Oktoberrevolution: Das grosse Schweigen

Nr. 45 –

Über die Geschehnisse vor neunzig Jahren möchte der Kreml am liebsten nicht mehr reden. Nur in kleinen Ausstellungen erinnert man sich an das Ereignis.

Es hilft alles nichts. Für eine Führung müsste ich einen schriftlichen Antrag bei der Museumsdirektorin -stellen, meint die Leiterin des Exkursions-büros im Moskauer Museum für -Zeitgeschichte, dem früheren Revolutionsmuseum. «Warum?» «Weil Sie Vertreter einer Zeitung sind.» Für JournalistInnen gelten Sonderregeln. So kaufe ich mir für 100 Rubel (2,80 Euro) eine Eintrittskarte und gehe ohne Begleitung zu den Ausstellungssälen.

Früher war das ganze Museum der Oktoberrevolution gewidmet, heute nur noch ein einziger Saal. Doch dort ist es immer noch sehr feierlich. In der Mitte des Raumes steht ein mit rotem Stoff bespanntes Stahlgerüst in der Form eines fünfzackigen Sterns. Plakate verkünden die nahende Weltrevolution. In den Glasvitrinen sieht man die Hinterlassenschaft der Revolutionäre, einen Matrosenkittel, den Schreibtisch von Organisator Jakow Swerdlow, darauf ein Karl-Marx-Porträt, Pistolen und Maschinengewehre unterschiedlicher Grösse und Ausführung.

Das Gewürz der Revolution

«In unser Museum kommen vor allem Ausländer», meint Vera Naumowna, welche den Saal betreut. Ängstlich verdeckt die kleine, schmale Frau mit dem weissen Haar ihr Namensschild, doch dann redet sie munter drauflos. Die Jugend interessiere sich nur für -«Babki» (Geld). Dabei sei doch «nicht alles schlecht gewesen, damals». Die Revolutionäre liebt sie wie Filmstars. Als Ers-tes zeigt sie das Bild des Matrosen Pawel Dybenko. «Sieht er nicht gut aus?» Der kräftige Mann mit dem Kinnbart leitete im Oktober 1917 die Verlegung der Kriegsschiffe in die Hauptstadt Petrograd (heute St. Petersburg). Der einfache Matrose war mit Aleksandra Kolontai verheiratet.

Die Revolutionärin stammte aus einer Adelsfamilie und gehörte zum engeren Kreis um Lenin. Der Soldat und die Adelige: Die Revolution machte es möglich. Der Soldat und die Adelige. Während des Bürgerkriegs war Dybenko im Süden Russlands stationiert. Dort habe er es mit den Frauen «wild getrieben». Vera weiss einiges mehr als das, was man in den Vitrinen sieht. Die alte Dame zeigt weitere Porträts, das von Lenins Geliebter, -Inessa Armand, und das von Lenins Frau, Nadjeschda Krupskaja. Affären sind, so scheint es, das Gewürz der Revolution. Im Nachbarsaal geht es um den Bürgerkrieg, der in Folge der Revolution begann. «Hier hängt alles durcheinander», schimpft die Aufseherin. Früher seien die Exponate ordentlich getrennt gewesen, die Bilder der roten Generäle auf der einen und die der weissen auf der anderen Seite. «Nun verliert man den Überblick.» In den Schaukästen hängen die Porträts der Verfeindeten, das Bild des «weissen» Generals Kornilow und das von Leo Trotzki, dem Oberkommandierenden der Roten Armee. Auch Anarchistenführer Nestor Machno mit dicker Pelzmütze ist zu sehen. In einer Ecke hängen Bilder der Zarenfamilie, darunter eine Zeichnung des Kellers, in dem die Familie erschossen wurde. «Auf Beschluss der sowjetischen Macht in Jekaterinenburg», steht im Begleittext.

Am liebsten nicht darüber reden ...

Nicht weit vom ehemaligen Revolutionsmuseum liegt in einer unterirdischen Einkaufspassage direkt gegenüber der Metrostation Puschkinskaja der Parfümerieladen «Arbat-Prestige». Zehntausende strömen hier täglich vorbei. Im riesigen Schaufenster der Parfümerie werben revolutionäre Matrosen auf roten Transparenten für eine «Oktober-Preis-Revolution». Doch das scheint die Vorbeieilenden nicht die Bohne zu interessieren.

