Morro de la Coroa: Die Zebrafreunde und ihre grossen Brüder

Nr. 7 –

Rio de Janeiro, gerne als Inbegriff brasilianischer Lebensfreude wahrgenommen, geht allmählich vor die Hunde. Die Armut nimmt zu, die Gewalt ebenfalls. Zum Glück und zum Trost gibt es den Fussball.

Nein, weiter wirklich nicht. Der Taxifahrer hält und rechnet ab, mit entschlossenen Bewegungen. Bis hier hin, den Rest dann alleine. Vor dem Wagen ragt eine steiler Felsen aus der Senke, in die wir vom hübschen Künstlerviertel Santa Terésa hinabgefahren sind. Links führt die Strasse weiter bergab; die Gebäude, die sie säumen, stammen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, ihre Pracht ist vergilbt und bröckelt. Rechts ein kleiner Gemischtwarenladen, vor dem alte Männer ihre Tage bei Kaffee und Bier verbringen. Ein paar Autos warten im hohen Gras auf die längst fällige Reparatur.

Die Strasse ist aus grobem Kopfstein, neben einem Markt johlen zwei Jugendliche, beide noch in der Pubertät. «So eine wie ich hat keiner», brüllt der eine, es klingt angetrunken. Er schwenkt seine Kalaschnikow und tanzt im Kreis. Freundlich grüssen, vorbeigehen.

Der Eingang zum Morro de la Coroa, einer jener gut bewaffneten Favelas von Rio de Janeiro, ist eine schmale Gasse zwischen geziegelten Häusern. Sie führt steil bergan, die Häuser sind dreistöckig, sie wachsen mit der Familie gen Himmel. Die beiden Jugendlichen, die hier offenbar wachen, sind für einen Moment still. «Schau dich nicht um», warnt Monique Santos, die Kontaktfrau. Ohne sie kämen wir keinen Meter weiter, wer keine Kontakte in die Favela hat, wer nicht von bekannten Gesichtern eskortiert wird, kommt nicht an der Wache vorbei. Monique zieht den Kopf ein und geht rasch voran; sie ist hier geboren.

Die Amigos de Zebrão

Weiter oben treffen wir Juan, gerade zehn Jahre alt, spindeldürr und mit grünem Buschwerk auf den Schultern, Taioba, ein traditionelles Gemüse mit übergrossen, spinatähnlichen Blättern, das langsam vom Speiseplan verschwindet. Vom Verkauf muss die Familie leben. Der Weg führt an anderen Jugendlichen, nur wenig älter, vorbei. Sie lungern auf ausrangierten Autositzen an einer dunklen Weggabelung – mit automatischen Gewehren, Zielfernrohren und klobigen Revolvern. Ein roter Punkt huscht ein paar Meter an der Hauswand mit. Vor ein paar Tagen verlor hier ein Strassenfeger seinen Arm. Ein paar Jungs von gegenüber hatten geschossen.

Juan übergibt die beiden Büsche seinem Vater und holt sein Trikot. Hier oben heisst Juan wie die Blätter, die er verkauft: Er ist Taioba, der Torwart in gelbem Hemd. Auf dem Balkon über dem Platz wartet neben trocknender Wäsche schon ein Kollege in Kluft: Um sieben ist Training, alle sind pünktlich.

Taioba und seine Kumpel trainieren oben in der Coroa, hinter dem Kiosk von Nicinho, auf einem von Wänden eingefassten Betonplatz direkt unter der Bergspitze. «Amigos de Zebrão», die Freunde des Zebras, heisst eine kleine Fussballschule, zu der sie sich viermal die Woche treffen. Eine Stunde mit den Kleinen bis zehn Jahre, dann die Kinder bis dreizehn. Beton und Wände haben sie grün gestrichen, ebenfalls grüne Netze sollen verhindern, dass die Bälle den steilen Fels hinabkullern. Auf Hilfe von der Stadtverwaltung dürfen sie nicht hoffen; sie halten den Platz in Eigenregie und mit Hilfe von Freunden in Schuss. Am Dach des hoch aufragenden Nachbarhauses hängen Baulampen, das Training findet unter Flutlicht statt und nur bei Regen gar nicht. Am hinteren Ende des Platzes steht ein Notausgang immer offen. Für alle Fälle.

