Europäische Union: Die EU wird gefährlich

Nr. 41 –

Die irische Zustimmung zum Lissabon-Vertrag hat den Weg frei gemacht für eine neue EU. Aber kann das Projekt gelingen?


Nun haben sich die Iren und Irinnen also doch besonnen – und halb Europa atmet auf. Ein entschiedenes Ja sei das gewesen, lobten die Regierungen der anderen EU-Staaten, immerhin hatten am letzten Freitag 67 Prozent der Stimmenden für die Annahme des Lissabon-Vertrags votiert. Mit dem einzigen demokratischen Votum – in allen anderen EU-Staaten wurden Referenden entweder abgesetzt oder gar nicht erst erwogen – ist die Ratifizierung des Vertrags sehr viel wahrscheinlicher geworden. Dem wachsenden Druck dürfte auch der tschechische Staatschef Vaclav Klaus nicht lange standhalten.

Mit der Pistole

Aber haben die IrInnen tatsächlich über den Lissaboner Vertrag abgestimmt? Die BefürworterInnen, die mit viel EU-Prominenz und noch mehr Geld hantieren konnten, sprachen die Inhalte des Vertrags vorsichtshalber gar nicht erst an. So entschied die irische Bevölkerung eher über ihre Mitgliedschaft in der EU und über das Versprechen von Arbeitsplätzen und Wirtschaftsaufschwung. Die IrInnen, deren Volkswirtschaft durch die Finanzmarktkrise in den Keller gefallen ist, «stimmten mit der Pistole an der Schläfe ab», wie die konservative polnische Zeitung «Rzeczpospolita» kommentierte. Selbst die Neutralität des Staates, ein für die meisten IrInnen zentraler Punkt, spielte im Wahlkampf kaum eine Rolle. Und wenn, dann wurde mit unhaltbaren Behauptungen argumentiert. Die Neutralität würde durch den Vertrag nicht berührt, hiess es. Dabei ist die Zusammenarbeit der EU mit der Nato ein wesentliches Element des Vertragswerks.

Nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht Ende Juni zwar das deutsche Begleitgesetz zum EU-Vertrag kassierte (mit ihm hatte die deutsche Regierung die Entscheidungsbefugnis des Bundestags über Kriegseinsätze deutscher SoldatInnen auszuhebeln versucht), den Vertrag selber aber nicht für verfassungswidrig erklärte, scheint der Weg frei für die Etablierung der Militärmacht EU. Denn der Vertrag verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten nicht nur zur Aufrüstung (Artikel 42), sondern im Konfliktfall auch zum gegenseitigen Beistand. Die militärische Solidaritätsklausel (Artikel 222) ist noch strikter formuliert als die Bündnisverpflichtung der Nato. Sie ermöglicht auch einen Einsatz des Militärs im Innern der EU – eine Massnahme, die etwa das deutsche Grundgesetz ausdrücklich untersagt.

Die «ständige strukturierte Zusammenarbeit» (so das Vertragswerk) läuft auf die Bildung eines militärischen Kerneuropas hinaus. Denn über den Verlauf der beschlossenen Einsätze dürfen nur jene Staaten entscheiden, die daran teilnehmen. Zudem erlaubt ein «Anschubfonds» die Nutzung von EU-Haushaltsmitteln für militärische Zwecke. Die bisherigen EU-Verträge verbieten das. Fest verankert im neuen Vertrag sind auch die EU-Battlegroups (militärische Sondereinsatzkommandos) und die EU-Rüstungsagentur, die die Aufrüstung koordiniert und – wie von grossen Rüstungsfirmen seit langem gefordert – einen EU-weiten Rüstungsmarkt etablieren will. «Fest verankert» heisst: Sie können nicht mehr durch eine Entscheidung im EU-Rat abgeschafft werden, sondern nur durch einen neuen Vertrag.

Auch die Machtverhältnisse werden sich ändern. Die auf 27 Mitgliedsstaaten angewachsene EU brauche schlankere Strukturen, sagen die VertragsbefürworterInnen seit langem. Herausgekommen ist aber eine Zentralisierung, die vor allem den Einfluss der Regierungen von Deutschland, Frankreich und Britannien stärkt. Die kleineren Staaten werden an den Rand gedrängt; daran ändert auch das Zugeständnis an Irland nichts, das nun einen festen Sitz in der EU-Kommission beanspruchen darf. «Schlankere Strukturen» heisst somit: Die Kommandos werden oben gegeben. Der geringfügige Kompetenzzuwachs für das EU-Parlament gleicht das nicht aus. Noch immer sind nicht die EU-Abgeordneten die Legislative. Das nach wie vor politisch entscheidende Gremium ist und bleibt der Ministerrat, der aus Regierungsmitgliedern der einzelnen Staaten besteht. Ob die kleinen Staaten auf Dauer die Dominanz der Grossen hinnehmen werden, ist nicht ausgemacht.

Wettlauf der Dumpinglöhne

Zentral in der neuen EU, die da heranwächst, sind auch die repressiven Elemente. Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen (Frontex) zum Beispiel, die sich derzeit vor allem durch die Abwehr von Flüchtlingen im Mittelmeer und im Atlantik hervortut, ist im Lissaboner Vertrag festzementiert. Aufgelöst werden kann diese Agentur ebenfalls nur durch einen neuen Vertrag.

Unmittelbare Auswirkungen wird auch das Binnenmarktprinzip haben, das den Vertrag wie ein roter Faden durchzieht und dem alles untergeordnet ist. Was das bedeutet, ist derzeit am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie zu beobachten, die früher Bolkestein-Richtlinie genannt wurde. Diese EU-Weisung organisiert den Wettlauf der Dumpinglöhne. Nach breitem Widerstand hatte die EU-Kommission den Bolkestein-Hammer zurückgezogen, ein paar wenige Ausnahmen hineingeschrieben und die Weisung den Mitgliedsstaaten wieder vorgelegt. Nun muss sie in nationales Recht umgesetzt werden. Konkret bedeutet das beispielsweise, dass Gemeinden künftig alle Aufträge europaweit ausschreiben müssen, wenn sich auch nur ein einziges privates Unternehmen daran beteiligen soll. Auflagen (wie etwa Lohnhöhe oder Arbeitsbedingungen) dürfen keine gemacht werden; in der Regel gilt auch weiterhin das Herkunftslandsprinzip. Damit schreibt die EU gewissermassen die Urteile des Europäischen Gerichtshofs fest, der in vier Fällen das EU-Recht und das Binnenmarktprinzip über einzelstaatliche Lohn- und Tarifbestimmungen gestellt und gewerkschaftlichen Widerstand verboten hatte (siehe WOZ Nr. 28/08).

Der Lissaboner Vertrag gibt dem Binnenmarktprinzip Verfassungsrang. Auch wer die Finanzmärkte regulieren will, muss sich übrigens beeilen. Viele der derzeit diskutierten Regeln werden durch den Vertrag verboten.

Tobias Pflüger sass von 2005 bis 2009 für Die Linke im Europäischen Parlament. Er ist Mitbegründer der Informationsstelle Militarisierung (www.imi-online.de).