Medien in den USA: Sie leisten sich die Wahrheit

Nr. 22 –

Gerade in dem Land, das so viel von seinem investigativen Journalismus hält, kämpft dieser ums Überleben. Jetzt hat sich eine Initiative gebildet, die in Eigenregie Enthüllungsgeschichten publiziert.

So etwas gibt es nur in den USA. Ein Kalifornier namens Herbert Sandler, der sein Immobiliengeschäft mit einem Milliardengewinn verkauft hat, spendet zehn Millionen US-Dollar pro Jahr für ein Medienprojekt des investigativen Journalismus. Dank dieser Geste kann Paul Steiger, ehemaliger Chefredaktor des «Wall Street Journal», ein Team von 24 JournalistInnen um sich sammeln und sie auf Enthüllungsgeschichten ansetzen.

«Wir haben über 1100 Bewerbungen erhalten, darunter Hunderte von hoch qualifizierten Journalisten, die bei ihren Medien keine Zukunft mehr sehen», erzählt Steiger in seinem Büro in New York. Aufwendige, aber auch riskante Enthüllungsgeschichten über Machtmissbrauch in Regierung, Wirtschaft und privaten Institutionen, die sich die meisten Medien nicht mehr leisten können oder wollen, sollen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Das Recherchenteam sucht sich eine Redaktion aus, die den Artikel kostenlos publizieren kann.

Das auf privaten Spenden basierende Non-Profit-Medienprojekt von Steiger heisst Pro Publica: Journalismus im Interesse der Öffentlichkeit. Es soll helfen, den Qualitätsjournalismus in den USA zu retten, dessen wirtschaftliche und moralische Basis angeschlagen ist.

Jahrzehntelang waren die wichtigsten Zeitungen des Landes im Besitz von Familien, welche die Redaktionen vor den Renditeerwartungen bewahrt hatten. Heute gehören die meisten Zeitungen riesigen Kapitalgesellschaften, für die Profitraten wichtiger sind als Investitionen in die Qualität der Berichterstattung. Diese Entwicklung geschieht ausgerechnet in einer Zeit, in der sich die Redaktionen nur noch mit einer Qualitätssteigerung am Medienmarkt behaupten können.

In den siebziger und achtziger Jahren, als die meisten Zeitungen in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, hatten sie kaum Mühe, hohe Profite zu erzielen. Doch seither müssen sie sich immer neuen Konkurrenzmedien stellen: erst dem Fernsehen, dann den Kabelsendern, heute dem Internet. Trotzdem verlangt die Börse weiterhin dieselben hohen Gewinne.

Zersetzende Wirkung

Bill Kovach hat erlebt, wie der US-Journalismus in Schieflage geraten ist. Der Leiter des Washingtoner Büros der «New York Times» von 1979 bis 1986 erklärt das Erfolgsrezept: «Wir wurden zur besten Zeitung der Welt, weil wir journalistisch das tun konnten, was wir tun mussten.» Von seinen KollegInnen wird Kovach als ein Journalist bewundert, «der nie einem Konflikt ausgewichen ist». Wahrscheinlich ist der sympathische Südstaatler auch deshalb bei der Wahl eines neuen Chefredaktors 1986 übergangen worden.

In der Folge nahm Kovach eine Berufung als Chefredaktor des «Atlanta Journal-Constitution» an. «Hier wollte ich die 'New York Times' kopieren», berichtet Kovach. Tatsächlich gewann die Zeitung unter seiner Leitung erstmals seit langem wieder einen Pulitzerpreis. Doch bereits nach zwei Jahren verliess er seinen Posten - aus Protest gegen drastische Budgetkürzungen. Aus den gleichen Gründen sind inzwischen auch zahlreiche ChefredaktorInnen anderer Zeitungen zurückgetreten.

Kovach wurde Kurator der Nieman Fellows, einem Ausbildungsprogramm für JournalistInnen an der Harvard Universität. «Hier, im Austausch mit vielen Kollegen, begann ich zu verstehen, welch zersetzende Wirkung der Raubbau auf unseren Redaktionen hat.» Kovach rief führende JournalistInnen der USA zu einer Krisensitzung nach Harvard, woraufhin das Committee of Concerned Journalists gegründet wurde. Diese Organisation steht im engen Kontakt mit dem Project for Excellence in Journalism (PEJ), einem von privaten Spenden finanzierten Team aus MedienexpertInnen, die regelmässig den Zustand der Medien in den USA analysieren.

Die AnalystInnen des PEJ stellten fest, dass die Öffentlichkeit den Medien vorwirft, mehr zu verheimlichen als aufzudecken. Sie würden als weniger professionell und weniger sorgfältig wahrgenommen. Den Medien fehle ausserdem das Engagement für das Gemeinwohl.

