte man dem Fortbestand der Opferrolle etwas nachhelfen, wie es der bewusst provokative Gang Scharons zum Tempelberg, der zum Ausbruch der zweiten Intifada führte, bewies. Der israelische Psychologe Dan Bar-On bestätigt, die Opferrolle sei das Ferment der israelischen Nation, habe freilich mit der Realität wenig zu tun. 32) Die Opferrolle ist bis heute ein integraler Bestandteil der nationalen Identität Israels. Sie dispensiert Israel in seinem Verständnis von einer aktiven Friedenspolitik. Nochmals Uri Avnery: Das Regime Scharon werde nach seinem Ausscheiden von seinen Nachfolgern weitergeführt, man wolle keine Verhandlungen mit den Palästinensern. 33)
Vom Bonus zum Malus?
Es erscheint fast wie ein geheimnisvoller Fluch, dass im Schutze des Holocaust- und des US-Bonus das so fürchterlich geschundene Opfervolk der Juden und Jüdinnen in der Politik des Staates, den es sich zu seinem Schutze aufbaute, selbst zum machtarroganten Täter wurde, der sich von besorgten Stimmen aus den eigenen Reihen den Vorwurf gefallen lassen muss, es habe sich von demselben mörderischen Ungeiste infizieren lassen, unter dem es so schrecklich zu leiden hatte. Der Vorwurf «Juden-Nazis», erhoben von einem international so geachteten Mann wie Jeshajahu Leibowitz, hätte zum Überdenken der Politik bewegen müssen. Aber nichts geschah, und ein aufrechter Mann wie Uri Avnery sieht sich zur Warnung gezwungen: «Wir haben in Israel zwei faschistische Parteien, die im Parlament über fünfzehn Prozent der Sitze verfügen. Ich halte es für möglich, dass sie eines Tages an der Regierung beteiligt werden.»34)
Israels kalkulierte Weigerung, die 1967 eroberten Palästinensergebiete wieder freizugeben und durch die Erklärung einer Bereitschaft zum Rückzug hinter die Grenzen von 1967 echte Friedensverhandlungen mit den Palästinensern aufnehmen und den Aufbau eines Palästinenserstaates ermöglichen und unterstützen zu wollen – dieses Beharren auf der Macht des Kolonialherren könnte sich eines Tages bitter rächen.
Der Libanonkrieg hat den Antisemitismus in der Welt, nicht nur der arabisch-iranischen, und den selbst in Europa wachsenden Hass auf Israel gefährlich angeheizt. Auch erscheint Israel als Komplize der so katastrophal gescheiterten Nahost-«Politik» von US-Präsident George W. Bush. So wurden und werden die alten rassistischen Ressentiments den Juden und Jüdinnen gegenüber wiederbelebt und die Einsicht verdrängt, dass Israels Politik keine rassenbedingte, sondern gut alteuropäische Kolonialpolitik ist.
Aber Israel spielt mit dem Feuer. Der Holocaustbonus verliert zusehends an Wirkungskraft. Immer öfter wird gefragt, was Israel dazu legitimiert, sich – wenn auch nicht explizit, wohl aber implizit – auf die Naziverbrechen zu berufen, wenn es sich in den von ihm besetzten Gebieten zum Teil selbst so gebärdet, als wäre es bei den Nazis in die Schule gegangen. Besonders schlimm und gefährlich ist auch, dass Israels arrogante und brutale Machtpolitik dem Antisemitismus in aller Welt neuen Auftrieb verleiht und die politische Kritik an Israels Verhalten rassistisch infiziert wird. Das ist umso absurder, als die AraberInnen ja ebenfalls Semiten sind. Viel eher greift eine Deutung, die in der Politik Israels den PalästinenserInnen gegenüber eine Wiederholung der Sünden des europäischen Nationalstaates in der Zeit des Kolonialismus sieht. Es hatte ja immer wieder in den eigenen Reihen prominente Stimmen gegeben, die davor warnten, den Judenstaat als Nationalstaat europäischen Musters aufzubauen. So hatte etwa Hannah Arendt schon 1945 vor der «kritiklosen Übernahme des Nationalismus in seiner deutschen Version» durch die Zionisten gewarnt. Der einzige neue, von den ZionistInnen beigesteuerte geschichtsphilosophische Beitrag sei Theodor Herzls Definition der Nation als «eine Gruppe von Menschen (...), zusammengehalten durch einen gemeinsamen Feind», was Arendt «eine absurde Doktrin» nannte. 35) Den europäischen KritikerInnen Israels, die unterschwellig von rassistischen Ressentiments beeinflusst sind, ist deshalb zu entgegnen: Die Israelis sind «unsereiner», es sind die Sünden unseres alten europäischen Nationalismus und Kolonialismus, die da im Nahen Osten Urständ feiern. Und bekanntlich waren auch Faschismus und Nationalsozialismus europäisches Giftgewächs. So gesehen, ist eine Kritik an Israels Verhalten in den von ihm besetzten Gebieten europäische Selbstkritik.
