Kosovo: Der autonome Krisenherd

Nr. 8 –

Ist es politische Kurzsichtigkeit oder Ausdruck nationalistischer Begeisterung? Pristinas Unabhängigkeitserklärung könnte jedenfalls den ganzen Balkan destabilisieren.

Mit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des kosovarischen Parlaments vergangenen Sonntag beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte des Balkans. Viele KommentatorInnen sehen in ihr den «letzten Schritt in der Auflösung des ehemaligen Jugoslawien». Die Erklärung erfüllt zwar die seit langem bestehende Forderung der Kosovo-AlbanerInnen nach einem eigenen Staat. Aber das heisst noch lange nicht, dass der Kosovo tatsächlich unabhängig ist. Stattdessen mehren sich die Zeichen dafür, dass die Region in eine neue Krise schlittert und dass sich die politischen Umstrukturierungen und Zersplitterungen fortsetzen.

Die kosovo-albanische Führung hat sich ein hohes Ziel gesetzt und viel versprochen - so soll der neue Kosovo ein «multiethnischer» Staat sein. Trotzdem wurde die Unabhängigkeitserklärung am 17. Februar im Parlament nur auf Albanisch verlesen. Und so schwenkten die Menschen auf den Strassen der Hauptstadt Pristina und an anderen Orten des Kosovo vor allem den schwarzen Adler auf rotem Grund - die albanische Nationalflagge - und die US-amerikanische Fahne.

Die sechs Sterne

Auch die vom Parlament noch am Sonntag angenommene neue Flagge des Kosovo ist überaus zweideutig geraten: Die Sterne auf dunkelblauem Grund über dem geografischen Umriss des Kosovo stehen nach offizieller Lesart für die verschiedenen Bevölkerungsteile. Sie symbolisieren neben der albanischen Bevölkerungsmehrheit die nationalen Minderheiten der SerbInnen, BosniakInnen, GoranerInnen, TürkInnen und der Roma. Doch genauso können sie auch als ein Symbol gelesen werden für Albanien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, das griechische Cameria und das Presevotal im Süden von Serbien - alles Staaten und Regionen, die zum Teil über einen hohen albanischen Bevölkerungsanteil verfügen.

Keine Überraschung bot bisher die Reaktion der serbischen Regierung und der im Kosovo lebenden SerbInnen. Wie zuvor angekündigt, erklärte Serbiens Ministerpräsident Vojislav Kostunica die Unabhängigkeitserklärung noch am gleichen Tag für «null und nichtig». Seither weiss im Kosovo niemand mehr, wer wofür zuständig ist. So haben die bei der Polizei tätigen SerbInnen inzwischen den Dienst quittiert, da sie die Verwaltungsbehörden in Pristina nicht mehr anerkennen. Gleichzeitig haben sich mehrere MinisterInnen der Belgrader Regierung am Sonntag in die serbischen Enklaven begeben, um zu demonstrieren, dass der Kosovo auch in Zukunft ein Teil von Serbien sein wird - ohne dass die kosovarischen Behörden diese Besuche verboten hätten.

Zudem unterliegt die Kontrolle der Landesgrenzen nach wie vor den Truppen der Uno-Mission im Kosovo (Unmik). Die Unmik-Verwaltung wird bis auf weiteres im Kosovo bleiben, obwohl ihre Grundlage - die Resolution 1244 des Uno-Sicherheitsrates von 1999 - für den Kosovo zwar eine «Autonomie und Selbstverwaltung» fordert, aber die «Souveränität und territoriale Unversehrtheit» von Serbien nicht antastet. Die rechtliche Situation wird also immer komplizierter. Der Leiter der Unmik, der Deutsche Joachim Rückner, hat wohl auch deswegen nicht an der Zeremonie der Unabhängigkeitserklärung teilgenommen. Seit Sonntag weist er alle Anfragen mit der Begründung ab, dass er noch keine Anweisungen aus New York erhalten habe.

Die Nächsten warten schon

Kosovos Unabhängigkeitserklärung wird weitreichende Konsequenzen für die Region haben (siehe WOZ Nr. 49/07). Zwar haben die AlbanerInnen in Mazedonien, Montenegro und im Presevotal die Unabhängigkeitserklärung eher diskret gefeiert. Doch bleibt die Frage, ob sich früher oder später alle Regionen mit albanischer Bevölkerung für unabhängig erklären und eventuell vereinen wollen. Denn die Erklärung vom Sonntag könnte in der ganzen Balkanregion einen Dominoeffekt auslösen: Bereits seit langem fordern die bosniakischen PolitikerInnen der Republik Srpska, der serbisch dominierten Teilrepublik von Bosnien-Herzegowina, das Recht auf Selbstbestimmung. So könnte sich bald auch die Republik Srpska für unabhängig erklären. Noch steht das Thema nicht zuoberst auf der politischen Traktandenliste. Seit Sonntag aber kommt es in Banja Luka, der Hauptstadt der Republik Srpska, immer wieder zu Demonstrationen.

Andere Staaten der Balkanregion haben bereits abgekündigt, Kosovos Unabhängigkeit nicht anzuerkennen. Besonders die drei EU-Staaten Bulgarien, Rumänien und Griechenland, die Kosovo am nächsten liegen, sorgen sich um die Stabilität der Region. Kosovos Unabhängigkeitserklärung stürzt Serbien in die nächste politische Krise. Nur zwei Wochen nach der Wahl des pro-europäischen Präsidenten Boris Tadic könnte der Einfluss der extremen nationalistischen Rechten wieder zunehmen. Die politischen Zauberlehrlinge in Pristina scheinen in ihrem nationalistischen Überschwang vergessen zu haben, dass der Kosovo und die ganze Balkanregion nur dann eine Chance auf eine friedliche Zukunft haben, wenn Serbien stabil und demokratisch bleibt und mit seinen Nachbarn einvernehmliche Beziehungen unterhält.

Jede Grenzziehung nach ethnischen Kriterien gefährdet das Gleichgewicht in der Region. Nach acht Jahren unter einer internationalen Verwaltung, die keines ihrer Versprechen in die Tat umgesetzt hat, ist es verständlich, dass die Bevölkerungsmehrheit im Kosovo kein Interesse an einer Fortsetzung des Status quo mehr hatte. Andererseits haben ihr die Milliarden, die der Westen, vor allem die EU, seit acht Jahren in den Kosovo pumpen, den Blick für die Realitäten vernebelt. Ihre nationalistischen PolitikerInnen werden seit Jahren hofiert und unterstützt. Vor allem das verleitete sie zu einem Schritt, der die Region in eine gefährliche Zukunft führen könnte.