Fussball das Mittel, Respekt das Ziel

Das Training leiten Marcus, Ronny und der breit gebaute Luis Claudio, den alle Bugalú rufen. Sie gehören zu den ursprünglichen Zebras, einer Mannschaft, die vor zwanzig Jahren in der Coroa zusammenfand, einem Strassenteam, das sich bald gegen andere Favelamannschaften behauptete. Alle drei sind in der Coroa aufgewachsen, heute Mitte dreissig und haben Familie. Sie arbeiten in einer Bank, in einem Import-Export-Büro und als Strassenwärter – doch das scheint eher nebensächlich. Noch immer lachen sie am liebsten über die alten Geschichten der Zebras und zeigen später beim Bier gelbstichige Fotos mit den gewonnenen Preisen. «Uns konnte keiner», sagt Bugalú mit dem Blick auf das Bild mit einem grossen Pokal.

Und heute? Heute zeigen sie dem Nachwuchs, was sie sich selber erarbeiten mussten. «Für die Kleinen sind wir Trainer, Väter und Lehrer in einem», sagt Ronny, «Respektspersonen eben.» Daran mangele es hier sehr. «Und grosse Brüder», ergänzt Marcus. Denn das mit den grossen Brüdern ist oft so eine Sache.

Seit sechs Jahren trainieren die drei den Nachwuchs aus der Favela. Aber die Fussballschule ist noch mehr als Ballstoppen und Taktikschulung; ihr eigentliches Herz ist etwas, das man eine zivilisierte Alternative mitten in dem Krieg nennen könnte. Bugalú, Ronny und Marcus achten auf gute Manieren, schauen, ob die Schulaufgaben erledigt werden, reden mit den Kindern in einer Form, die diese kaum noch gewohnt sind. Vor allem geht es um Respekt, um Anerkennung und Bestätigung. Denn die Dinge sind aus dem Ruder gelaufen, die Dinge haben sich gewandelt. Und die grossen Brüder sind oft mittendrin.

Vor sieben, acht Jahren, erzählt Bugalú, war es verpönt, Waffen offen auf der Strasse zu zeigen; Kinder hätten die gleich gar nicht in die Hände zu bekommen. Wenn jemand Gras rauchte und eine Senhora kam vorbei, hielt man so lange den Atem ein, bis die ausser Sichtweite war. Monique, heute 28 Jahre, erinnert sich, wie sie als Kind von einem der Gangster eine Kopfnuss bekam: Was sie denn zu später Stunde auf der Strasse zu suchen habe? Ab nach Hause, Kleine, und zwar schnell. «Das ist vorbei», sagt Marcus und schüttelt bedächtig den Kopf. Wenige Augenblicke später tippt ein vielleicht Fünfzehnjähriger dem Reporter auf die Schulter, er will vorbei und bei Nicinho eine Schachtel Zigaretten kaufen. Über der Schulter trägt er eine silbernfarbene Uzi, eine israelische Maschinenpistole.

Wer quer kommt, muss einpacken

Heute geben Marcus und Ronny beim Training die Kommandos. Die Auslinie ist das nächste Haus, eine glatte Wand. Bugalú steht in der Ecke, wo zwei schrankgrosse Kammern unter einen Treppenaufgang führen. Es riecht nach Kot, ausserdem lagert hier schon zu lange ein Sack mit Guaven. Bugalú kommentiert, kritisiert, korrigiert, lobt. Warmlaufen, Ballstafetten, Dribbling.

Draussen, ausserhalb des hell erleuchteten Rechtecks, sind die grossen Brüder mit den Gewehren ein wesentlicher Orientierungspunkt im engen Mikrokosmos der Favelas. Sie geben den Ton an, nehmen und geben, wie es ihnen passt, und der Ton ist heute ein anderer als noch vor zehn Jahren. Bandidos sind es, in unterschiedliche Kommandos zusammengefasst, reich durch Drogenhandel. Sie sind die Organisatoren der Favelas. Wer ihnen quer kommt, sollte schnell seine Sachen packen, Familie und FreundInnen gleich dazu. In den Favelas hört man von Foltermethoden und Spässen, deren Grausamkeit an der menschlichen Moral zweifeln lassen.