Symbole der Revolution haben einen festen Platz in der russischen Werbung. Und nicht nur das. Bewusst oder unbewusst gelten die Hauptfiguren der Oktoberrevolution trotz aller Veränderungen, die das Land durchlaufen hat, immer noch als Helden. Andere Held-Innen aus jener Zeit gibt es nicht, oder sie sind nicht bekannt. Der Zar eignet sich schlecht. Er dankte nach der Februar-revolution kraftlos ab (vgl. unten).

Dem Kreml scheint das Thema Oktoberrevolution unangenehm zu sein. «Am Besten nicht darüber reden», scheint die Devise. Die Abneigung verstärkte sich noch, nachdem in Kiew und Tiflis bunte Revolutionen einen Machtwechsel einleiteten. Nicht nur die Oktoberrevolution, auch die Februarrevolution beurteilt man im Kreml heute negativ. «Der Oktober begann schon im Februar, weil sich die reale Macht schon vor den Oktoberereignissen in den Händen der radikalsten Gruppen in Russland befand», meint Putin-Berater Wladislaw Surkow. Träumt man im Kreml vielleicht von einer Wiedererrichtung der Monarchie?

Exportschlager Revolution

Der Revolutionsfeiertag am 7. November wurde von Boris Jelzin in «Tag der Eintracht und Versöhnung» umbenannt. Im Jahre 2004 kippte Wladimir Putin den Feiertag am 7. November ganz und führte stattdessen am 4. November den «Tag der nationalen Einheit» ein. Angeblich wurde Moskau an diesem Tag im Jahre 1612 von polnischer Besatzung befreit. Aber so genau weiss das keiner. «Das war am 7. November», argumentierte KP-Chef Gennadij Sjuganow, in der Hoffnung, seinen geliebten 7. November zu retten.

Trotz der Verdrängung: Als Exportschlager ist die Oktoberrevolution immer noch gut geeignet. Eduard Danilowitsch, der Archivleiter des ehemaligen Lenin-Museums, das direkt am Roten Platz liegt, bedauert, dass es in Moskau aus Anlass des 90. Jubiläums keine grosse Ausstellung gibt. Voller Stolz berichtet er, man sei ständig mit Exponaten im Ausland unterwegs, zuletzt bei der grossen Ausstellung «Traumfabrik Kommunismus» in Frankfurt am Main.

Das Einzige, was der Öffentlichkeit in diesen Tagen geboten wird, ist eine kleine Sonderausstellung unter dem Titel «Mythen der Revolution» im Moskauer Museum der Föderalen Archive. Einige Sowjetmythen wurden schon in den sechziger Jahren in Zweifel gezogen. Der Schuss vom Panzerkreuzer Aurora war nicht scharf, sondern wahrscheinlich ein Leerschuss. Den Sturm auf das Winterpalais, den Sergej Eisenstein in seinem «Oktober» zeigte, hat es gar nicht gegeben. Die Kerenski-Regierung ergab sich kampflos.

Doch heute gibt es neue Mythen. Die Revolution sei etwas «Fremdes», von aussen Eingeschlepptes, so eine weitverbreitete Meinung. Die Revolution habe Russland von seinem «natürlichen Weg» abgebracht. Die Zeit vor der Revolution wird idealisiert.

«Angeblich war die Revolution das Werk von Juden und Freimaurern», erläutert Ausstellungsleiter Alexej Litwin. Dabei sei sie viel mehr «das Resultat einer bestimmten Periode» gewesen. Der Weltkrieg habe die Situation zugespitzt, Reformen seien versäumt worden. Auch für die These, der deutsche Generalstab habe die Oktoberrevolution finanziert, gebe es keinen Beleg. In der Ausstellung wird allerdings dokumentiert, dass der wohlhabende Schweizer Sozialist Carl Moor den Bolschewiken einen Kredit von 35 000 Dollar gewährte, von dem er nach der Revolution und nach mühevollen Verhandlungen nur noch einen Teil zurückbekam.

