Ernährungspolitik: Der beste Markt ist zu Hause

Nr. 19 –

Der Bundesrat möchte ein Freihandelsabkommen mit vier südamerikanischen Ländern. Viele LandwirtInnen fürchten sich vor der Konkurrenz aus dem Süden. Doch die Frage, ob Marktöffnungen für Lebensmittel sinnvoll sind, geht alle an.

Bundesrat Johann Schneider-Ammann ist zurück aus Südamerika. Mit Parlamentariern und Wirtschaftslobbyistinnen reiste er durch Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, um für ein Freihandelsabkommen zu sondieren und zu weibeln. Nicht überall wurde die Schweizer Delegation in den vier Ländern, die sich zum «Gemeinsamen Markt Südamerikas» (Mercosur) zusammengeschlossen haben, freundlich empfangen. Ein Foto, das der WOZ vorliegt, zeigt eine kleine Kundgebung in São Paulo: «Fora (Raus mit) Nestlé», «Fora Ruag», «Fora Syngenta» steht auf den Schildern der Protestierenden.

Im November legte Schneider-Ammann seine «Gesamtschau zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik» vor, in der Freihandelspläne eine grosse Rolle spielen. Gleichzeitig versuchen verschiedene Organisationen und Privatpersonen, über Volksinitiativen mit teils radikalen Forderungen Einfluss auf die Agrarpolitik zu nehmen (vgl. «Vom Kuhhorn bis zum fairen Lohn» ). Wohin soll sich die Schweizer Landwirtschaft entwickeln? Die Debatten darüber sind heftig.

Milch gegen Fleisch?

Die Freihandelspläne des Bundesrats haben die Branche aufgeschreckt, aber auch gespalten. Den Bauernverbandspräsidenten Markus Ritter empörten sie so, dass er monatelang nicht mehr mit Schneider-Ammann redete. Auch viele RinderhalterInnen sind alarmiert – gegenüber der Konkurrenz aus dem Mercosur, die auf riesigen Flächen mit tiefen Umwelt- und Tierschutzstandards arbeitet, haben sie preislich keine Chance. Ein Teil der Schweizer MilchproduzentInnen hofft dagegen auf Exporte nach Südamerika. Und auch die Agrarallianz, der unter anderem der Branchenverband Bio Suisse, die Kleinbauernvereinigung und Umweltorganisationen angehören, sieht die Pläne positiver als der Bauernverband: «Erwartet wird immerhin ein modernes, der Nachhaltigkeit in Südamerika und in der Schweiz förderliches Vertragswerk», schreibt Agrarallianz-Geschäftsführer Christof Dietler, der auf der Mercosur-Reise dabei war, in der «Handelszeitung».

Dass Bio Suisse und ihr Umfeld ihre Nähe zum «Markt» betonen, ist nichts Neues. Allerdings ist die biobäuerliche Basis freihandelskritischer als ihr Verband. Das zeigte sich etwa bei der Parolenfassung zur Initiative für Ernährungssouveränität (vgl. «Vom Kuhhorn bis zum fairen Lohn» ). Der Bio-Suisse-Vorstand plädierte für ein Nein: Die Initiative sei ein zu grosser Eingriff in die Märkte. Doch die Delegiertenversammlung beschloss Stimmfreigabe, weil auch viele BiolandwirtInnen die Initiative befürworten. Auch die Kleinbauernvereinigung und der Schweizer Tierschutz (STS) kritisierten Schneider-Ammanns Pläne an einer Pressekonferenz scharf: «Bereits heute sind die Folgen einer verfehlten Schweizer Agrarpolitik und der Preisdrückerei am Markt alarmierend.»

Oft ist die Kritik am Agrarfreihandel nicht frei von nationalistischen Untertönen, wie mancher Leserbrief in der Zeitung «Schweizer Bauer» zeigt. Doch die Gleichung «Freihandel = Weltoffenheit» ist viel zu simpel – besonders wenn es um Nahrung geht. Die weltweite bäuerliche Bewegung La Via Campesina ist äusserst freihandelskritisch, und das mit gutem Grund: Es ist eine Illusion zu glauben, vom Agrarfreihandel würden die Länder des Südens grundsätzlich profitieren. Vollständig offene Grenzen im Agrarbereich kämen nur ganz wenigen Ländern zugute: jenen, die flaches, fruchtbares, gut erschlossenes Land und genug Kapital für Maschinen, tiefe Lohnkosten und keine strengen Umweltschutzgesetze haben. Fast nirgends treffen all diese Bedingungen zu – ausser in den Mercosur-Staaten. Der Rest der Welt kann nicht so billig produzieren: sei es, weil die Böden zu schlecht, das Land zu gebirgig, die Löhne zu hoch oder die Regulierungen zu streng sind. Und auch im Mercosur profitieren nur einige GrossgrundbesitzerInnen und vor allem multinationale Konzerne von steigenden Exporten (siehe WOZ Nr. 9/2018 ).

Der belgische Jurist Olivier De Schutter, ehemaliger Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, findet im Gespräch mit der WOZ klare Worte: «Es hat keinen Sinn, dass Bauern aus allen Regionen der Welt miteinander konkurrieren. Denn das bedeutet, dass sie sich alle mit den konkurrenzfähigsten Bauern in Brasilien messen müssen, und das überlebt keiner.»