Was den US-Bonus anbelangt, so ist auf die Dauer auch auf diesen kein Verlass. Es ist unsicher, ob nach dem Debakel der Nahost-«Politik» Präsident Bushs eine künftige US-Regierung sich weiterhin ihre Palästinapolitik von Israel und seiner Washingtoner Lobby wird diktieren lassen. Und vor allem müsste Israel sich fragen: Diente es nicht weit eher der Garantie einer friedlichen Zukunft in gesicherten Grenzen, wenn Israel endlich – als der unvergleichlich Mächtigere – den PalästinenserInnen die Hand zu vorbedingungslosen Friedensverhandlungen hinstrecken und seine Bereitschaft zum Rückzug hinter die Grenzen von 1967 erkennen lassen würde, falls die Gegenseite bereit wäre, ein Existenzrecht Israels innerhalb dieser Grenzen anzuerkennen? Bei einem Friedensschluss kann man sich den Partner nicht aussuchen, und dieser Partner ist immer der Feind. Deshalb ist es gleicherweise absurd, wenn einerseits die Hamas sich nicht an Friedensverhandlungen mit Israel beteiligen will, weil das einer Anerkennung des Existenzrechts Israels gleichkäme, und wenn andererseits Israel sich nicht mit der Hamas an einen Tisch setzen will, solange sie das Existenzrecht Israels nicht anerkannt hat. Indem beide Seiten sich so verhalten, beweisen sie – darin allein wären sie sich einig –, dass beide gar keinen Frieden wollen.
Die Völkergeschichte ist launisch und neigt zu nicht vorhersehbaren, unberechenbaren Eskapaden. Auf einen echten Friedensschluss, der von Versailles gelernt hätte und nichts enthielte, was die eine oder die andere Seite später einmal zu Revancheaktionen verleiten könnte, auf einen solchen Friedensschluss wäre weit mehr Verlass als auf einen zerbröckelnden Holocaust- und einen wackligen US-Bonus. Ein Bonus, der nicht mehr hält, was er verspricht, könnte sich leicht in einen Malus verwandeln.
(Geschrieben im Dezember 2006)
Anmerkungen
1) So der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert laut «Neue Zürcher Zeitung» (im Folgenden NZZ), 14.07.2006.
2) «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (im Folgenden F.A.Z.), 14.08.2006.
3) Angaben in NZZ, 19.07.2006.
4) F.A.Z., 24.08.2006.
5) NZZ, 08./09.07.2006.
6) Interview in «Der Spiegel», Nr. 33/06.
7) «Die Zeit», 27.07.2006.
8) Laut Daniel Thürer in NZZ, 06.09.2006.
9) «Die Zeit», 07.09.2006.
10) F.A.Z., 08.09.2006.
11) Zitiert nach NZZ, 01.11.2004.
12) «Der Spiegel», Nr. 30/06.
13) «Tages-Anzeiger» (Zürich), 20.08.1994.
14) Jeshajahu Leibowitz: «Gespräche über Gott und die Welt», Frankfurt a. M. 1990, Seite 30.
15) «Tages-Anzeiger», 19.08.1994.
16) Der Vortrag von Leibowitz ist publiziert in «Reformatio», Bern, Heft 5, Oktober 1988.
17) Die Reihe der Uno-Resolutionen, die Israel missachtet, ist lang:
- Resolution 181, 1947: Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat, internationales Regime für Jerusalem.
- Resolution 191, 1948: «Recht auf Rückkehr» für die palästinensischen Flüchtlinge.
- Resolution 242, 1967: Aufforderung zum Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten, im Austausch gegen die Anerkennung des Rechts Israels «innerhalb anerkannter und sicherer Grenzen friedlich zu leben».
- Resolution 3226, 1976: Recht des palästinensischen Volkes auf Souveränität und nationale Unabhängigkeit.
- Am 20.07.2004 schloss sich die Uno-Vollversammlung einem Entschluss des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag an und forderte den Rückbau der israelischen Trennmauern im Westjordanland.
(Angaben nach «Le Monde diplomatique», September 2006)
18) Siehe Anmerkung 14, Seite 278.
19) Siehe Walter Hollstein: «Kein Frieden um Israel», Frankfurt a. M. 1972, Seite 173.
20) A. a. O., Seite 129.
21) A. a. O., Seite 173.
22) A. a. O., Seite 175.
23) «Der Spiegel», Nr. 25/06.
24) «Psyche», Heft 9/10, 2000.
25) A. a. O., Seite 810 f.
26) A. a. O., Seite 867.
27) Siehe Anmerkung 19, Seite 122.
28) Siehe Chaim Waizmann: «Trial and Error», New York 1949, Seite 83 bis 88.
29) Siehe Anmerkung 10.
30) Uri Avnery in Radio DRS 2, Sendung «Kontext», 10.10.2006.
31) Ebenda.
32) Zitiert in einem Leserbrief, «Die Zeit», 03.08.2006.
33) Siehe Anmerkung 30.
34) NZZ, 27.07.2006.
35) Hannah Arendt: «Der Zionismus aus heutiger Sicht», in: dieselbe: «Die verborgene Tradition», Frankfurt a. M. 1976, Seiten 148 und 159.