Vor zehn, fünfzehn Jahren hielten diese Kommandos noch die Gemeinschaften zusammen, organisierten eine Sozialstruktur, verteilten den Gewinn, achteten auf die Bildung der Nachkommenden. Heute regiert, wer die grössere Waffe trägt, brutaler ist. Konsumgesellschaft, die korrupten Eliten, das vernachlässigte Bildungssystem, die neoliberale Wirtschaftsidee: Es gibt viele Gründe für Wertewandel und Verwahrlosung, für die wachsende Brutalität und die arg beschränkten Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs. Einer davon liegt auch in der langen Geschichte von fehlendem politischem Interesse. Diesem übermächtigen Wandel setzen die Amigos de Zebrão die archaischen Prinzipien des Sports entgegen. Eine Intuition eher, nichts war geplant oder durchdacht. Eine rasche Idee, geboren aus dem Unwillen, die Dinge einfach laufen zu lassen.

«Wenn früher ein Bandido starb, zogen hier alle zur Beerdigung, es herrschte Trauer», erzählt Monique. «Wenn heute einer stirbt, atmen die Menschen auf.» Heute, sagt sie, zählen Geld und Machtsymbole; die sozialen Funktionen der Kommandos seien gänzlich verschwunden. Geblieben sind die Namen, «das rote Kommando», «die Freunde der Freunde» – leere Reminiszenzen an den pseudo-sozialistischen Charakter, den sich die Mafia bis vor zehn Jahren noch zuschrieb.

Und doch, die Verlockung ist eindeutig: Wo Elend den Speiseplan diktiert, nimmt man auch mal einen Gefallen von Leuten an, die offensichtlich alles tun können. Wer die Miete nicht zahlen kann, kein Essen für die Familie hat, spielt früher oder später mit dem Gedanken, den sichtbar wohlhabenden Nachbarjungen um etwas zu bitten – und dafür kleine Botengänge oder Wachdienste zu übernehmen. «Was sollen sie auch tun?», fragt Bugalú. «Nur ganz wenigen Familien steht ein Monatslohn zur Verfügung. So viel Geld verdienen fünfzehnjährige Bandidos in der Woche.» Viele Erwachsene kommen selbst dann, wenn sie zwei Jobs haben, nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 380 Real, umgerechnet knapp 240 Franken.

Die bankrotte Stadt

Rio de Janeiro ist eine geschundene Stadt. Infrastruktur und Lebensgefühl sind zerrieben von Korruption, Armut, Drogen und Gewalt; am Leben gehalten wird sie von Gleichmut und den Mythen der Vergangenheit. Zwischen der Postkartenidylle und dem Leben eines Grossteils der Bevölkerung, zwischen den Erinnerungen an die goldene Zeit mit Bossa Nova, kolonialer Pracht und Zukunftshoffnung auf der einen und der Realität auf der anderen Seite klaffen immer grössere Lücken. Paramilitärisch organisierte Polizeitruppen führen Krieg gegen bis an die Zähne bewaffnete Jugendliche. Gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber versuchen immer wieder, bis in die verästelten Favelas vorzudringen. Ein Leben zählt nichts, auf keiner Seite. Die Zahl der gemeldeten Überfälle an den Prachtstränden von Copacabana, Ipanema und Leblon stieg im letzten Jahr um bis zu 51 Prozent. Pro Jahr sterben laut offiziellen Angaben über 6000 Menschen einen «unnatürlichen Tod».

Die Wirtschaftskraft von Rio lässt nach, gleichzeitig wächst das Gefälle zwischen Arm und Reich. Das städtische Bildungswesen gerät immer mehr ins Hintertreffen. Seit Jahren schon wandern Industrie und Dienstleistungsfirmen ab. Seit Jahren nimmt die Zahl der informellen Arbeitsverhältnisse zu – Schätzungen zufolge arbeiten zwischen vierzig und sechzig Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in diesem ungeschützten, vertraglich nicht geregelten und offiziell nicht vorhandenen Sektor. Für die Armen werden die Lebensbedingungen zunehmend prekärer. Umso wichtiger ist Fussball in den Armensiedlungen Brasiliens, der immer noch den gesellschaftlichen Aufstieg verspricht. Doch der Ausbruch aus der Favela gelingt nur selten. Moniques Weg, ein Studium zu absolvieren und ein Auslandssemester in Barcelona zu verbringen, ist eine Rarität.

