«Der Kaukasus»: Wohin Konflikte getragen werden

Nr. 38 –


Der Krieg zwischen Russland und Georgien hat den weissen Fleck auf unserer Landkarte im Kopf wieder gefüllt. Städte wie Zchinwali und Gori, deren Namen hierzulande vor Monatsfrist den Bekanntheitsgrad böhmischer Dörfer hatten, sind uns plötzlich so geläufig, wie es Srebrenica und Mostar Mitte der neunziger Jahre waren. Der Vergleich mit dem Bürgerkrieg auf dem Balkan kommt nicht von ungefähr: Auch der Kaukasus wird in Europa als «Pulverfass», als ewiger Unruheherd wahrgenommen. Ein ethnischer Flickenteppich, wo archaische Bergstämme sich seit Jahrhunderten aus längst vergessenen Gründen befehden und es regelmässig schaffen, gleich noch die halbe Welt in einen Krieg zu verwickeln.

Teile und herrsche

Dass die Angelegenheit komplizierter ist, weiss man. Deutschsprachige Fachliteratur, die dem Publikum einen differenzierten Zugang zu diesem geografischen Raum ermöglicht, ist jedoch spärlich gesät. Das Sachbuch «Der Kaukasus», das kürzlich von Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach herausgegeben wurde, vereinigt Beiträge von sechzehn renommierten Kaukasus-ExpertInnen aus unterschiedlichen geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Wir lernen die Region jenseits stereotyper Zuschreibungen als geostrategisches Schlüsselgebiet kennen, das seit Jahrhunderten unter den wechselnden Einflüssen rivalisierender Grossmächte leidet. Der Kaukasus produziert keine Konflikte - sie werden in ihn hineingetragen.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Unter der Rubrik Länder werden nicht nur die drei südkaukasischen Staaten (Georgien, Armenien und Aserbaidschan) sowie die russischen Teilrepubliken im Nordkaukasus vorgestellt, sondern auch die Interessen der regionalen Grossmächte Iran und Türkei. Das Kapitel Konflikte behandelt die Krisenherde und Akteure, zu denen auch der «Westen», internationale Organisationen und Energiekonzerne gehören. Ein dritter Teil beschäftigt sich mit den Kulturen des Kaukasus. Dabei werden die AutorInnen den regionalen Eigenheiten wie auch den kulturübergreifenden Phänomenen gerecht.

Der historische Rückblick auf die Konflikte im Kaukasus setzt den Schwerpunkt hauptsächlich auf die neuere Geschichte. Auch nach den Verschiebungen des politischen Gleichgewichts durch die jüngsten Auseinandersetzungen bleiben die Überlegungen zu Ursachen und Perspektiven ungebrochen aktuell. Die Teile-und-Herrsche-Nationalitätenpolitik zuerst des Zarenreichs, dann der Sowjetunion und Moskaus heutige Strategie einer «kontrollierten Instabilität» sind der Schlüssel zum Verständnis der komplexen politischen Prozesse im Kaukasus. Die AutorInnen entflechten gekonnt die Auswirkungen der Konkurrenz zwischen russischen und euro-atlantischen Sicherheits- und Energieinteressen in der Region.

Der rote Faden fehlt

Das Buch verfügt über eine sehr hohe Informationsdichte, es jagen sich die Namen von Völkern, Stämmen, Personen, Organisationen und Orten, Jahreszahlen und Fachbegriffe. Der Spagat zwischen dem umfassenden Nachschlagewerk, das wissenschaftlichen Ansprüchen vollumfänglich genügt, und dem Sachbuch, das auch für ein breites Publikum lesbar ist, gelingt nicht vollständig. Eine entspannende Lektüre bieten die AutorInnen jedenfalls nicht. Zudem vermisst man zuweilen den roten Faden, der den verschiedenen Artikeln eine gemeinsame Stossrichtung geben würde. Dennoch: Wer sich über einzelne Aspekte des Kaukasus informieren will, für den ist dieses Buch genau richtig.

Udo Steinbach (Hrsg.) und Marie-Carin von Gumppenberg: Der Kaukasus. Geschichte - Kultur - Politik. C. H. Beck. München 2008. 256 Seiten mit 6 Karten. Fr. 23.90