Jon Savage: Anders sein als die Eltern

Nr. 38 –

Was war, bevor alle Welt von Teenagern zu sprechen begann? Der englische Autor hat mit «Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875-1945)» eine Studie über das Dasein zwischen «Traum und Albtraum» vorgelegt.


WOZ: Was hat Sie auf die Idee gebracht, ein Buch über die Geschichte der Teenager zu schreiben?

Jon Savage: «Adolescence», das 1904 veröffentlichte Werk des US-amerikanischen Psychologen G. Stanley Hall. Es war eine Zäsur; er präzisierte in seiner Schrift die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, also etwa das Lebensalter zwischen 13 und 25 Jahren. Er nannte es Adoleszenz und führte damit als Erster eine separate Altersklasse ein. Zusammen mit den Kinderbüchern «Peter Pan» und «Wizard of Oz» ergibt das die drei Schlüsseltexte über die Jugend zur Jahrhundertwende.

Inwiefern?

«Peter Pan» ist eine Parabel auf die ewige Jugend. Diese Idee ist immer mit ihrem schrecklichen Scheitern verbunden. «Peter Pan» ist weniger Märchen als vielmehr Gruselgeschichte voller Todessehnsucht. Zudem ist sie auch ein Kulturgut aus den letzten Tagen des britischen Empire und mutet seltsam nostalgisch an. «The Wizard of Oz» des US-amerikanischen Autors L. Frank Baum dagegen handelt von der Verwandlung. Er erzählt eine Geschichte: Bist du alleine und isoliert, such dir zwei, drei Geistesverwandte. Das ist fast deckungsgleich mit dem Gründungsmythos der Rockband. Gemeinsam lassen sich die Schwächen besser verstecken, und man ist nicht so leicht berechenbar.

Rockbands? Im 19. Jahrhundert?

Sicher nicht, nein. Doch schon vorher, in Goethes «Werther», taucht eine Faszination auf: jung zu sterben. «I hate myself and I want to die.» Goethe diskutiert ausführlich die Idee der jugendlichen Empfindsamkeit. «Werther» liest sich wie ein Songtext der Smiths. Genauso gut hätte ich die Chartisten nehmen können, eine britische Reformbewegung, die sich für den Zehnstundentag und auch sonst für bessere Arbeitsbedingungen einsetzte. All die Bewegungen wurden, im Nachhall der Französischen Revolution, durch eine Erschütterung jugendlichen Bewusstseins ausgelöst.

Eine bürgerliche Massenkultur, die sich von der Feudalgesellschaft und der Epoche der Monarchien entfernt, setzt bereits um das Jahr 1870 ein. Mein Buch beginnt 1875, denn ich fand bei der Recherche Tagebücher von Jugendlichen aus jener Zeit, etwa von Mary Bashkirtseff aus Frankreich oder von Jesse Pomeroy aus den USA. Bashkirtseff verkörpert den guten Teenager, Pomeroy ist ein böser. Das ist eine Aufteilung, die bis heute funktioniert. Teenager als Traum oder als Albtraum. Sie werden entweder als Trendsetter dargestellt oder als messerschwingende Verrückte, die Menschen ohne Motiv umbringen.

Gewalt spielt in der Identitätsfindung von Jugendlichen im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle.

Gewalt, ob staatlich sanktioniert oder von einer Gang, wird immer eine Facette der Jugendkultur bleiben. Sie war auch Auslöser für Stanley Halls Buch. Im frühen 20. Jahrhundert begann das, was er religiöse Umwandlung nannte: die Tatsache, dass Jugendliche obsessiv einem religiösen Glauben nachhängen oder einer politischen Ideologie. Man kann das heute an Selbstmordattentätern sehen. Vergleichbare Terroristen gab es auch in den 1870er Jahren in Russland, die Attentate auf zaristische Machthaber verübten. Auf der anderen Seite gibt es Figuren wie den preussischen General Colmar von der Goltz, der den Satz geprägt hat, die wahre Stärke eines Landes liege in seiner Jugend. In dieser Sicht eignen sich junge Männer am besten als Kanonenfutter, weil sie keinen Familienanschluss haben.

Wie sind die ersten Jugendbewegungen entstanden?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Gegenreaktion auf Industrialisierung, Massenproduktion und Verstädterung. Gruppen junger Menschen durchquerten Deutschland zu Fuss. Sie nannten sich «Die Wandervögel». In Ascona gründeten sie sogar eine Kommune als Reaktion auf den zunehmenden Materialismus. Solche Gruppen gab es auch in England, sie hiessen Neo-Pagans und gerierten sich wie Hippies, mit langen Gewändern und Sandalen.

Das 20. Jahrhundert ist geprägt von technologischer Aufrüstung und zwei Weltkriegen, die Millionen auch junger Opfer forderten.

