«Als ob ein Engel»: Was richtig und was falsch ist
Erich Hackl rekonstruiert die Geschichte von Gisi Tenenbaum, einer «Verschwundenen» aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur. Es stellt sich die Frage, ob sich der Kampf der jungen Frau eigentlich lohnte.
Fast am Schluss von Erich Hackls Buch über Gisela Tenenbaum, im zweitletzten der 28 kurzen Kapitel, scheint sich das Verhältnis zwischen Autor und Hauptperson plötzlich zu verändern. Erich Hackl schreibt jetzt nicht mehr in der dritten, sondern in der zweiten Person über die 1977 verschwundene Untergrundkämpferin. Nicht mehr bloss über Gisela oder Gisi Tenenbaum wird berichtet, sondern der Erzähler spricht die Protagonistin direkt an: «Erinnerst du dich an José Galamba?», fragt er, als ob Gisi noch Antwort geben könnte. «Erinnerst du dich?», um dann die Geschichte jenes Gefährten von Gisi zu erzählen, José Galamba, der bei derselben Razzia aufflog wie sie, am 8. April 1977, jedoch entkam und wahrscheinlich erst ein Jahr später getötet worden ist.
José Galamba hinterliess einen Brief an seine Kinder, 38 Seiten lang, in dem er ihnen versicherte, dass er sie «nie vergessen habe, und auch nie vergessen werde», dass er «bei allem, was er getan habe und tun werde, um ihr Glück sich bemühte» und dass dieses individuelle Glück «vom allgemeinen Glück nicht zu trennen sei». Der von den «Organen der öffentlichen Sicherheit» gejagte «Aufständische» Galamba schrieb schuldbewusst, laut Hackl, weil die Kinder noch zu klein waren, um ihn zu verstehen, zuversichtlich aber auch, dass sie ihn eines Tages verstehen würden: «Er verwendete in diesem Zusammenhang die Begriffe Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit. (…) Ferner Wörter wie Monopol, Religion, Ausbeutung, Sozialismus, Volk. Er gestand ihnen seine Liebe zu ihrer Mutter. Schnee sei gefallen, als sie sich zum ersten Mal geküsst hätten, dicke, schwere Flocken, und er habe Alicia seine Jacke über die Schultern gelegt.»
Nachdem die Militärs José Galamba dann erwischt, ihn zu Tode gefoltert und physisch zum Verschwinden gebracht hatten - über dem Atlantik ins Meer geworfen vielleicht, wie tausend andere, wie Gisela Tenenbaum - , gelangte der Brief in die Hände seiner Eltern. Schleunigst versteckten sie ihn, schlugen das Papier in Wachstuch ein, versorgten es in einen Kanister und vergruben es hinter dem Haus. Erst 25 Jahre später, nach dem Tod der Eltern, haben seine Geschwister den Abschiedsbrief ausgegraben und Galambas erwachsenen Kindern übergeben.
Eine vorbildliche Tochter
Gisela Tenenbaum, geboren 1955, gestorben mit 22 Jahren, hat weder Kinder noch schriftliche Erklärungen hinterlassen, aber zwei Eltern und zwei Schwestern. Lange Zeit wollte Gisis Familie an ihren Tod nicht glauben. Immerhin gab es ja keinen Leichnam, niemand hatte ihn gesehen, nicht einmal ihre Verhaftung war offiziell registriert. Nach Gisis Verschwinden trafen ausserdem ständig Hinweise und Gerüchte ein, die auf ein Überleben der jungen Frau hoffen liessen.
Zum Beispiel meldeten sich Leute und erklärten, Gisi getroffen zu haben. Jemand wollte ihr sogar regelmässig begegnet sein; einen Beweis blieben diese ZeugInnen schuldig. Als die argentinische Militärdiktatur 1983 nach sieben Jahren ein Ende nahm, waren mehrere zehntausend Menschen auf solche Weise verschwunden. Es erschien undenkbar, dass sie alle tot sein konnten. «Wenigstens ein paar hundert müssen in jedem Fall überlebt haben», sagte sich Giselas Mutter Helga Markstein damals: «Wo sind denn die geheimen Gefängnisse, in die man sie gesperrt hat. Man soll sie uns nennen. Wir holen sie da raus.»
Helga Markstein hatte sich auch während des Terrors getraut, öffentlich nach dem Verschwinden ihrer Tochter zu fragen. Aber von Gisi, der blonden und klugen, schönen und beispielhaften Revolutionärin sind bis heute nicht einmal die Knochen aufgetaucht.
Ein Wiener Emigrantenpaar
Helga und Willi Tenenbaum-Markstein, die Eltern, waren als jüdische Flüchtlinge aus Österreich in den dreissiger Jahren nach Lateinamerika gekommen. Er lernte Bauzeichner, sie Sekretärin; 1951 heirateten sie in Buenos Aires. Ihre drei Mädchen brachten die Tenenbaums in der argentinischen Provinzstadt Mendoza zur Welt, in die sie durch eine finanzielle Fehlinvestition geraten waren. Gleichzeitig begann das Paar eine Maturitätsschule zu besuchen, und gemeinsam studierten sie dann Medizin. Sie waren beide Linke, vom sozialistischen Wien der Vorkriegszeit geprägt, ihre Kinder erzogen sie nach humanistischen Prinzipien: mit grossem Respekt und mit einem nahezu unbeschränkten Vorschuss an Vertrauen. 1973 schlossen Helga und Willi das Medizinstudium ab. In Mendoza eröffneten sie eine ärztliche Praxis.