Zwei Flaschen Bier im Monat

Die Coroa ist eine kleine Favela im Norden mit vielleicht 7000 BewohnerInnen, so genau weiss das niemand. In den Unterlagen des zuständigen Ministeriums der Prefeitura, der Stadtverwaltung von Rio, finden sich keine Informationen. Die Coroa hat keine Krankenstation, keinen Arzt, zwei Polizisten schauen schüchtern über den Platz – sie haben hier nichts zu melden. Von oben blickt man auf das Zentrum von Rio, nachts glitzert die Stadt verlockend und scheinbar friedlich die Berge hinauf.

Etwa fünfzehn Kids sind heute Abend gekommen, komplett gekleidet in grünrote Trikots und mit Schienbeinschonern in ausgewaschenen Stutzen. So gross der Rückhalt der Fussballschule in der Favela auch ist, die Unterstützung der Eltern ist dürftig. Selten einmal schaut ein Vater seinem Sohn beim Training zu, an der Organisation beteiligt sich so gut wie niemand. Nur auf Nicinho, den Imbissmann in seinem Kiosk, ist Verlass. Er versorgt die Mannschaften bei einem Turnier manchmal mit Hot Dogs. Dabei hat er selber keine Kinder.

Fünf Real, rund sechzig Rappen, kostet das Mitmachen im Monat. Davon werden Bälle gekauft, Trainingsutensilien, Ausrüstung. Von den fast sechzig Kids, die das Trikot der Zebrafreunde tragen, zahlen jedoch nur wenige den Beitrag. «Im letzten Monat wars nur einer», ruft Bugalú in die Runde. Fünf Real sind zwei Flaschen Bier.

Platzverweis für Fluchen

Taioba grinst. Ausserhalb der Trainingsstunde sei er im Moment selten so fröhlich, erzählt Bugalú. Seine Mutter ist vor ein paar Wochen gestorben. Zum Spiel hat er sich unförmige Knieschoner angelegt und beschäftigt sich während des Spiels vor allem damit, die Dinger die dürren Beine hochzuschieben. Etliche Schuhe seiner Kollegen haben ursprünglich grössere Besitzer gehabt, manchen reichen die Stutzen weit über die Knie.

Aber sie spielen.

Für ein paar Stunden ist der abgeschabte Betonplatz ihre Welt aus schnellen Täuschungen, ungenauen Pässen, kindlichem Jubel, flüchtigem Heldentum. Taioba wirft seine zu rasch gewachsenen Beine nach vorn; der etwas übergewichtige Abner schiebt seinen Bauch die Aussenlinie entlang und kämpft kurz mit den Tränen. Wieder hat er, nicht geschaut, der Pass ging ins Leere. Bugalú redet leise von der Unschuld, die sich hier austoben kann; Marcus bittet darum, die Bälle nicht ständig gegen die Wände zu schiessen – sie sind kostbar, und die meisten haben ihr Haltbarkeitsdatum bereits überschritten. Ronny droht jedem Fluchenden mit dem vorzeitigen Nachhauseweg – vermutlich das Schlimmste, was einem jetzt passieren kann.

Unter den Kindern sind einige Talente. Jackson ist sechs Jahre alt und deutlich kleiner als die anderen. Beim 4:4 führt er den Ball viel sicherer als die meisten der Älteren. Die Grossen, die sich weniger in ihren wachsenden Körpern zurechtfinden, trickst er mit wuseligen Windungen aus. Seinen Vater kennt er nicht, fünf Geschwister hat er noch, und zu Hause reicht das Essen nie.

Daniel spielt meistens in der Gegenmannschaft. Mit hochgezogenen Schultern, ernster Miene und schnellen Pässen versucht der Siebenjährige das Spiel zu öffnen. Den Übersteiger mit Körperdrehung hat er von Zinedine Zidane abgeschaut. Daniel und Jackson wissen, dass sie ihren Altersgenossen etwas voraus haben, sich auch vor den Älteren nicht verstecken müssen. Allerdings wachsen sie langsamer als die Kollegen, sind ihnen körperlich unterlegen. Mangelernährung. «Aus denen könnte etwas werden», sagt Bugalú und lässt seinen Blick nicht vom beharrlichen Dribbling, das Jackson vorantreibt. «Wenn sie nur einen anderen Hintergrund hätten.»

