Zukunft der EU-Verfassung: Alles noch mal von vorn

Nr. 37 –

Die irische Regierung will die Bevölkerung ein zweites Mal über den Vertrag von Lissabon abstimmen lassen. Kommen Dublin und Brüssel damit durch?


Jetzt ist die Katze aus dem Sack. Er könne sich durchaus vorstellen, dass ein zweites Referendum «einen Ausweg aus der Sackgasse bietet, in der wir uns befinden», sagte vor zwei Wochen Staatssekretär Dick Roche, der im irischen Aussenministerium für Europa zuständig ist: «Wenn wir in der EU weiterhin eine konstruktive Rolle spielen wollen, können wir nicht einfach auf unseren Händen sitzen bleiben.» Er spreche nur als «Privatperson», fügte der Fianna-Faíl-Politiker in Interviews hinzu - aber da bisher kein Regierungsmitglied seinen Äusserungen widersprach, ist seine Ansicht wohl auch die des konservativ-grünen Kabinetts.

Schon nach der Ablehnung des Lissaboner EU-Verfassungsvertrags im Juni hatten zahlreiche EU-Staats- und RegierungschefInnen die irische Regierung zu einer Wiederholung des Referendums gedrängt. Dublin müsse bis Oktober eine Lösung für das Problem vorschlagen, das durch das Nein der irischen Bevölkerung entstanden ist: Ohne die Zustimmung Irlands kann der Verfassungsvertrag von Lissabon nicht in Kraft treten. Wenns beim ersten Mal nicht klappt, könnten ja ein paar Drohungen helfen, denkt nun offenbar die irische Regierung. Immerhin hat das schon mal funktioniert: Im Mai 2001 verwarf eine Mehrheit der IrInnen den EU-Vertrag von Nizza, bei dem es um eine weitreichende Reform der EU-Institutionen ging. Im folgenden Jahr liess die damalige Regierung erneut abstimmen und bekam das gewünschte Ergebnis.

Doch ganz so einfach ist es diesmal nicht: Es hat sich vieles geändert im Land.

Die Regierungsstrategie

Noch ist unklar, wann das zweite Referendum stattfindet. Bis zum EU-Gipfel im Dezember versprach Aussenminister Michael Martin Klarheit; es wird also bald abgestimmt. Schon heute klar ist dagegen die Strategie der Regierung: Sie wird erstens versuchen, alle KritikerInnen des EU-Verfassungsvertrags in die rechte Ecke zu stellen und als GegnerInnen eines gemeinsamen Europas zu diffamieren. Zweitens wird sie behaupten, dass eine wiederholte Ablehnung Irland in der EU isoliere: keine FreundInnen mehr, kein Einfluss in Brüssel.

Aber reicht das? Die Opposition der Anti-Lissabon-AktivistInnen (die selber über die Resonanz ihrer Argumente im Juni verblüfft waren) bestand im Wesentlichen aus drei Gruppierungen:

Die linken GewerkschafterInnen fokussierten ihre Kampagne gegen den neoliberalen EU-Verfassungsvertrag von Lissabon auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Der hatte in drei spektakulären Fällen (siehe WOZ Nr. 28/08) nationale Regelungen zum Schutz der Beschäftigten ausgehebelt und die Lohndumpingstrategie der EU gutgeheissen. Mit dem Vertrag würden die Kapitalinteressen auf Kosten der Lohnabhängigen für immer festgeschrieben, sagte diese Gruppierung.

Kleine sozialistische Gruppen und die ehemalige IRA-Partei Sinn Féin, die als einzige im Parlament vertretene Partei den Vertrag ablehnt, sahen die irische Neutralität gefährdet und argumentierten mit dem Verlust von demokratischer Kontrolle: Nur wenige hatten den Vertrag lesen können, und kaum jemand hat ihn verstanden.

Und dann agierte da noch die rechte Organisation Libertas des reichen Geschäftsmannes Declan Ganley. Libertas nutzte alle Marketingstrategien, verklebte Hochglanzplakate und verpflichtete Pressesprecher, die ständig hauptsächlich eine Frage aufwarfen: Was wird aus Irlands niedrigen Unternehmenssteuern, wenn der Lissabon-Vertrag Gültigkeit erlangt? Der Einfluss dieser VertragsgegnerInnen wird jedoch überschätzt: Libertas war vor allem in den Medien präsent. Anders als die Linken organisierte Ganleys Verband kaum Veranstaltungen und Debatten.

