«4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage»: «Auch mich gibts nur wegen Ceausescu»

Nr. 46 –

Der Spielfilm über den Alltag in den letzten Jahren der Ceausescu-Herrschaft über Rumänien brachte Regisseur Cristian Mungiu am Filmfestival Cannes die Goldene Palme 2007 ein. Ein Gespräch über seine Ansprüche beim Drehen, Ohnmachtsanfälle im Publikum und eine mysteriöse New Yorker Dame.

WOZ: Herr Mungiu, Ihre erste Kamera haben Sie von Ihrer Schwester geschenkt bekommen, als sie von einer Schweizreise zurückgekehrt war.

Cristian Mungiu: Die Kamera war mein erstes Geschenk aus dem Westen überhaupt. Ich habe sie 1990 bekommen, da war ich 22 Jahre alt. Natürlich war ich begeistert, habe monatelang meine Familie in Position gesetzt und abgefilmt. Später, als sich niemand mehr belästigen lassen wollte, habe ich versucht, die Spannung im Film durch ausgefallene Bildausschnitte zu steigern. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass mich diese Kamera zum Regisseur in spe gemacht hat. Sie hat mir vielmehr klargemacht, dass zwischen Kamerabedienen und Filmemachen kaum eine Verbindung besteht. Ein Film entsteht hauptsächlich aus der Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen.

Sie haben auch das Drehbuch zu «4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage» verfasst. Sie haben gesagt, der Film sei in Ihrer Vorstellung grösser als auf der Leinwand. Hadern Sie mit dem Text oder der filmischen Umsetzung?

Das konnte ich noch nicht eruieren. Die Veränderungen am Skript waren beim Drehen jedenfalls minimal, denn das Budget war zu klein für Improvisationen. Jeden Morgen besuchte ich vor den Aufnahmen nochmals die Drehorte, um mich ein letztes Mal zu vergewissern, dass sich die ausgedachte Geschichte im realen Raum entfalten kann. Ich drehe einen einzigen Take pro Szene, muss deshalb genau arbeiten und mich streng an das Drehbuch halten. Die Schauspieler haben manchmal für einen einzigen Take bis zu zehn Seiten Text auswendig zu lernen, jedes Komma ist wichtig. Wir üben die Szene wie beim Theater, bis sie zu einer wahren Begebenheit gerinnt.

Wann haben Sie beschlossen, dass die Hauptfigur des Films nicht die abtreibende Frau sein soll, sondern deren Freundin, die ihr dabei hilft?

Das geschah erst, nachdem ich schon mehr als die Hälfte des Skripts geschrieben hatte. Ich wollte zunächst über zwei junge Frauen schreiben, aber dann fiel mir auf, dass ich mehr an die eine dachte, an die helfende Freundin. Ich schrieb das Drehbuch neu und machte sie zur Hauptfigur. Denn für mich wird jene Figur zur Hauptfigur, die versteht, wie ihr geschieht, und die eine Veränderung durchläuft.

Wurde der Film so aufgenommen, wie Sie es erwartet haben?

Ich dachte, dass ein so sensibles Thema Diskussionen über die kommunistische Epoche auslösen würde, aber es ist anders gekommen. In den meisten der sechzig Ländern, in denen der Film vertrieben wurde, wird er als Thriller eingestuft. Meine Verleiher zählen schon auf, wie viele Zuschauer während der Vorführung ohnmächtig wurden: in Österreich vier, in Frankreich zwölf. In Indien ist man dabei, «heikle Szenen» wegzuschneiden, ich muss mich unbedingt näher damit beschäftigen.

Zu meinem grössten Erfolg zähle ich die Projektionen in Rumänien. Der Film konnte dort 70 000 Zuschauer erreichen, doppelt so viele wie «Ratatouille», der meistbesuchte US-amerikanische Film des Jahres.

Auf Ihrem Blog vermerken Sie einige überraschende Begegnungen mit Zuschauern. Eine Rumänin soll neulich gedacht haben, Sie hätten ihr Leben verfilmt.

Ich hatte viele seltsame Begegnungen, aber die seltsamste habe ich noch nicht eingetragen. Das war anlässlich des New York Film Festival. Mein Verleiher bat mich nach der Vorführung in ein Hinterzimmer, wo eine Frau darauf beharrte, mit mir zu sprechen. Die Frau trug eine grüne Operationsmaske, sie sagte: «Hello, ich bin Faye Dunaway, ich fand den Film toll und habe als angehende Regisseurin eine wichtige Frage.» Sie wollte wissen, ob das abgetriebene Kind echt war oder bloss eine Puppe. Das hat mich etwas erschreckt, natürlich habe ich mit einer Puppe gefilmt und nicht mit einem toten Kind. Meine Antwort hat die Frau mit der Maske in Hochstimmung versetzt. Sie wollte sich sofort die Telefonnummer meines Maskenbildners aus Rumänien notieren. Um die Puppe auszuleihen.

Was hat Sie dazu bewogen, einen Film über Abtreibung im kommunistischen Rumänien zu drehen?

Das ist das grosse Thema meiner Generation. Mich gibt es nur wegen Ceausescu, per Dekret hatte er 1966 Abtreibungen verboten. Die Kinder meiner Generation nannte man «Decretei», Kinder des Dekrets. In der Klasse meiner vier Jahre älteren Schwester sassen 30 Kinder, und es gab nur drei Parallelklassen. Wir waren dann schon 44, und es gab zehn Parallelklassen, von A bis J. Das Dekret hatte einen Kinderboom ausgelöst. Wenn die Genossin «Cristian» rief, standen wir gleich zu acht auf.

Es geht Ihnen um die kommunistische «Ethik»?

Ob Abtreibung moralisch oder unmoralisch ist, wollte ich nicht abhandeln. Ich zeige die Abtreibung nur als illegales, höchst gefährliches Unternehmen. In der düsteren Epoche Ceausescus hatten die Frauen keinen Freiraum, um darüber nachzudenken. Angsterfüllt dachten sie nur an das Wie.

Der Film gehört zu Ihrem Projekt «Erinnerungen aus dem Goldenen Zeitalter». Werden Sie, nach dem Erfolg mit Ihrem aktuellen Film, an dem Projekt weiterarbeiten?

«4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage» habe ich gedreht, um das Projekt «Erinnerungen aus dem Goldenen Zeitalter» zu retten. Ich wollte zu Beginn eine Serie von Kurzfilmen über kommunistische Legenden drehen. Es sollten Filme über die komischen Auswirkungen einer «grossen Diktatur» auf den kleinen Menschen entstehen. Beim Schreiben habe ich aber zu zweifeln begonnen. Was, wenn die jüngeren Zuschauer den Witz der Erinnerungsperspektive stattdessen der kommunistischen Epoche an sich zuschreiben? Um dem vorzubeugen, habe ich diesen überaus ernsten Film gedreht. Jetzt, mit dem Erfolg, kann ich das ursprüngliche Projekt nur aus der Ferne koordinieren. Ich werde weiterhin die Drehbücher zu den Kurzfilmen schreiben, aber die Regie überlasse ich jüngeren Leuten aus Rumänien.

Viele europäische Regisseure zieht es in die USA. Lockt Sie Hollywood?

Nein. Mich locken zwar jetzt im Vorfeld der Oscar-Nominierungen allerlei US-amerikanische Agenten. Ich kann aber nur Themen bearbeiten, die mir naheliegen. Und die finde ich in Rumänien gerade zuhauf.