Krieg ist immer ein Gradmesser für den sozialen Wandel. Am Ende des Ersten Weltkriegs taucht zum ersten Mal der Mythos einer Generation auf, die dem Untergang geweiht ist. Es tut sich ein Generationenkonflikt auf: derjenigen, die gekämpft hatten, gegen diejenigen, die zu Hause geblieben waren. Das politisiert selbst das englische Nachtleben in den zwanziger Jahren. In den USA entsteht die Prohibition. Während autoritäre Erwachsene für Mässigung standen und der Jugend Vorschriften machen wollten, fand diese, die Erwachsenen gingen zu weit. Und so kam nach dem Ersten Weltkrieg ein reales Bewusstsein für Jugend auf. Man sprach in den USA von der flammenden Jugend, in England von den «bright young things». Jugendkultur wollte nun selbstbestimmt sein. Die «bright young things» waren sehr besorgt um ihr Aussehen. Sie verstanden, dass sie anders sein mussten als ihre Eltern. Sie versuchten sich überhaupt an der Erschaffung einer genuin jugendlichen Kultur, die nicht geprägt war von den Werten der Erwachsenen.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte das Jazz-Age ein.

Die Truppen der USA brachten Jazz mit nach Europa. Und so kamen die Menschen in England und Frankreich, dann auch in Deutschland erstmals mit Jazz und also mit der afroamerikanischen Kultur in Berührung. Die Europäer liebten Jazz. Sie tanzten den Cakewalk und den Charleston. So kommerziell sie auch ist, Musik hat immer liberalisierende Gedanken eingebaut, ersichtlich etwa an den schwarzen Wurzeln der Popmusik. Der Jazz der zwanziger Jahre geht einher mit der Black Renaissance in Harlem und dem Erwachen eines afroamerikanischen Selbstbewusstseins. Schwarze wurden durch ihre Musik überhaupt erst sichtbar. Bei der Niederschrift von «Teenage» ist mir klar geworden, wie wichtig Swing für die Emanzipation von Jugendlichen war. Er war laut und drückte Freude aus, es ging ums Mitmachen, und neben der Musik drückte er sich auch in einem bestimmten Lebensstil aus, in der Mode der Zeit, im Jugendslang, sogar in eigenen Zeitschriften.

Sie schreiben, der Kapitalismus sei die dritte einflussreiche Strömung gewesen, neben Faschismus und Kommunismus. Was unterscheidet ihn von diesen Weltanschauungen?

Mit dem Verfall der christlichen Wertekultur im 20. Jahrhundert traten Ersatzreligionen an ihre Stelle. Damals waren Faschismus und Kommunismus sehr verführerisch. An den Kapitalismus glaubten Menschen aber nie so stark. Es war kein Zufall, dass in den zwanziger und dreissiger Jahren zwei literarische Dystopien, also negative Utopien, Berühmtheit erlangten, «Schöne Neue Welt» von Aldous Huxley und «Wir» von Evgenij Zamjatin. Während «Wir» von einem unterdrückerischen Szenario ausgeht, bei dem ein «oberster Lenker» die Menschen unterwirft, beschreibt «Schöne neue Welt» das verführerische Modell einer konditionierten Wohlstandsgesellschaft, in der das Vergnügen staatlich gefördert wird.

Warum wurde die Jugend zentral für die Naziideologie?

Die Nazis waren geschickt im Umgang mit ihr. Zunächst schlugen sie einen Keil zwischen die junge, nach dem Ersten Weltkrieg geborene Generation und deren Eltern. Dann betrauten sie die Jugend mit Führungsaufgaben innerhalb ihres paramilitärischen Apparats. So wurden Jugendliche in dem Glauben belassen, sie hätten Macht und Einfluss. In meinem Buch zeige ich beide Seiten: die Hitlerjugend und wie sie den gesellschaftlichen Mainstream im Faschismus bestimmt - und den Widerstand von Jugendlichen, die den Nazimainstream ablehnten.

Was ist an diesem Widerstand charakteristisch?

Gruppen wie die Edelweisspiraten haben eigentlich nur das gemacht, was Jugendliche generell machen. Sie begehren gegen Autoritäten auf. Mit einem Unterschied: Die Antifaschisten haben dafür ihr Leben riskiert.

Wer hat den Begriff Teenager geprägt?

Wäre ich romantisch, würde ich sagen, die Jugend selbst. Tatsächlich kamen mehrere Faktoren zusammen. Marketingkampagnen im Big Business, aber auch Initiativen der US-Regierung 1943/44. Dass sich der Begriff Teenager durchsetzen konnte, liegt nicht zuletzt am Grad der jugendlichen Autonomie. Konsum war eine Antwort auf Jugendgewalt, die während des Zweiten Weltkriegs in den USA zum ernsthaften Problem wurde. Dabei schwang stets die Furcht mit, dass Jugendliche zu Nazianhängern werden könnten. Deshalb ist die konsumierende Jugend als Antwort auf den Faschismus so interessant.