Spurlos verschwunden

Vor zwei grossen Ölgemälden hat sich eine Gruppe amerikanischer StudentInnen mit ihrem Lehrer versammelt. Alle sprechen gut Russisch. Die StudentInnen tuscheln aufgeregt, denn hier gibt es etwas zu raten. Die beiden Gemälde zeigen das gleiche Ereignis, Lenins ersten Auftritt vor dem Arbeiter- und Soldatenrat von Petrograd. Beide Bilder sind vom Künstler Konstantin Juon. Das erste entstand 1927, das zweite 1935. Auf dem Bild von 1927 steht hinter Lenin eine Gruppe von zehn führenden Bolschewiki, unter ihnen Trotzki und Kamenew. Diese grosse Gruppe von Lenins Kampfgefährten ist auf dem Bild von 1935 auf vier Personen zusammengeschrumpft, unter ihnen Stalin, Geheimdienstchef Dserschinski und der spätere Aussenminister Molotow. Die auf dem Bild Getilgten waren entweder bereits verhaftet oder warteten auf ihre Verhaftung. «Dafür, dass er das Bild so gemalt hat, bekam er eine Datscha und durfte ins Ausland reisen», erklärt der Lehrer aus den USA. Eine ältere Russin mischt sich ein. Es sei «die Freiheit des Künstlers», sein Bild so zu gestalten, «wie er es empfindet». Die Student-Innen tuscheln und ziehen weiter.

Am Ausgang komme ich mit Wladimir Aleksandrowitsch ins Gespräch. Der 53-jährige Ökonom ist ein Geschichtsnarr. Er lässt keine Ausstellung aus und kauft sich ständig neue Bücher. Was ihm der 7. November bedeute? Das sei die «Erinnerung an seine Jugend». In Moskau gab es früher am 7. November eine grosse Demonstration und arbeitsfrei. «Wir liefen von der Uni in einem Sternmarsch zum Stadtzentrum. Manch einer hatte eine Flasche Wodka dabei, zum Aufwärmen.» Abends feierte er bei einem der beiden Grossväter, beide Zeitzeugen. Auch beim diesjährigen Jahrestag werde er an der frischen Luft sein, allerdings nur mit seinem Hund zu einem Spaziergang. Abends geht es dann ins Programmkino -Illusion. Dort laufen manchmal Revolutionsfilme. Das Jubiläum einfach übergehen will Wladimir dann doch nicht. Eine Woche nach meinem Besuch im ehemaligen Revolutionsmuseum bekomme ich einen Anruf. die Museumsdirektorin habe die Genehmigung für eine Führung erteilt. Das koste jedoch Geld, 3500 Rubel (100 Euro) inklusive Fotogenehmigung. Ich bedaure, das sei doch etwas teuer.

Oktoberrevolution im November

Am 7. November 1917 stürmten Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrats den Winterpalast in der damaligen russischen Hauptstadt St. Petersburg und übernahmen die Macht. Dennoch wird bis heute dieses Ereignis Oktoberrevolution genannt. Der Grund: In Russland galt damals noch der julianische Kalender.

Die Räte (Sowjets) verdrängten die Regierung von Alexander Fjodorowitsch Kerenski, die in der Februar-revolution des gleichen Jahres nach der Absetzung des Zaren eingesetzt worden war. Das Deutsche Reich, das sich damals mit Russland im Krieg befand, sorgte im Frühjahr 1918 dafür, dass der Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow (genannt Lenin) in einem plombierten Wagen aus seinem Schweizer Exil nach Russland reisen konnte. Berlin erhoffte sich von der Machtübernahme der Bolschewiki eine Schwächung des Gegners.

Nach der Oktoberrevolution schloss Lenin den Frieden von Brest-Litowsk und beendete damit den Krieg mit Deutschland. In den Jahren des folgenden Bürgerkriegs festigte er mit Hilfe der Roten Armee und des Tscheka genannten Geheimdienstes die Macht der Kommunistischen Partei.



Johannes Wartenweiler