Vierte Front statt vierte Gewalt

Die Öffentlichkeit nimmt die Folgen des Strukturwandels im Mediengeschäft in den letzten dreissig Jahren wahr. Die rund fünfzig Konzerne, die in den siebziger Jahren die Medien in den USA kontrollierten, sind inzwischen in rund einem halben Dutzend Megakonzernen aufgegangen. Die Medien machen oft nur noch einen kleinen Teil des Geschäfts aus. Nach aussen treten Viacom, Disney, General Electric oder Time Warner zwar noch immer als Konkurrenten auf. Doch untereinander sind sie über Verwaltungsräte und zahlreiche Joint Ventures eng miteinander verbunden.

In seinem Standardwerk «The Media Monopoly» erinnerte der Journalist und Pädagoge Ben Bagdikian daran, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den US-Städten jeweils mehrere Zeitungen für ein breites Spektrum gesorgt hätten. In den von Joseph Pulitzer verlegten Zeitungen seien kritische JournalistInnen wie beispielsweise Upton Sinclair zu Wort gekommen. Und zu jener Zeit noch progressive Zeitschriften wie «Harper's», «Atlantic» oder «Cosmopolitan» hätten mitgeholfen, die politische Basis für die Reformen des «New Deal» zu schaffen, mit dem die USA die Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre überwinden und einen regulierten Kapitalismus schaffen konnten.

Nun scheint der Kapitalismus erneut ausser Kontrolle zu geraten. Sogar die Qualitätszeitungen wurden von der aktuellen Finanz- und Kreditkrise überrumpelt - und reagierten hilflos. Für Bagdikian ist das jedoch keine Überraschung: «Die Medien haben heute noch weniger Distanz zur Wall Street als früher. Sie sind unter der Kontrolle jener, die sie eigentlich kontrollieren sollten.» Bereits bei früheren Wirtschaftsskandalen wie dem Fall Enron oder dem Platzen der Hightechblase habe die Presse versagt. Die enge ideologische Bandbreite der US-Medien ist nach Meinung von Bagdikian mitverantwortlich für die heute fehlenden politischen Alternativen in der US-Politik.

Mehr Medien - weniger Information

«Rückblickend müssen wir eingestehen, zu wenig aggressiv und kritisch berichtet zu haben.» Mit solchen Worten entschuldigte sich 2004 die «New York Times» für ihr Versagen in der Berichterstattung vor und während des Irakkriegs. Im Zentrum der Kritik stand der sogenannte eingebettete Journalismus, der sich von den Spin-Doctors der Regierung von George Bush von einer «vierten Gewalt zu einer vierten Front» umfunktionieren liess, wie es Tommy Franks, Oberbefehlshaber der US-Truppen im Irak, ausdrückte.

Doch «das ist nur ein Teil der Wahrheit», gibt Danny Schechter zu bedenken. Der Medienkritiker, Autor und Regisseur erinnert daran, dass es in der «New York Times» und anderen führenden Zeitungen sehr wohl kritische Berichte gegeben habe, die aber auf den hinteren Seiten versteckt wurden oder gar nie erschienen seien. Den vielen sogenannten IrakexpertInnen, die am Fernsehen als KriegstreiberInnen den Ton angaben, standen nur wenige gegenüber, die den Krieg ablehnten. Wie über den Irakkrieg berichtet worden sei, war jeweils nicht die Entscheidung der JournalistInnen, sondern des Managements, meint Schechter. Sie basierte auf «der Angst der Herausgeber und TV-Bosse, gegen den patriotischen Mainstream zu schwimmen und dadurch Leser, Zuschauer und Werbung zu verlieren».

Der Widerspruch ist offensichtlich. Dem US-Publikum steht heute mit TV, Kabelfernsehen und Internet eine nie gekannte Mediendichte zur Verfügung, die aber über immer weniger Themen informiert. Im Kampf um das Publikum konzentrieren sie sich vor allem auf Lifestyle, Celebrities, Sex, Verbrechen, Unfälle, Wetter und Sport. Gleichzeitig ähneln sich bei Grossereignissen die «stories». Sie entstehen unter riesigem Zeitdruck, werden von immer weniger ReporterInnen verfasst, die immer mehr als GeneralistInnen arbeiten und von einer beschränkten Zahl von Informationsquellen abhängig sind. Dies erleichtert es den AkteurInnen in Politik und Wirtschaft, den Informationsfluss weitgehend zu bestimmen (vgl. unten «Die Industrie der Desinformation»).

Die Kommerzialisierung der Medien ist am deutlichsten bei den Fernsehanstalten zu beobachten. Der langjährige Auslandskorrespondent Tom Fenton erinnert sich, dass 1970 das damals führende Fernsehunternehmen CBS neben vierzehn grossen auch zehn kleine Auslandsbüros sowie freischaffende JournalistInnen in 44 Ländern stationiert hatte. Heute verfügt CBS noch über acht AuslandskorrespondentInnen in drei Büros. Vier von ihnen arbeiten in London, wo sie in erster Linie Agenturmaterial von Reuters und AP synchronisieren.