Inwiefern waren Teenager an der Demokratisierung und dem Sieg gegen die Nazis beteiligt?

Bei der Propagierung US-amerikanischer Kulturerzeugnisse sind sie elementarer Bestandteil. Der Begriff Teenager findet erstmals im Herbst 1944 Erwähnung. Und einer der Multiplikatoren war das Mädchenmagazin «17». Da ist viel von Mode die Rede, wie junge Frauen auf Jungs wirken. Genauso wurde darin die Idee der Demokratie diskutiert. Die USA führte Krieg gegen den Faschismus. In «17» versicherte man sich dessen immer wieder. Konsumkultur hat sehr viel mit demokratischen Idealen zu tun, nach ihnen leben wir noch immer.

Über dem Jahr 1945, mit dem Sie ihre Geschichte beschliessen, liegen Tod und Verderben.

Der Krieg endet mit dem Abwurf der Atombombe, die die Menschheit damals von Grund auf erschüttert hat. Denn die Bombe war ein Massenvernichtungsmittel, das alles Leben dem Erdboden gleichgemacht hatte. Alle Menschen wurden dadurch in Sekundenbruchteilen zu Existenzialisten, die nur für den Augenblick lebten, was wiederum eine sehr Teenager-affine Erfahrung war. Durch die Insignien der US-amerikanischen Kultur und durch die Atombombe wurden wir alle zu Teenagern.

Denken Sie nun anders über Teenager?

Mit 55 Jahren bin ich ganz bestimmt kein Teenager mehr. Was mit dem Thema Teenager zusammenhängt, habe ich als Zwanzigjähriger selbst durchlebt. Ich habe unzählige Konzerte gesehen und Drogen genommen, ich hatte Sex. Zurzeit lebe ich gesund, praktiziere Yoga und gehe früh zu Bett.

Ewige Jugend ist heute allgegenwärtig. Ist der Teenager damit obsolet geworden?

Teenager werden nie obsolet, denn ihre Rituale wird es immer geben. Nur, heutzutage wird der Begriff Teenager sozial anders konstruiert, das hat mit seiner Geschichte zu tun und mit seiner Darstellung in den Medien. Das Konzept Teenager ist ein Motor für die Kulturindustrie, und weil dem so ist, ist das problematisch geworden. Viele unserer Sorgen drehen sich um die Ökologie, um die Nachhaltigkeit von Produkten und um den Klimawandel. All das hat direkt mit unserem Lebensstil zu tun. Die zentrale Frage wird sein, wie in Zukunft Konzepte der Jugend und der Gesellschaft organisiert werden können, wenn man sie nicht mehr über den Konsum organisieren kann. Denn irgendwann im 21. Jahrhundert, vielleicht schon sehr bald, wird es den Menschen nicht mehr möglich sein, so viel wie jetzt zu konsumieren.


Jon Savage: Teen­age. Die Erfindung der Jugend (1875-1945). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Campus Verlag. Frankfurt am Main 2008. 525 Seiten. Fr. 50.90

Jon Savage

Der englische Autor Jon Savage wurde 1953 in London geboren. 1976 hat er das Punkfanzine «London’s Outrage» gegründet. Ende der siebziger Jahre fing er an, für englische Musikmagazine wie «Sounds» und «Melody Maker» zu schreiben. Zusammen mit dem Schriftsteller Hanif Kureishi hat er 1995 die Popartikel-Enzyklopädie «The Faber Book of Pop» veröffentlicht. Heute arbeitet Savage als Autor unter anderem für die Tageszeitung «The Guardian» und fürs britische Fernsehen. Berühmt wurde er mit seinem 1992 erschienenen Buch «England’s Dreaming» (deutsch «England’s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols und Punkrock», 2001), einer Kulturgeschichte des englischen Punkrock.

Jon Savage bezeichnet sich selbst als «Popmann der ersten Stunde». Mit neun Jahren hat er zum ersten Mal die Beatles gehört. Bei seinem ersten Konzertbesuch in Worthing standen The Who auf der Bühne. Beeindruckt hat ihn auch der Film «The War Game» (1965) von Peter Watkins, der den Abwurf einer Atombombe auf eine Stadt zum Thema hat. «Mit meinen Eltern hatte ich als Teenager oft Streit. Sie hassten die Stones und lange Haare. Sie wollten, dass der Alltag unbeschwert vor sich geht. Das war sehr vorstädtisch. Ich wollte das alles nicht.»