Simone de Beauvoir (1908 - 1986): «Mein Werk ist mein Leben»
Am 9. Januar wäre die grosse französische Schriftstellerin, Philosophin und Frauenrechtlerin hundert Jahre alt geworden. Lotta Suter und Simone Marti beschreiben, wie Beauvoirs Bücher ihr Leben beeinflusst haben - und noch immer begleiten.
Maman de Beauvoir
Simone de Beauvoirs «Das andere Geschlecht» war schon geschrieben und ins Deutsche übersetzt worden, als ich auf die Welt kam. Doch niemand in meiner Umgebung kannte und diskutierte solche Bücher. Eltern, Onkel und Tanten waren alles Bauernkinder, die entweder solide Beamte oder aber Frauen von soliden Beamten geworden waren. Solch anständige kleinbürgerliche Kernfamilien der fünfziger Jahre hatten absolut keinen Bedarf für soziologische und philosophische Erklärungsversuche der menschlichen Existenz.
Erst die nächste Generation - meine Cousinen und Cousins, mein Bruder und ich - schaffte den Aufstieg an die höheren Bildungsinstitute. Wir besuchten das LehrerInnenseminar oder die Universität, wo in den siebziger Jahren alles und jedes und auch die eigene Lebensweise weitschweifig erklärt, gründlich analysiert und neu gedeutet wurde. Unter den weiblichen Studierenden vor allem wurde das ehemals Private politisch wichtig, und eine stille Saat ging endlich auf: Wir jungen Feministinnen lasen jetzt Simone de Beauvoir, und Beauvoir ihrerseits wurde eine Aktivistin der neuen Frauenbewegung.
Vermutlich gibt es Menschen, die «Das andere Geschlecht» von A bis Z studiert haben (941 Seiten in der 2000er-Taschenbuchausgabe von Rowohlt). Doch die meisten haben wohl so wie ich die Stellen über die Reproduktion von Fischen und Fröschen, das persische Eherecht und die Anatomie der Geschlechter («Das Geschlechtsteil des Mannes ist sauber und einfach wie ein Finger … Der weibliche Geschlechtsteil ist für die Frau selbst geheimnisvoll, versteckt, qualvoll, schleimig, feucht») kursorisch überflogen. Beauvoirs Buch war für uns eine Bibel, deren Inhalt wir in den Grundzügen kannten und die neben historisch beschränkten, unverständlichen und sogar ärgerlichen Stellen markante und gut zitierbare Ideen aufwies, wie: «Man wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht».
Anders als andere bekannte Feministinnen, die hier nicht namentlich genannt werden sollen, war Simone de Beauvoir nicht bloss intellektuell anregend, sondern auch schön und elegant. Sie hatte Charme und ein interessantes Liebesleben. Sie war politisch radikal, befolgte aber konventionelle Anstandsregeln und verkehrte wie meine französischsprechende Grossmutter selbst mit ihrem Lebenspartner in der Höflichkeitsform. Viele von uns Achtundsechzigerinnen, die wir uns gedanklich so weit von der Welt unserer Eltern entfernt hatten, adoptierten die Beauvoir, die so eindringlich vor der «Weiblichkeitsfalle» der biologischen Mutterschaft gewarnt hatte, kurzerhand als Ersatz-Maman.
Noch als ich 1983 die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Laure Wyss (1913 - 2002) interviewte, hatte ich klar ihre berühmte Zeitgenossin Simone de Beauvoir im Kopf. Die Vergleiche und Bezüge der jungen WOZ-Redaktorin wirken heute etwas aufdringlich - und doch: Laure Wyss hat meinen Zugang sogleich verstanden. Auch für sie war «Das andere Geschlecht» eine wichtige Lektüre, auch sie fand die Beauvoir brillant. So brillant, sagte sie, dass sie den Vergleich ein wenig scheue.
Daraufhin sprachen wir über Laure Wyss' eigenes «Doppelleben» als Berufsfrau und alleinerziehende Mutter, ein Thema, das die Interviewerin, selbst Journalistin mit einer vierjährigen Tochter, brennend interessierte. Wir schreibenden Mütter einigten uns darauf, Simone de Beauvoir in einem Punkt - dass Kinderhaben generell eine Emanzipationsbarriere bedeute - zu widersprechen. Die französische Philosophin hatte sich früh und radikal eine sozusagen geschlechtsneutrale Biografie erkämpft. Laure Wyss ermutigte mich, noch kühner zu sein und das Leben als Frau exponiert zu wagen.