Aus der Sicht der Nachbarskinder gehörten die Tenenbaums zu jener Sorte von Eltern, von der man gewöhnlich nur träumt. Aus der Sicht der eigenen Kinder war es anscheinend genauso. «Wir alle hätten gern solche Eltern gehabt», sagt ein späterer Genosse von Gisi: «Die Achtung, die sie einem entgegenbringen. Davon könnte sich jeder etwas abschneiden.» Moralisch und politisch führten die beiden ein Haus, in dem man stets wusste, «was richtig und was falsch» war, sagt Heidi, die älteste Tochter. Das Richtige hatte etwas mit Solidarität zu tun, mit gesellschaftlicher Verantwortung, Gradlinigkeit und menschlicher Würde. Während Heidi sich selber für Politik kaum interessierte, habe Gisi das Vorbild der Eltern verinnerlicht. «Aber», sagt Heidi, «ich wurde deshalb nicht weniger geliebt.»
Der mehrdeutige Engel
Mehrmals taucht in der Beschreibung von Gisela Tenenbaum das Wort «Engel» auf. Einmal hat es mit ihrem Äusseren zu tun, mit den blonden Locken, den Sommersprossen, ihren blauen Augen. Und natürlich mit dem Charakter, ihrer Selbstlosigkeit, die am Schluss bis zur Selbstaufgabe geht. Alles scheint vorbildlich an diesem Mädchen, sei es in der Schule oder im Sport, wo sie Spitzenschwimmerin wird, sei es im Studium oder in der Studentenpolitik der kurzen, aber stürmischen frühen siebziger Jahre, einer Zeit utopischer Aufbrüche auch in Argentinien.
Ein anderes Mal hat die Beschreibung als «Engel» hingegen mit Gisis Tod zu tun, der von der Familie tabuisiert worden ist. Wie eine Art Engel, sagt ihr Schwager Oscar Mussuto, flattere Gisi bis heute zwischen Himmel und Erde herum. Eine Art Untote ist sie nach dieser Beschreibung, über die man in der Familie nicht offen sprechen darf. Oscar ist der Ehemann von Heidi, er hat Gisis Weg stets für falsch eingeschätzt. Nicht zu Unrecht fürchtete er, mit seiner Frau und den Kindern in etwas hineingezogen zu werden. Einmal schickte er die Schwägerin sogar fort, als sie auf der Flucht bei ihm Unterkunft suchte. Oscar ärgert sich, dass die Eltern Gisis politischer Radikalisierung einfach zuschauten, dass es für die Tenenbaums ganz unvorstellbar war, die Tochter von der einmal gewählten Überzeugung, von ihrer Kompromisslosigkeit und damit vom Weg ins Verderben abzubringen. Stattdessen haben diese Eltern später das eigene Leben riskiert, um Gisis Kampfgefährten zu verarzten oder sie im Kofferraum ihres Autos heimlich aus der Stadt zu fahren. Obwohl sie deren politische Meinung gar nicht teilten.
Einen «Soldaten» in sich tragen
Als im März 1976 in Argentinien die Generäle putschten, um die Opposition auszurotten, war Gisela Tenenbaum längst in der Illegalität. Ihr Freund Alfredo Escámez hatte sich an einem dilettantisch geplanten Attentat der Montoneros beteiligt, einer Guerillatruppe, und beide hatten untertauchen müssen. Auch die Todesschwadronen der Rechtsextremen waren 1976 längst unterwegs, um aufmüpfige StudentInnen zu liquidieren. Unter den Generälen wurde der Vernichtungsfeldzug gegen alles «Subversive» nun systematisiert. Bei gelegentlichen Treffen, die heimlich stattfanden, sagt die ältere Schwester Heidi, habe die pazifistisch erzogene Gisi inzwischen auf ihr Sturmgewehr verwiesen. Sie habe also «die Logik der andern» übernommen. Gisi, die einst so lustig und verspielt sein konnte, habe jetzt den «Soldaten in sich» getragen, sagt auch Mónica, die jüngere Schwester, die sich damit nicht abfinden will. Alfredo Escámez starb ein paar Monate vor seiner Freundin. Als er gefoltert wurde, hat er sie nicht verpfiffen.
Ganz am Anfang dieser traurigen, mit grösster Sorgfalt recherchierten und mit grösster Liebe montierten Erzählung spricht auch Erich Hackl von einem «Engel». Wenn Gisi plötzlich doch noch zurückkäme, stellt er sich vor, wenn sie die Türe aufstiesse nach dreissig Jahren und auf ihre Eltern zuginge, um sie zu umarmen: Es wäre, «als ob ein Engel vom Himmel käme». Doch so endet die Geschichte nicht, sondern damit, dass Gisi jedes Angebot der Familie ausschlägt, sie ins Ausland zu retten, weil sie das als Verrat ansähe.
Ob sich Gisis Kampf gelohnt habe, wird an einer Stelle der Vater gefragt. «In hundert Jahren», sagt Willi Tenenbaum sonderbarerweise, «wird man es wissen.»
Erich Hackl: Als ob ein Engel. Erzählung nach dem Leben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 170 Seiten. Fr. 31.90