Aufstieg per Seilbahn

«Die Carioca leben in einer Art Schizophrenie», sagt der Soziologe Paolo Magalhaes. Mit Carioca sind die BewohnerInnen von Rio de Janeiro gemeint. Sie sind geradezu versessen auf die Kultur aus den Elendssiedlungen. «Samba, Karneval, Mode und Fussball haben sich in der Favela entwickelt. Gleichzeitig verabscheuen die Carioca die Favela wie die Pest. Sie würden sie lieber heute als morgen loswerden.» Längst scheint Rio mehrheitlich aus Favelas zu bestehen. Auf rund 700 solcher Comunidades Carentes kommt die Stadt, schätzen nichtstaatliche Organisationen. Paolo Magalhaes arbeitet für die Caixa, die Bank der öffentlichen Hand, an Urbanisierungsprojekten.

Seit Anfang der neunziger Jahre plant man in Rio die Urbanisierung der Elendsquartiere. «Favela upgrading» nennen die Vereinten Nationen diese Strategie in ihrem letzten Bericht «Zur Lage der Städte der Welt». Sie löste die Idee vom Plattwalzen der Elendssiedlungen ab – und wird lange brauchen, bis sie im kollektiven Bewusstsein der Carioca angekommen ist.

«Heute sind wir immerhin einen Schritt weiter», sagt Magalheiro, «wir entwickeln auch Strategien zur wirschaftlichen und sozialen Einbeziehung der Bewohner.» Nach Jahren, in denen man glaubte, die Favelas mit etwas Strom, Wasser und geteerten Strassen zum Teil der Stadt machen zu können, sollen jetzt auch die Menschen einbezogen und ausgebildet werden. Die Regierung von Luiz «Lula» Ignacio da Silva entwarf ein 550-Millionen-Franken-Programm. Doch die Übergabe des Bundesministeriums für Stadtentwicklung an die konservativen Koalitionspartner stoppte die Pläne. Seither, sagt Magalhaes, «ist nicht mehr viel geschehen».

Gegenwärtig setzt die Regierung auf Mobilität und Zugang. Eine grosse Seilbahn soll Siedlungen im Norden verbinden. Die steile Felsnase zwischen den Touristenstränden von Copacabana und Ipanema, auf der Tausende in der Favela Cantagalo wohnen, bekommt einen gigantischen Aufzug aus Glas und Stahl. «Die Idee ist grundsätzlich nicht falsch», meint Magalheiro und vergisst nicht zu erwähnen, dass die Planungen auch deshalb so rasch voranschreiten, weil sich private Firmen viel von den Ausschreibungen erhoffen. Andererseits, sagt er, wären gute Schulen und ein funktionierendes Gesundheitssystem vielleicht wichtiger.

Auch Bugalú und Ronny stehen den neuen Ideen skeptisch gegenüber. Sie haben schon zu viele Programme und PolitikerInnen kommen und gehen sehen. Am Ende laufe es doch immer auf dasselbe hinaus, sagen sie und machen stumm eine greifende Handbewegung: Unsichtbares verschwindet ganz schnell in ihren Hosentaschen.

Vier Seitenwechsel

Oben in der Coroa kommen nun die Älteren aufs Feld. Jackson, Daniel und auch Taioba bleiben. Sie strecken sich die Hände zum High-Five entgegen. Marcus und Bugalú zählen zusammen, dass in den vergangenen sechs Jahren vier Kinder die Seite gewechselt haben und jetzt zu den Bandidos gehören. Nun laufen sie mit gesenktem Haupt an den Trainern vorbei.

«Sie schämen sich», sagt Bugalú traurig. Das Einstiegsalter ist in den letzten Jahren rapide gesunken. Mit zwölf Jahren werden sie heute als Kuriere oder Aufpasser rekrutiert. In der Coroa behalten sie zumindest den Respekt vor den Zebrafreunden: Das kleine Spielfeld ist ein geschützter Raum – manchmal schauen durch den Zaun welche zu, die ein Gewehr in der Hand tragen.

Das Training ist vorbei. Taioba, Jackson, Abner und die anderen verabschieden sich per Handschlag, witzeln unbarmherzig über den Akzent des Reporters und tollen über den Platz vor Nicinhos Kiosk. Die Polizisten sind längst gegangen, es ist spät geworden. Ein paar Kartenspieler sitzen noch unter der Plane, bei Nicinho wird das Bier knapp. An der Hauswand lehnt ein Jagdgewehr, der Besitzer raucht stumm eine Zigarette. Der Weg hinab ist fast unbeleuchtet. Unten, am Eingang der Coroa, steht einer im Halbdunkel und verfolgt alle Bewegungen durch das Zielfernrohr seines Schnellfeuergewehrs.