Alles vom Leben
Die Bücher standen im Büchergestell zu Hause und waren dick. Schlichter Umschlag, nur der Name der Autorin - Simone de Beauvoir - und die Titel: «Das Alter», «Sie kam und blieb», «Alles in allem». Die Titel kurz, prägnant, die Themen jedoch riesig: vom Altern, vom Gehen also. Vom Kommen und Bleiben. Von allem. Alles. Die Bücher, da war ich überzeugt, bargen Antworten auf die relevanten Fragen des Lebens, welche das auch immer gewesen sein mögen, damals in meinem Teenagerkopf.
Ich las zuerst den Roman «Sie kam und blieb». Der erste Satz: «Françoise blickte auf.» Am Ende: «Françoise war allein.» Und dazwischen gibt es «kämpfende Muster einer Zimmertapete», «ein Theater mit einem lebendigen Herz» und «schüchternes Nachtlicht». Antworten fand ich nicht. Aber da war und ist heute noch dieses Gefühl beim Lesen ihrer Bücher, dass «alles» - alles Lebensrelevante - berührt wird. Beauvoir schreibt knappe, karge, harte Sätze. Und gleichzeitig benutzt sie Ausdrücke, die Objekte zum Leben erwecken. Sie spielt mit scheinbar Unvereinbarem, sie benutzt das Gegensätzliche als sprachliches Stilmittel. Gerade so, als wolle sie alles.
Der Roman spielt in der Pariser Theaterszene. Eine Frau und ein Mann wollen eine Beziehung leben, die auf grösstmöglicher Freiheit basiert. Eine sehr junge Frau kommt neu zum Theater. Aus der Zweier- wird eine Dreierbeziehung. Und damit kompliziert. Beauvoirs eigene Beziehung - die mit Jean-Paul Sartre - beruhte auf dem Grundsatz der Freiheit. Die Beziehung, so der Pakt zwischen ihnen, sei eine notwendige, eine lebenslange. Andere Lieben, zufällige, sollten jedoch auch gelebt werden. Beauvoir lebte das Notwendige und das Zufällige. Gerade so, als wolle sie alles.
Als die Gräuel des Zweiten Weltkrieges an die Öffentlichkeit drangen, schrieb sie in ihren Memoiren: «Plötzlich ergriff die Geschichte von mir Besitz, ich zerbarst und fand mich über die ganze Welt verstreut wieder …» Sie wurde politisch aktiv. Ein Schriftsteller, so Beauvoir, sei «moralisch verpflichtet, Partei zu ergreifen und sich in den Kämpfen dieser Welt zu engagieren». 1949 erschien der Essay «Das andere Geschlecht». Die Frage: «Was ist eine Frau?» Die Antwort: «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.» Das Werk ist eine akribische wissenschaftliche Untersuchung. Zugleich aber ist da ein Ich, das spricht, Stellung bezieht, Partei ergreift: In einem Interview über dieses Werk erklärte Beauvoir beispielsweise, dass die «Familie abgeschafft», dieses «Hausfrauen- und Mutterghetto» ersetzt werden müsse.
Die Familie - ein Ghetto! Eine solche Aussage rüttelt auch hier und heute wieder an den erstarkenden - erstarrten? - konventionellen Vorstellungen, wie eine Gesellschaft auszusehen hat, wie ein Leben zu führen ist. Beauvoir selbst konnte übrigens nicht kochen. Und sie hat lange Zeit in Hotels gelebt. Meist auf dem gleichen Stock wie Sartre. In einem eigenen Zimmer. Er konnte auch nicht kochen. «Das andere Geschlecht» ist wissenschaftlich und politisch, ist gelebtes Leben. Gerade so, als wolle sie alles.
Beauvoir mischte sich in weitere Kämpfe dieser Welt ein: Sie protestierte gegen den Vietnamkrieg, gegen den Algerienkrieg, demonstrierte 1968 mit den Studierenden und unterschrieb ein Manifest, in dem sie sich öffentlich der Abtreibung bezichtigte. In ihren Memoiren steht: Politisches Engagement, das sei nichts anderes als «die totale Identifizierung des Schriftstellers mit dem, was er schreibt». Total. Alles. Es ist das, was mich fasziniert: die Verknüpfung von Leben, Schreiben und Politik. Dieses Alles.
Sie schreibt in einem Brief an den Schriftsteller Nelson Algren, den sie liebte: «Ich möchte vom Leben alles. Ich möchte eine Frau, aber auch ein Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein … Sehen Sie, es ist nicht leicht, alles, was ich möchte, zu bekommen. Und wenn es mir nicht gelingt, werde ich wahnsinnig zornig.»
Lotta Suter, Jahrgang 1952, studierte Philosophie und Publizistik, sie ist Mitbegründerin und langjährige Redaktorin der WOZ. Heute lebt sie in der Nähe von Boston.