So ist es kein Wunder, dass alle Staaten, die es sich leisten können, ihre Landwirtschaft mit Direktzahlungen und Zöllen schützen (und leider viele auch mit Dumpingexporten LandwirtInnen in anderen Ländern ruinieren). Vollständigen Agrarfreihandel wird es nie geben – aber auch bilaterale und multilaterale Abkommen treiben viele BäuerInnen in den Ruin.

Nischen reichen nicht

In Schneider-Ammanns (inzwischen von der Wirtschaftskommission des Nationalrats zurückgewiesenen) «Gesamtschau» sind verschiedene Freihandelsszenarien aufgeführt. Bei einem Freihandelsabkommen mit dem Mercosur sagt sie 18 Prozent tiefere ProduzentInnenpreise für Rindfleisch, 12 Prozent tiefere für Poulet voraus. Noch viel dramatischer wäre eine vollständige Marktöffnung zur EU: Da sänke der Produzentenpreis beim Rindfleisch um 53, beim Poulet um 29, beim Getreide um 38 Prozent.

Gute Chancen trotz Freihandel hätten wohl bekannte Spezialitäten wie Gruyère-Käse: in der Schweiz weit verbreitet, im Export ein Hochpreisprodukt für wohlhabende KäseliebhaberInnen. Weniger von der Marktöffnung bedroht wären auch all jene BäuerInnen, die direkt vermarkten oder sogar – wie in der regionalen Vertragslandwirtschaft – eng mit KonsumentInnen zusammenarbeiten. In diesem Bereich ist in den letzten Jahren viel Erfreuliches passiert: vom Lebensmittelingenieur, der alte Biokühe aus Graubünden verwurstet und den KundInnen die Geschichte der Kuh hinter der Wurst erzählt, über die Milchkooperative vor den Toren Zürichs bis zu den Genfer AckerbäuerInnen, die sich zusammengetan haben, um haltbare Produkte wie Mehl, Öl und Teigwaren im Abo anzubieten. Wer die ProduzentInnen der eigenen Lebensmittel persönlich kennt und schätzt, wird ihre Erzeugnisse kaum gegen ein Aldi-Sonderangebot eintauschen.

Doch Spezialitäten und Direktverkauf sind immer noch Nischen. Die entscheidende Frage bei einer Marktöffnung wird sein: Woher kommt der grosse Rest? Wer produziert Grundnahrungsmittel wo und zu welchen Bedingungen? Die Schweiz hat zwar viele Berge, aber auch hervorragende Ackerböden – global ein immer knapperes Gut. Nur schon deshalb wäre es fahrlässig, die Grundnahrungsmittel grösstenteils zu importieren und diese Böden der Bauwirtschaft preiszugeben.

«Ein grosses Defizit besteht bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft.» So oder ähnlich steht dieses Dogma x-mal in der «Gesamtschau». Aber muss die Schweizer Landwirtschaft international wettbewerbsfähig werden (wenn sie es überhaupt könnte)? Warum eigentlich? Der beste Markt ist zu Hause. Warum also Exporte forcieren? Die Schweiz ist zu gebirgig und zu dicht besiedelt, um sich selbst versorgen zu können – zumindest mit den heutigen fleischlastigen Essgewohnheiten. Bei vielen Nahrungsmitteln wie Biogetreide oder Beeren reicht die Inlandsproduktion nicht aus, um die Nachfrage zu decken. Nichts gegen Gruyère-Exporte – aber die Schweiz führt neben Qualitätskäse auch viel minderwertigen Käse aus, und sie exportiert Milch und Getreide in Form von Biskuits und Schokolade – was nur rentiert, weil der Staat der Verarbeitungsindustrie die Rohstoffe verbilligt. Ist das sinnvoll? Warum nicht eine Agrarpolitik entwickeln, die den Inlandsmarkt ins Zentrum stellt? In kaum einem Land sind so breite Schichten in der Lage und bereit, anständige Preise für Lebensmittel zu zahlen. Die Armut, die es auch in der Schweiz gibt, sollte sozialpolitisch bekämpft werden, nicht mit Billiglebensmitteln, die anderswo Armut und Leid verursachen.

Abschied von der Illusion

Vor seinem Rücktritt könnte Johann Schneider-Ammann eine Offensive der kurzen Wege ausrufen. Ein Teil der MilchproduzentInnen bekäme Unterstützung, um auf andere Betriebszweige umzusatteln, statt Milchüberschüsse zu produzieren. Die Schweiz würde sich von der Illusion der internationalen Wettbewerbsfähigkeit im Agrarbereich verabschieden, genauso wie vom in der «Gesamtschau» formulierten Ziel eines Grenzschutzabbaus, «der die Preisdifferenz zwischen dem In- und Ausland um dreissig bis fünfzig Prozent reduziert». Dafür würde sie vielleicht ganz nebenbei ein Ziel der Initiative für Ernährungssouveränität erreichen: Es gäbe wieder mehr spannende Jobs in der Landwirtschaft – statt jedes Jahr weniger.