Die Ablehnung der EU-Verfassung sei ein Sieg der Ultrakonservativen gewesen, hiess es nach dem Referendum: Fast alle Parteien und PolitikerInnen interpretierten das Abstimmungsergebnis als Erfolg von IsolationistInnen, AbtreibungsgegnerInnen, EU-FeindInnen und Ewiggestrigen - eine Einschätzung, die es ihnen erlaubt, die Argumente der Linken zu ignorieren. In diese Kerbe haut jetzt Staatssekretär Roche. Wer das nächste Mal wieder mit Nein stimme, stelle sich «auf die Seite der extremen Tories und all jener, die Europa hassen», sagte er mit einem Seitenblick auf die Sinn-Féin-AnhängerInnen, denen die britischen Konservativen noch nie sympathisch waren.

Ende der Sozialpartnerschaft?

Dass die Regierung jetzt vor den Rechten warnt und der linken Kritik das Etikett der Rückständigkeit anheften will, zeigt ihr Dilemma: Denn ausgerechnet jetzt steht sie vor Auseinandersetzungen mit dem Gewerkschaftsdachverband ICTU. Viele Gewerkschaftsvorstände hatten die EU-Verfassung beim Referendum im Juni noch zur Annahme empfohlen, drohen jetzt aber mit der Kündigung des trilateralen Sozialpartnerschaftsabkommens, das seit über zwanzig Jahren in Kraft ist und einen wesentlicher Pfeiler der Dubliner Wirtschaftspolitik bildet.

Die Zeit der Lohnzurückhaltung und des Streikverzichts sei vorbei, sagen die Gewerkschaftsspitzen, die unter dem Druck der Basis stehen. Auch in Irland steigen die Hypothekarzinsen; die Lebenshaltungskosten kletterten zuletzt um 4,5 Prozent; immer mehr Beschäftigte rutschen in die Überschuldung. Die UnternehmerInnen hingegen, ebenfalls Teil der korporatistischen Sozialpartnerschaft, legten bei den letzten Lohnverhandlungen Mitte August ein Nullangebot vor: Angesichts der Rezession dürften die Löhne nicht erhöht werden. Während die Kapitalseite darauf spekuliert, dass die zunehmende Arbeitslosigkeit - diese hat mit offiziell sechs Prozent den höchsten Stand seit zehn Jahren erreicht - die Gewerkschaften schwächt, verlangen viele GewerkschafterInnen nicht nur einen Ausgleich für die Geldentwertung, sondern auch weitreichende Gesetzesänderungen zugunsten der Beschäftigten.

Diesen Forderungen will die wirtschaftsliberale Regierung nicht nachgeben. Andererseits vermeidet sie es, sich mit den Gewerkschaften anzulegen und gar eine Debatte über die Inhalte des EU-Vertrags von Lissabon zu führen, der - wie viele Lohnabhängige glauben - ihre Rechte und das Lohnniveau untergräbt. Und so malt sie den Teufel an die Wand.

Ein weiteres Nein würde Irland in der EU endgültig isolieren, warnt Staatssekretär Roche und wiederholt damit ein Argument, das schon beim zweiten Nizza-Referendum strapaziert worden war. Eine erneute Debatte über Irlands Neutralität wird die Regierung jedoch kaum vermeiden können. Denn mit der Verpflichtung für alle Mitgliedsstaaten, die Rüstungsausgaben beständig anzuheben, verletzt die geplante EU-Verfassung die seit der Unabhängigkeit (1922) geltende Neutralität, die nicht einmal während des Zweiten Weltkriegs ausser Kraft gesetzt wurde. Zwar verstösst Dublin selber immer wieder gegen diesen Verfassungsgrundsatz (so dürfen beispielsweise US-Militärflugzeuge auf dem Weg nach Afghanistan oder in den Irak auf dem Flughafen Shannon zwischenlanden) - aber der Neutralitätsgedanke ist noch immer äusserst populär.

Das Alte in neuer Form

Die Regierung wird der Bevölkerung kaum dieselbe Vorlage präsentieren. «Vor einem neuen Referendum wird die EU Irland ein paar Zugeständnisse machen», schrieb der Journalist Gavin Barrett schon kurz nach der Juni-Abstimmung in der «Sunday Business Post» - «etwa bei der Unternehmensbesteuerung oder in der Abtreibungsfrage». Auch im Bereich der EU-Militäreinsätze seien Ausnahmen denkbar. Möglicherweise, so der Kommentator, werde Brüssel sogar auf die geplante Reform der EU-Kommission verzichten und allen EU-Mitgliedsstaaten weiterhin einen oder eine EU-KommissarIn zugestehen.