Simone Marti, Jahrgang 1979, studiert Soziologie an der Universität Bern und arbeitet beim HEKS im Flüchtlingsbereich.
MONIKA PELZ: «Simone de Beauvoir». Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2007. 160 Seiten. Fr. 14.50.
ALICE SCHWARZER: «Simone de Beauvoir - Ein Lesebuch mit Bildern». Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 2007. 325 Seiten. Fr. 34.50.
INGEBORG GLEICHAUF: «Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre». dtv. München 2007. 300 Seiten. Fr. 15.90.
HANS-M. SCHÖNHERR-MANN: «Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht». dtv. München 2007. 240 Seiten. Fr. 25.90.
TV-TIPP: «Der Liebespakt - Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre»: Fr., 11. Januar, 21 Uhr, auf Arte.
Radikale Tochter aus gutem Hause
«Ich bin am 9. Januar 1908 um vier Uhr morgens geboren, und zwar in einem Zimmer mit weiss lackierten Möbeln, das nach dem Boulevard Raspail zu lag. Auf Familienfotografien, die aus dem folgenden Sommer stammen, sieht man junge Damen in langen Kleidern und straussfedergeschmückten Hüten sowie Herren mit 'Kreissägen' und Panamas auf dem Kopf, die einem Baby zulächeln; das sind meine Eltern, mein Grossvater, meine Onkel und Tanten - und ich.»
Dies schreibt Simone de Beauvoir in «Mémoires d'une jeune fille rangée», 1958 («Memoiren einer Tochter aus gutem Hause», 1960), dem ersten Teil ihrer vier Bände umfassenden Memoiren. Nebst ihren philosophischen Essays und Romanen machen diese Lebenserinnerungen den dritten Strang ihres gesamten Werks aus.
Die Tochter aus gutbürgerlichem Hause beginnt 1926 an der Pariser Universität Sorbonne, wo sie auch Jean-Paul Sartre kennenlernt, mit dem Studium der Philosophie. Mit 21 Jahren schliesst sie mit dem drei Jahre älteren Sartre einen Pakt, der besagt, dass es sich bei ihrer Liebe um eine notwendige handle, die nicht infrage gestellt werden dürfe und lebenslang Priorität haben solle, gleichzeitige «Zufallslieben» aber nicht ausschliesse. Nach diesem Pakt leben die beiden bis zu Sartres Tod 1980.
Schon als Mädchen hat Beauvoir den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. 1943 veröffentlicht sie ihren ersten Roman «L'invitée» («Sie kam und blieb», 1953), der grosses Aufsehen erregte. In diesem existenzialistischen Roman verarbeitet sie die Dreiecksbeziehung zwischen ihr, Sartre und einer Geliebten Sartres. Danach ist sie als freie Schriftstellerin und ab 1945 als Mitarbeiterin der von Sartre gegründeten Zeitschrift «Les Temps modernes» tätig.
1949 erscheint ihr Essay «Le deuxième sexe» («Das andere Geschlecht», 1951), der in dem Kernsatz gipfelt: «Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.» Der Essay wird zu einer Art Bibel der neuen Frauenbewegung der siebziger Jahre und gilt als einer der radikalsten und visionärsten Beiträge zur Emanzipation der Frauen im 20. Jahrhundert. Beauvoir selbst wurde durch diesen Text zur Skandalfigur: «Man warf mir vieles vor: eigentlich alles! Vor allem meine Unanständigkeit», schreibt sie in ihrem dritten Memoirenband «La force des choses», 1963 («Der Lauf der Dinge», 1966).
Ihren grössten literarischen Erfolg erzielt Beauvoir 1954 mit dem Roman «Les mandarins» («Die Mandarins von Paris», 1955). Das Buch gilt als Schlüsselroman zur Situation der Linksintellektuellen im Nachkriegsfrankreich. Beauvoir setzt sich aktiv gegen Frankreichs Kolonialherrschaft und für ein unabhängiges Algerien ein, solidarisiert sich mit der Studentenbewegung und engagiert sich ab 1970 aktiv in der neuen Frauenbewegung. 1967 kommen mit «La femme rompue» («Eine gebrochene Frau», 1969) ihre letzten fiktiven Erzählungen heraus; das Schreiben von fiktiver Literatur erscheine ihr nur noch eitel, sagt sie. Mit zunehmendem Alter beschäftigt sie sich in ihren Essays mit dem Älterwerden und dem Tod. - Am 14. April 1986 stirbt Simone de Beauvoir im Alter von 78 Jahren in Paris. Was bleibt, ist ihr Werk, von dem sie einmal sagte: «Mein Werk ist mein Leben.»