Freundlich grüssen, vorbeigehen, nicht umschauen.







Die Wachstumsfaktoren

In Rio de Janeiro gibt es laut Schätzungen nichtstaatlicher Organisationen (NGO) zwischen 650 und 700 Favelas. Der Begriff entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als für den Opern-Boulevard nach Pariser Vorbild eine Armensiedlung plattgemacht wurde. Die BewohnerInnen flüchteten sich in die Hügel, die mit dem Favela-Busch bewachsen waren.

In den sechziger und siebziger Jahren zogen Tausende aus dem Norden und Nordosten des Landes nach Rio – Brasilien wandelte sich vom Agrarland zu einem urbanisierten Staat (Anteil der Stadtbevölkerung im Jahre 1970: 45 Prozent; im Jahre 2000: über 81 Prozent). Mittlerweile leben in den Favelas von Rio nach offiziellen Angaben rund 1,1 Millionen Menschen. ExpertInnen zweifeln jedoch an dieser Zahl; der Zensus sei schlampig erhoben, ein Grossteil der ärmsten Bevölkerung nicht erfasst. Und die Favelas wachsen weiter. Allerdings spielt Landflucht längst nur eine untergeordnete Rolle: Zunehmend siedelt sich auch die untere Mittelklasse dort an, getrieben von Teuerungsraten, Billiglöhnen und Arbeitslosigkeit. Ausserdem ist die Geburtenrate astronomisch hoch – einerseits, weil Religiosität und männliche Sexualpraktik Kondome nicht zulassen, andererseits, weil die oft zwölf- und dreizehnjährigen Mädchen als schwangere Frauen Respekt und Schutz erfahren.

Kulturelle Praktiken wie der Baile Funk, lärmende Tanzveranstaltungen mit sexuell aufgeladenem Charakter, sorgen beständig für Nachwuchs; Tanz und Geschlechtsverkehr gehen da oft ineinander über. Und so sind die Väter meist unbekannt. Immerhin bietet Schwangerschaft für viele Frauen die vage Hoffnung auf soziale Absicherung durch die Bandidos, die ein einigermassen stabiles Einkommen haben.

Die kleinsten Favelas in Rio bestehen aus ein paar Hütten, über Nacht aus Abfall und Ausschuss zusammengebastelt. In der grössten, dem mittlerweile zusammengewachsenen Komplex der Maré im Nordosten der Stadt, leben etwa 200 000 Menschen. Sie zählt zu den grössten Armutssiedlungen Lateinamerikas.

Die Mehrheit der Favela-BewohnerInnen arbeitet im informellen Sektor oder lebt von den dürftigen Sozialleistungen des Staates. Frauen verdienen als Putzhilfe, Coiffeuse oder mit Maniküre ein paar Real dazu; Männer bauen, basteln, reparieren, verkaufen. Die grösseren Favelas beherbergen oft eine Vielzahl von Produktionsstätten – von Garagen über kleine Schuhfabriken bis hin zu Schreinereien findet sich hier alles. Doch das grosse Geld machen die Banden, die Drogen und Waffen schmuggeln und weiterverkaufen.

Favela-Turniere

Der brasilianische Fussballverband CBF trägt in Rio de Janeiro seit dreizehn Jahren einen Pokal für Jugendliche aus den Communidades Carentes aus. Dazu werden die bekanntesten Mannschaften aus den Favelas eingeladen.

Die Zebrafreunde aus der Coroa verfahren wie die meisten Klubs, die ohne die Aufmerksamkeit des Verbandes leben müssen – sie laden die Mannschafen benachbarter Siedlungen ein. Ungefähr zweimal im Jahr werden in der Coroa kleine Turniere ausgetragen. Das letzte Turnier bestritten sechs Mannschaften unterschiedlicher Altersklassen. Acht Väter und Mütter schauten zu.

Die Banlieue-Serie

Dies ist der zehnte Teil unserer Serie über die Banlieues, die Slums, die Villas Miseria und die Shantytowns der Welt. Bisher erschienen Reportagen aus Marseille (WOZ Nr. 16/07), Bombay (18/07), Buenos Aires (24/07), Istanbul (26/07), Nairobi (36/07), Berlin (40/07), Peking (43/07), Sevilla (46/07), Manila (49/07). Die nächste Folge über die Slums von Lagos erscheint in der WOZ Nr. 9/08.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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