Balkan: «Serbe, Türke, Marsmensch»

Nr. 40 –

Im Kosovo leben neben der albanischen Mehrheit nicht nur SerbInnen, sondern noch etliche andere ethnische Minderheiten. Ein Besuch bei diesen bedrängten Gemeinschaften.

Die Gora ist ein gebirgiges Dreieck ganz im Süden des Kosovo, ein Zipfel zwischen Albanien und Mazedonien. Hier sind die Strassen oft nicht mehr als schlechte Pisten, viele Dörfer sind verlassen und die Geschäfte geschlossen. Die wenigen verbliebenen EinwohnerInnen sind alte Leute, die in ständiger Angst vor Diebstahl und Gewalt leben. Die GoranerInnen sind SlawInnen und MuslimInnen und sprechen einen Dialekt, der dem Mazedonischen gleicht. Sie nennen ihn «nasiski» - unsere Sprache.

In früheren Zeiten war die Gora eine Viehzuchtregion, in deren Bergen riesige Schafherden weideten. Doch heute sind die meisten Tiere verkauft. Die GoranerInnen wagen nicht mehr, in die von den AlbanerInnen kontrollierte Ebene hinunterzugehen, und sind dadurch vom Viehhandel abgeschnitten.

Leere Dörfer

Die Gora war in ihrer Abgeschiedenheit und Armut schon immer ein Abwanderungsgebiet. Seit je brechen viele GoranerInnen nach Deutschland und in andere westeuropäische Länder auf, wo viele auf dem Bau arbeiten. Sie sind auch anerkannte Bäcker und Konditorinnen, etliche besitzen Geschäfte in Serbien, Montenegro, Bosnien oder Mazedonien. Ab 1999 wurde die Emigration jedoch definitiv. Seit der Kosovo zum Uno-Protektorat wurde, sind mehrere Hundert GoranerInnen Opfer von ethnischer Gewalt geworden, und ihre Dörfer wurden regelmässig von PlünderInnenbanden heimgesucht.

Restelica ist das entlegenste Dorf in der Gora, und auch das grösste. Rund hundert Häuser klammern sich an die Hänge der Berge und sind nur im Sommer bewohnt. Dann zählt der Ort bis zu 8000 EinwohnerInnen. Ende August leert sich das Dorf wieder. In der ganzen Gora sollen 6000 Menschen leben - bei der Volkszählung von 1991 waren es noch 30 000. Die AlbanerInnen werfen den GoranerInnen vor, sie hätten alle mit den serbischen MachthaberInnen zusammengearbeitet. Tatsächlich ist die Gemeinschaft der GoranerInnen politisch gespalten. Einige von ihnen halten nach wie vor treu zu Belgrad. Andere arbeiten mit den von den AlbanerInnen beherrschten Institutionen des Kosovo zusammen. So wird in einigen Schulen der Gora nach dem serbischen Lehrplan unterrichtet, und die LehrerInnen werden von Belgrad bezahlt. Andere Schulen sind in das Erziehungssystem des Kosovo integriert, und der Unterricht erfolgt offiziell in der «bosniakischen Sprache», wie Serbisch von den Behörden in Pristina lieber genannt wird.

«Ein Problem für uns ist, dass es im Kosovo keine universitäre Ausbildung in slawischer Sprache gibt», stellt Abdi Alidscha fest, ein Vertreter der Demokratischen Initiative von Gora. «Nach der Mittelschule müssen unsere Jungen in Serbien weiterstudieren, weil sie kein Albanisch sprechen. Ihre Zukunft ist meist düster: Sie bleiben im Dorf, tun nichts, als auf eine Möglichkeit zu warten, sich ins Ausland abzusetzen.» Noch in diesem Jahr will die Regierung in Pristina den Unterricht in Serbisch in der Gora einstellen und alle Schulen in den kosovarischen Lehrplan «wiedereingliedern» - was wohl zu neuen Spannungen führen wird. «Die Albaner planen die Assimilierung unserer kleinen Gemeinschaft - wem das nicht passt, der muss auswandern», sagt Abdi Alidscha.

Die Demokratische Initiative von Gora vertritt nicht die ganze Gemeinschaft. Etliche im Dorf stehen hinter dem Gesundheitsminister der kosovarischen Regierung Sadik Idrizi und dessen Watan-Partei. Diese unterstützt die Behörden in Pristina und empfiehlt den GoranerInnen, sich als «BosniakInnen» zu definieren, da die goranische Identität zu sehr mit Belgrad in Verbindung gebracht werde. Ein alter Bauer in Restelica meint schulterzuckend zu dieser politisch motivierten Identitätsänderung: «Ich nenne mich ohne weiteres Bosniake, Serbe, Türke oder Marsmensch - das ändert nichts daran, dass ich Goraner, muslimisch und in der Gora geboren bin. Und hier lässt man mich hoffentlich auch in Ruhe sterben.»