Auch die Inlandberichterstattung liegt im Argen. Laut Craig Aaron, Sprecher der Organisation Free press, sind heute die meisten US-Städte zu «one voice cities» geworden: «Die noch übrig gebliebene Zeitung, das lokale Radio und Fernsehen gehören einer einzigen Medienkette, die ihren Sitz im fernen Chicago oder in New York hat.»

Zudem hat sich inzwischen die Hoffnung, das Internet werde als demokratisches Medium zu mehr Vielfalt beitragen, als Illusion erwiesen. Laut PEJ gehören die am häufigsten benutzen Nachrichtenseiten jenen AnbieterInnen, die mit den traditionellen Medienkonzernen verbunden sind. Das Internet ist heute ein riesiger Echoraum, in dem ein reines Recycling des immer gleichen Inhalts und der gleichen Meinungen stattfindet.

Der Preis der Information

Wie Journalismus zum reinen News-Marketing verkommt, hat James T. Hamilton, Medienprofessor an der Duke University in North Carolina, in seinem Buch «All the News That's Fit to Sell» analysiert. Früher habe der Inhalt einer Information ihre Wichtigkeit bestimmt, schreibt Hamilton. Heute stünden wirtschaftliche Fragen im Vordergrund: Welche Leute interessieren sich für welche Informationen? Wie viel sind sie bereit, dafür zu bezahlen? Oder wie viel sind andere bereit zu zahlen, um diese Leute zu erreichen?

Ziel der meisten Medien sei nicht länger, als «vierte Gewalt» im demokratischen Prozess zu wirken, sondern die reine Gewinnmaximierung. In dieses Konzept passe die Welt der ärmeren, nicht kaufkräftigen Bevölkerung, über die eigentlich am meisten berichtet werden müsste, nicht mehr. Und Bill Kovach, der weiter für einen seriösen Journalismus kämpft, meint: «Die Aufgabe der Journalisten ist es, den US-Amerikanern jene relevanten Informationen zu geben, die sie zur Verteidigung ihrer Freiheiten brauchen. Wir müssen durchhalten. Wenn wir versagen, dann erstickt die Demokratie.»


Roman Berger war von 1976 bis 1982 USA-Korrespondent des «Tages-Anzeigers». Er schreibt regelmässig für die WOZ.

Die Industrie der Desinformation

Als ein Journalist 1906 den US-Senat ein «Plutokratennest» nannte, schimpfte Präsident Theodore Roosevelt die Presse eine Dreckschleuder und bezichtigte sie der Aufwiegelung zum Klassenkampf. Seither werden in den USA JournalistInnen, die Skandale und Machtmissbrauch aufdecken, «Muckraker» genannt.

Muckraker hätten es heute noch schwerer, stellt die Zeitschrift «Nieman-Reports» fest, die dem Muckraker-Journalismus im 21. Jahrhundert in ihrer aktuellen Ausgabe die ganze Nummer widmet ( www.nieman.harvard.edu). Sie sieht den Journalismus heute mit einer riesigen Desinformationsindustrie konfrontiert: «Von Unternehmen finanzierte Thinktanks, unechte Bürgerbewegungen, gekaufte Experten, gefälschte Nachrichten, unechte Reporter, Regierungsvertreter auf allen Stufen, die Lügen, Halbwahrheiten und Desinformation verbreiten, und eine Regierung, die alles daran gesetzt hat, die Presse zu diskreditieren und irrelevant zu machen.»

Der «virtuelle Raum» des Internets eigne sich besonders gut für Interessengruppen, die beispielsweise über anonyme BloggerInnen oder Webseiten versuchen, die Medien zu beeinflussen. Wie können sich JournalistInnen in einem solchen Umfeld überhaupt noch behaupten? «Nieman-Reports» macht auf Organisationen von EnthüllungsjournalistInnen aufmerksam wie www.ire.org, www.journalism.org oder www.frontgroups.org, die von JournalistInnen betrieben werden, die ausschliesslich über die Problematik der Desinformation recherchieren. Zudem berichten die Enthüllungsjournalisten Donald L. Bartlett und James Steele in einem Kapitel über ihre Erfahrungen, wie sie dank des Internets aufdecken konnten, dass Milliarden von US-Steuergeldern, die für die irakische Bevölkerung bestimmt gewesen waren, nach der US-Invasion einfach versickerten («Billions over Bagdad», «Vanity Fair» März 2007).

Bartlett und Steele lehnen es jedoch ab, die US-Presse an sich zur «vierten Gewalt» hochzuloben. Selbst in den «goldenen Jahren» des Enthüllungsjournalismus mit der Vietnam-Berichterstattung und der Watergate-Affäre seien, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, die grossen Skandale nur an die Öffentlichkeit gelangt, weil mutige JournalistInnen allein und ohne Unterstützung der grossen Medien ihre Arbeit getan hätten.