Das seien jedoch nur kosmetische Konzessionen, sagt Patricia McKenna. Die frühere Europa-Abgeordnete der irischen Grünen hatte im Frühling - anders als ihre Partei - gegen eine Annahme der EU-Verfassung gestritten. «Sie werden uns denselben Vertrag als etwas völlig Neues zu verkaufen versuchen», sagt sie. An den Grundzügen der Verfassung - Verankerung der neoliberalen Marktwirtschaft, Einbindung in Nato-Einsätze - werde sich schon deswegen nichts ändern, weil dann ein völlig neuer Vertrag vorgelegt werden müsste. Und das lehnen die meisten EU-Regierungen rundweg ab.

Wird eine zweite Abstimmung anders ausgehen? Niemand kann das derzeit wissen. Der Zusammenschluss der linken Opposition ist bisher ausgeblieben: Sinn Féin und die kleineren sozialistischen Gruppierungen beharren jeweils auf ihrer Autonomie und lehnen eine gemeinsame Kampagne ab. Die Gewerkschaften sind ebenfalls gespalten - es ist nicht ausgeschlossen, dass der sozialpartnerschaftlich orientierte Flügel zustimmt, wenn die Löhne um ein paar Prozentpunkte erhöht werden.

Der Ausgang hängt also davon ab, wie die Bevölkerung auf die jüngsten Entwicklungen reagiert. Sieht sie den Konjunktureinbruch als eine Folge des von Brüssel vorangetriebenen Finanzkapitalismus? Oder glaubt sie wie die EU-Kommission, dass sich die Wirtschaftskrise nur durch noch mehr Konkurrenz am Arbeitsplatz bewältigen lässt? Weckt die Kaukasienkrise den Wunsch nach einem gemeinsamen EU-Vorgehen? Oder stärkt sie den Neutralitätsgedanken?

Eines steht immerhin fest: Die Mehrheit der IrInnen ist derzeit nicht bereit, sich herumstossen zu lassen. Dazu haben sie ihren kleinen Sieg über Nicolas Sarkozy, Angela Merkel und die EU-Bürokratie zu sehr genossen. «Wir haben dasselbe hingekriegt wie die Franzosen und die Niederländer mit ihrem Veto 2005», freuen sich viele. Und fragen sich, was das denn für eine Demokratie ist, wenn nur in einem von 27 EU-Staaten die Bevölkerung abstimmen darf.


Tommy McKearney ist Journalist und Vorstandsmitglied der irischen Independent Workers Union.

Aufgeschlossen, selbstbewusst: Die neuen IrInnen

Irland hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert - und mit ihm die Bevölkerung. Die meisten IrInnen arbeiten nicht mehr auf dem Land, sondern als zum Teil hoch qualifizierte SpezialistInnen in Städten, und sie sind auch nicht mehr konservativ-religiös eingestellt. Sie wissen auch, dass sie ihren Wohlstand nicht allein EU-Subventionen zu verdanken haben.

Seit den sechziger Jahren hat der irische Staat viel Geld in die Bildung gesteckt; das zahlte sich in den neunziger Jahren aus. Vor allem US-Konzerne nutzten die Chance, die ihnen Irland bot: eine überdurchschnittlich gut ausgebildete Jugend; niedrige Abgaben und Steuern; staatliche Beihilfen und gewerkschaftlich kaum organisierte Belegschaften. Bis Anfang der neunziger Jahre emigrierten viele Jugendliche; dann kehrte der Trend.

Der Arbeitsplatz ist eine Sache, die Lebensverhältnisse sind eine andere: Viele derer, die sich für einen Verbleib auf der Insel entschieden haben, mittlerweile für Kinder Verantwortung tragen und nicht mehr einfach wie ihre älteren Schwestern oder Cousins auswandern können, leiden unter der Politik, die fast die gesamte Infrastruktur privatisiert hat: Strassen, die Müllabfuhr, das Gesundheitswesen. Sie wissen auch, dass sie mehr Stunden arbeiten und weniger Ferien beziehen als die Beschäftigten in vielen anderen EU-Staaten.

Der «Keltische Tiger», der Wirtschaftsboom der letzten zwanzig Jahre, forderte schon immer seinen Preis. Jetzt sucht er das Weite: Viele US-Konzerne verlegen ihre Werke nach Osteuropa, wo die Belegschaften so billig und willig sind wie einst die irischen. Vielleicht hat deswegen die Lohndumpingpolitik der EU beim ersten Referendum im Juni eine so grosse Rolle gespielt. Und noch ein Faktor ist ausschlaggebend: Im neuen Irland lassen sich die Lohnabhängigen nicht mehr wie die alten Knechte über den Hof prügeln: Sie sind selbstbewusster geworden. Und haben möglicherweise gerade daher ein Gespür dafür, was demokratisch ist. Und was nicht.