Mehrfach diskriminierte Roma

Das Los der über den ganzen Kosovo verteilten Gemeinschaft der Roma ist ähnlich wie jenes der GoranerInnen. Vor 1999 lebten mindestens 100 000 Roma im Kosovo - inzwischen sind es nach Schätzungen höchstens noch 30 000. Viele von ihnen leben in den serbischen Enklaven. Dort gibt es Lager und Aufnahmezentren für Roma, die aus albanischen Dörfern und Regionen vertrieben wurden. Andere mussten, um an ihren Wohnorten verbleiben zu können, ihre politische Zuverlässigkeit unter Beweis stellen. Die Gemeinschaft der Roma ist nur mit einem Abgeordneten im Parlament von Kosovo vertreten, mit Hadschi Zulfo Mergja. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit lobt er jedoch die UCK, dabei hat die frühere albanische Guerilla im Sommer 1999 alle Roma-Quartiere im Kosovo angezündet und geplündert.

Die Roma werden mehrfach diskriminiert: ethnisch, wirtschaftlich, sozial und politisch. Sie werden - wie die GoranerInnen - kollektiv der Zusammenarbeit mit dem serbischen Regime bezichtigt, doch die Gemeinschaft ist zutiefst gespalten. In der kleinen Stadt Orahovac lebt eine Handvoll Roma noch im albanischen Viertel. Die anderen haben sich ins serbische Ghetto im oberen Teil der Stadt zurückgezogen. Genauer: Sie leben in einem Quartier am Rand dieses Ghettos, in einer Art Niemandsland zwischen dem serbischen und dem albanischen Stadtteil. Seit Sommer 1999 gehen sich die «serbischen» Roma und die «albanischen» Roma geflissentlich aus dem Weg - um dem Vorwurf des Verrats der jeweils anderen Seite auszuweichen.

Zum Albanertum zurückkehren?

Das Schicksal der rund 100 000 Bosniaken und Türkinnen im Kosovo ist kaum besser. Unter dem Regime von Präsident Slobodan Milosevic waren diese Gruppen politisch der albanischen Seite näher als die GoranerInnen oder die Roma. Das verhilft ihnen heute zu ein bisschen mehr Toleranz vonseiten der AlbanerInnen. Dafür droht eine andere Gefahr - jene der Assimilierung. Der Journalist Bashkim Hisari erklärt: «Die albanischen NationalistInnen sehen das so: Die hiesigen Türken wurden zur Zeit des osmanischen Reichs 'türkisiert' und sollten eigentlich zu ihrer ursprünglichen Identität zurückkehren und sich als Albaner verstehen.» Diese Meinung werde eigentlich in allen politischen Parteien vertreten, auch den sogenannt moderaten. Vor einem Jahr wollte die Demokratische Liga des Kosovo, die Partei des verstorbenen gemässigten AlbanerInnenführers Ibrahim Rugova, in Prizren die türkische Sprache aus der Verwaltung verbannen. «Dabei lebt dort die grösste türkische Gemeinschaft des Kosovo, Türkisch wird von all ihren Bewohnern gesprochen und gehört zur traditionellen Kultur der Stadt», sagt Hisari. Er ist Albaner, doch lehnt er die ethnischen Zuweisungen ab: Selbst ein altgedienter kommunistischer Parteisekretär, ist er mit einer Goranerin verheiratet und war lange Zeit Verantwortlicher bei einer nichtstaatlichen Organisation zur Verteidigung der Persönlichkeitsrechte.

Die internationale Politik konzentriert sich nach wie vor auf die serbische Minderheit. Bei den Diskussionen über den künftigen Status des Kosovo werden die anderen kleinen Gemeinschaften systematisch vergessen.


Wie unabhängig?

Seit August bemüht sich eine Troika von Diplomaten aus Russland, den USA und der EU um eine Lösung für den künftigen Status der Provinz Kosovo und führt dazu unter deutscher Leitung Gespräche mit Delegationen aus Serbien und dem Kosovo. Zuvor war der frühere finnische Staatspräsident Martti Ahtisaari von den Vereinten Nationen mit der Suche nach einer Lösung beauftragt worden. Doch sein Vorschlag für eine überwachte Unabhängigkeit des Kosovo ging Russland, Serbien und einigen EU-Ländern zu weit und scheiterte im Juli am russischen Veto. Die Troika soll nun bis zum 10. Dezember dem Uno-Generalsekretär Bericht erstatten. Scheitert die Mission und kommt keine Einigung zwischen Serbien und Kosovo zustande, wird allgemein eine einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo erwartet. US-Präsident George Bush hat bereits seine Bereitschaft angekündigt, einen unabhängigen Kosovo anzuerkennen. Russland lehnt eine Unabhängigkeit ab, und die EU ist in der Frage gespalten.

