Fussball: Tränen und Tränengas
Der FC St. Gallen steigt aus der höchsten Spielklasse ab. Der Abend endet im von Polizei, Verein und Fans angekündigten Krawall. Ein unwürdiger Abschied von einem grossen Stadion.
Zum Schluss bleiben nur noch die Bilder. Wie die Fotostrecke im «Blick» am Tag davor, von verwackelten Snapshots der Stürmerlegende Zamorano bis zum Cover der vor kurzem erschienenen Hommage an das verflossene Heimstadion Espenmoos. Und natürlich die Bilder des Abends selber: Der demonstrative Aufmarsch des Ostschweizer Polizeikonkordats vor dem Fansektor, die Dani Wyler am Schweizer Fernsehen live mit «So schürt man Aggressionen» kommentierte; und der Blick von der Südseite des Stadions eine Stunde nach Abpfiff der Partie: In der VIP-Lounge die Silhouetten der cüplischlürfenden Sponsoren und Vereinsfunktionäre vor dem Hintergrund eines hell erleuchteten Stadions, aus dem Tränengasnebelschwaden quellen wie der Rauch eines verbrennenden Traums.
Der FC St. Gallen, der älteste noch existierende Club auf europäischem Festland, ist abgestiegen und geht in die Geschichte des Schweizer Fussballs ein als die erste (und vielleicht einzige) Super-League-Mannschaft, die in einer Barrage den Ligaerhalt verpasst. Natürlich, man hat es kommen sehen: «Die Saison war schon von Anfang an verkorkst», sagt Marc Schneider nach dem Match in die Mikrofone als einziger St. Galler, der noch auf dem Platz verblieben ist. Der Rest hat sich in die Katakomben verzogen, einige wenige wie Diego Ciccone haben die Tränen vor laufender SF-Kamera vergossen, die meisten weinen erst in der Umkleidekabine.
Krassimirs voller Mund
Und ja, man hat es wirklich kommen sehen: Erst stritt man sich mehr oder weniger öffentlich um die Macht innerhalb des Vereins - ein «Putsch» konnte dann aber doch noch verhindert werden - , dann feuerte St. Gallen in kürzester Zeit erst seinen Trainer Rolf Fringer und dann den noch viel schneller in Ungnade gefallenen Sportchef René Weiler, über den der «Blick» schrieb, er tauge höchstens zur Sekretärin. Und im Oktober dann der Trainerwechsel: Krassimir Balakov, der schon als Trainer der Grasshoppers den Verein mit einer Reihe von Fehlentscheiden an den sportlichen Abgrund führte (und entlassen wurde), übernahm die St. Galler Mannschaft und erklärte vollmundig, er könne sich nicht vorstellen, dass St. Gallen in der nächsten Saison nicht mehr in der Super League spielen würde.
An diesem Dienstagabend, als es schon fast zu spät ist und der FC St. Gallen zum letzten Mal in seiner Vereinsgeschichte im Espenmoos spielt, gibt die Mannschaft noch einmal alles, allen voran Kultfigur Marc Zellweger, der sechs Jahre zuvor noch beim FC Wil mitverantwortlich war für die grösste Niederlage in der Geschichte des FC St. Gallen (11:3). Er treibt die Mannschaft an wie ein Wahnsinniger, fast vierzig Minuten stürmen die St. Galler, die nur gerade ein Tor Vorsprung brauchen, um den Abstieg zu verhindern, gegen die Tessiner Abwehrmauer und sind dabei die klar bessere Mannschaft. Nur leider nicht die intelligentere. Bellinzona spielt taktisch geschickter, «klassischer Calcio-Fussball: Abwehrmauer, Konter, bestochener Schiedsrichter», meint ein alter Saisonkartenfan auf der Haupttribüne in der 30. Minute. Und: «So geht unseren Jungs schnell der Pfuus aus.» Er behält recht: Sechs Minuten später kontert Bellinzona, ein schneller Fünfzigmeterlauf, Flanke, Kopfball, Tor. Im Stadion herrscht gelähmte Stille. In der zweiten Halbzeit stürmt der FC St. Gallen weiter an, aber er verpasst gute Chancen, und dann wird die Zeit knapp und immer knapper, und in der 85. Minute marschiert der Einsatzleiter der Polizei einfach mit Megafon auf das Feld, und die Polizei bildet eine Kette, und Fans springen auf den Zaun. Alles droht aus dem Ruder zu laufen, und dann ist das Spiel zu Ende. Kurz zuvor hatte die AC Bellinzona noch den zweiten Treffer erzielt.