Werner Scheurer

Teilung - riskant für den ganzen Balkan

Die Verhandlungen über den endgültigen Status des Kosovo dauern seit Monaten an. Dabei taucht nun ein bisher tabuisierter Plan auf: eine mögliche Teilung des Kosovo. Die serbische Gegend im Norden käme zu Serbien, der Rest des Landes würde unabhängig. Der Vertreter der Europäischen Union in der diplomatischen «Troika», der Deutsche Wolfgang Ischinger, hat zur Eröffnung der Verhandlungen am 12. August erklärt, alle Lösungen seien möglich, wenn sie nur von serbischer wie von albanischer Seite akzeptiert werden. Der russische Aussenminister Sergei Lavrov hat kürzlich angedeutet, dass sein Land einer Teilung zustimmen könnte.

Damit würden die drei Prinzipien aufgegeben, die die Vermittlungsmission des von den Vereinten Nationen beauftragten Martti Ahtisaari aufgestellt hat: keine Rückkehr zur Situation vor 1999, keine Änderung der Grenzen, keine Angliederung von Teilen des Kosovo oder der ganzen Provinz an einen Nachbarstaat.

Wenn keine andere Lösung zu finden ist, in die AlbanerInnen und SerbInnen einwilligen, scheint eine Aufteilung tatsächlich das kleinste Übel zu sein. Doch die rund 60 000 SerbInnen in den Enklaven ausserhalb jener nördlichen Zone kämen dadurch in eine noch schwierigere Lage. Dasselbe gilt für die nichtserbischen und nichtalbanischen Minderheiten der Provinz - ganz abgesehen von den regionalen Auswirkungen einer Teilung.

Das Dorf Tanusevci in Mazedonien befindet sich ein paar Hundert Meter von der Grenze zum Kosovo entfernt. Seine EinwohnerInnen sind albanisch und sollen über seinen Anschluss an den Kosovo abstimmen. Dies kündigte Xhezair Shaqiri am 24. August an. Er ist ein früherer albanischer Abgeordneter im mazedonischen Parlament und besser bekannt unter seinem Übernamen Kommandant Hoxha. Umgehend trat der mazedonische Nationale Sicherheitsrat zusammen und lehnte jegliche Aufteilung des Kosovo ab - wohl wissend, welche Gefahr sie für die Stabilität seines Landes darstellen würde. In Tanusevci fanden 2001 die ersten Zwischenfälle statt, die zum mazedonischen Bürgerkrieg führten.

Das Modell einer Teilung des Kosovo würde die alten Verwaltungsgrenzen des ehemaligen Jugoslawiens infrage stellen. Die von einer EU-Kommission unter dem früheren französischen Aussenminister Robert Badinter im Jahr 1991 aufgestellten Grundsätze sahen eine mögliche Unabhängigkeit für die Teilrepubliken der Föderation Jugoslawien vor, nicht aber für kleinere Verwaltungseinheiten. Inzwischen sind die sechs Teilrepubliken unabhängig. Eine Unabhängigkeit des Kosovo würde den Prinzipien jedoch widersprechen, weil er - wie die Wojwodina - in Jugoslawien nur eine autonome Provinz innerhalb der Teilrepublik Serbien war. Man könnte argumentieren, die besondere Situation im Kosovo rechtfertige eine «Erweiterung» der Badinter-Prinzipien. Wird der Kosovo jedoch nicht nur unabhängig, sondern auch noch geteilt, steht einer generellen Neudefinition der Grenzen im Balkan nichts mehr im Wege. Am direktesten sähen sich die SerbInnen in Bosnien bestärkt: Sie würden umgehend die Abtrennung der Republika Srpska fordern, jenes vom Dayton-Friedensabkommen im Jahr 1995 vorgesehenen serbischen Teils von Bosnien-Herzegowina.

Zwar entspricht eine Teilung auf den ersten Blick scheinbar dem gesunden Menschenverstand: Sie würde Bevölkerungsgruppen trennen, die sich nicht zu verstehen scheinen. Sie beruht jedoch auf einer grundsätzlichen Unkenntnis der Zeitgeschichte des Balkans - und sogar Europas. Welche Grenzen auf unserem alten Kontinent wären denn noch gerecht oder natürlich? Die derzeitigen Grenzen im Balkan sind das Resultat von historischen Kräfteverhältnissen, oft durch die Intervention von Grossmächten bestimmt. Sie wurden schrittweise am Berliner Kongress von 1878, nach den Balkankriegen (1912/13) und nach den beiden Weltkriegen definiert und sind nicht «gerecht» - sie lassen zahlreiche Minderheiten ausserhalb ihres «Referenzstaates».

Es ist jedoch völlig illusorisch, zu glauben, «gerechte», allen derzeitigen widersprüchlichen Forderungen genügende Grenzen seien machbar. Im Gegenteil - neue Frustrationen würden auftauchen. Eine generelle Neudefinierung der Grenzen würde eine neue Büchse der Pandora öffnen und zu neuen blutigen Zerreissproben führen. Zudem bliebe ein solcher Prozess nicht auf den Balkan beschränkt, sondern würde zum Präzendenzfall sowohl für Mitteleuropa wie auch für die ehemalige Sowjetunion.