1.-Mai-Feeling
Als der Schlusspfiff fällt, stehen schon mehr Fotografen und Polizisten als Spieler auf dem Feld. Irgendwo im Hintergrund feiern die Tessiner den Aufstieg. Auf dem Feld stapfen noch ein paar St. Galler Spieler herum, kopflos, verstört, ohne Antworten auf all die Fragen, die ihnen jetzt gestellt werden. Die meisten haben sich schon in die Kabine verzogen, nur Zellweger und Schneider nehmen noch, jeder für sich, den Gang zur Südtribüne auf sich, um ihre Trikots den Fans zuzuwerfen.
Viele Fans verharren anschliessend im Stadion. Stimmen zur Melodie von «Country Roads» einen Abgesang auf das Stadion an: Espenmoos, Espenmoos! Dann, mehr als eine Stunde nach Spielschluss, fliegen immer mehr Gegenstände von den Tribünen auf die Polizeikette, die einen Rasen beschützt, den niemand mehr braucht. Es ist eine Eskalation mit Ankündigung, nachdem der Klub klargemacht hatte, er werde es nicht zulassen, dass die Fans das Stadion «auseinandernehmen», etwa, um Souvenirs mit nach Hause zu nehmen: Es folgen Gummischrot, Tränengas, Fans stürmen dann das Feld, entfachen mit Holzlatten ein meterhohes Feuer in einer Ecke des Spielfeldes. Die Stadionsecurity befördert «auf Anweisung der Polizei» die letzten verbliebenen Medienschaffenden und Gaffer unsanft nach draussen. Draussen geht der Krawall weiter: Eine Gruppe angereister Zürcher wirft Steine gegen Plastikschilder, ein bisschen 1.-Mai-Feeling im katholischen St. Gallen, wo man den Tag der Arbeit wegen der Kollision mit Auffahrt kurzerhand um einen Tag vorverlegt hatte. Als die Polizei in spartanischer Phalanx durch die Gassen vorrückt, werden sie von Passanten beschimpft: «Verhaftet die doch einfach! So schwierig kann das doch nicht sein.»
Insgesamt werden an diesem traurigen Abschied von einem grossen Stadion 59 Personen im und rund um das Espenmoos festgenommen, darunter offenbar mehrere Basler Hooligans, die angereist waren, um St. Galler zu verprügeln. Die Polizei will Bilder im Internet veröffentlichen, um Krawallmacher zu eruieren.
Und die sportliche Zukunft des ältesten Schweizer Fussballklubs? Die Besserwisser, die im letzten Jahr in der Öffentlichkeit diskutierten, was denn getan werden müsse, sie sind nach Spielschluss auffallend still. Edgar Oehler etwa, der Stadionmäzen der neuen AFG-Arena, in die der FC jetzt umzieht, redet von einem «Neuanfang auf allen Ebenen», der jetzt nötig sei. Aber er selber als Ersatz für Vereinspräsident Dieter Fröhlich? «Ich suche kein Amt.» Und auch Expräsident und CVP-Nationalrat Thomas Müller redet auffallend wenig. Nur gerade dies, zu Plänen, die der Ligaboss und FC-St.-Gallen-Fan Peter Stadelmann hegt: «Immerhin gibt es jetzt einen Grund mehr, dass die höchste Liga von zehn auf zwölf Teams aufgestockt wird, damit wir schnell wieder nach oben kommen.»