Ernst Fehr: «Was heisst schon exakt?»
Der Neuroökonom untersucht Emotionen und Verhalten in der Wirtschaft. Macht er damit die Wirtschaftswissenschaften präziser? Ein Gespräch über Vertrauen, Vergeltung und irrationales Verhalten.
WOZ: Die Wirtschaftswissenschaften sagten jahrzehntelang, der Mensch handle eigennützig und rational, er sei ein Homo oeconomicus. Sie sagen: Das stimmt nicht.
Ernst Fehr: Es ist einseitig, davon auszugehen, dass nur die eigennützige und rationale Seite des Menschen eine Rolle spielt. Diese Sichtweise ist mittlerweile widerlegt. Wir haben Hunderte Befunde, die zeigen, dass auch andere Aspekte das Verhalten des Menschen stark beeinflussen.
Wie verhalten sich Menschen dann?
Manchmal rächen sie sich, obwohl es nicht in ihrem Interesse ist. Die Menschen zeigen Hilfsbereitschaft, obwohl es sie etwas kostet. Sie sind solidarisch, wenn es darum geht, Gruppenziele zu erreichen, obwohl der Einzelne Abstriche machen muss.
Und solche Dinge erforschen Sie?
Ja, etwa mit dem Ultimatumspiel (vgl. ganz unten), bei dem sich bestimmte Verhaltensweisen wie Eigennützigkeit, Fairness oder Vergeltung beobachten lassen.
Das tönt eher nach Psychologie als nach Wirtschaft.
Ja, es gibt viele Begriffe und Phänomene, die im Vokabular der Wirtschaftswissenschaften keinen Platz haben. Zum Beispiel Angst. Angst ist eine Emotion, die vielfach unser Handeln beeinflusst.
Welche Rolle haben Emotionen in der Finanzkrise gespielt?
Grundsätzlich erforsche ich nicht die Finanzmärkte. Allerdings haben wir schon Studien über die Bedeutung von Reputation auf den Kreditmärkten gemacht. Wie wichtig ist der Ruf eines Schuldners, damit er Kredit erhält? Auch in der jetzigen Krise ging es ja zuletzt um die fehlende Bereitschaft der Banken, einander Geld zu leihen. Denn niemand war sicher, das geliehene Geld wiederzukriegen - die grössten Banken drohten bankrottzugehen.
Es mangelte an Vertrauen.
Ohne Vertrauen geht gar nichts in der Wirtschaft. Praktisch jede ökonomische Transaktion setzt Vertrauen voraus. Und eine der wichtigsten Voraussetzungen für funktionierende Marktwirtschaften sind staatliche Regulierungen, die Vertrauen schaffen. Allein die Tatsache, dass der Staat Gerichte zur Verfügung stellt, die im Konfliktfall Recht sprechen, ist eine vertrauensbildende Massnahme. Sonst könnte man bei Vertragsbruch nicht klagen.
Ein sonst stiefmütterlich behandeltes Wort soll so viel erklären?
Der Begriff existiert in der Wirtschaft halt nur implizit. In der ökonomischen Grundausbildung wird die Vertrauensproblematik sogar weitgehend ausgeblendet. Die meisten ökonomischen Modelle gehen davon aus, dass das Problem gelöst ist.
Verhalten sich die Börsenhändler rational?
Nein, teilweise sogar sehr irrational. Aber selbst wenn alle rational handelten, könnten Blasen entstehen.
Rationale Blasen?
Sicher - sogenannte rational bubbles. Selbst wenn alle Leute rational handeln, können Preisblasen entstehen. Wenn der Kurs einer Aktie steigt, ist es rational, diese zu kaufen, um sie dann mit Gewinn weiterzuverkaufen - auch wenn Sie wissen, dass sie überbewertet ist.
Viele Ökonomen haben gesagt, dass Menschen gerade auf den Finanzmärkten rational handelten, weil es dort nur um Geld geht und alles sehr anonym läuft. Das stimmt offenbar nicht.
Das ist richtig. Das Argument der rationalen Finanzmärkte ist - obwohl es nicht zutrifft - auf den ersten Blick besonders einleuchtend, weil es darauf beruht, dass rationale Akteure aus der Irrationalität der anderen Gewinn schlagen können.
Die sogenannte unsichtbare Hand des Marktes.
Genau. Wenn eine Aktie unterbewertet ist, kommt der clevere Kaufmann, kauft sie und treibt sie in Richtung des wahren Wertes. Umgekehrt treibt man mit Leerverkäufen zu hoch bewertete Aktien in den Keller. Auf den Finanzmärkten hat das Argument, dass eine Minderheit von rationalen Akteuren den ganzen Markt rational machen kann, besonders grosse Überzeugungskraft gehabt - heute ist diese Überzeugungskraft durchlöchert.
Ist Vertrauen auch rational?
Das muss nicht sein: Der Finanzinvestor, der zum zehnten Mal Verluste einfährt und doch wieder in dasselbe Produkt investiert, handelt irrational. Aber es gibt natürlich auch rationales Vertrauen.
Was versteht man überhaupt unter dem Begriff Rationalität? Ist es nicht genau gleich rational, jemandem ein Eis zu kaufen, wie sich selbst? Beides kann einen glücklich machen.
Sicher, subjektive Bedürfnisse sind nie irrational. Bei der Frage nach Rationalität oder Irrationalität handelt es sich um Fehler oder Nichtfehler. Motive wie Eigennutz oder Altruismus können nicht falsch oder richtig sein.
Man kann also gar nicht irrational handeln?
Doch. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Glücksgefühl, das jemand infolge seines Entscheids wirklich erlebt, und jenem, das er erwartet hat. Wenn man systematisch nach falschen Erwartungen handelt, dann ist das irrational. Wie gesagt: Der Finanzinvestor, der immer wieder Verluste einfährt und doch wieder gleich investiert, handelt irrational.
Peter Wuffli will zwölf Millionen Franken Lohn zurückgeben. Das ist also nicht irrational - aber uneigennützig?
Das kann niemand sagen. Wir alle kennen die wahren Motive von Herrn Wuffli nicht. Im Labor können wir hingegen eigennütziges und uneigennütziges Handeln unterscheiden. Indem die Entscheidungen anonym getroffen werden, können wir Motive, etwa den Wunsch, seinen Ruf zu schützen, ausschalten.
Auf den Finanzmärkten hätte man sich etwas weniger Eigennützigkeit wünschen können. Es zählt nur der kurzfristige Profit, alle sprechen von Gier.
Gier ist die negative, besonders verwerfliche Variante von Eigennutz. Ich glaube nicht, dass die Finanzkrise besonders viel mit Gier zu tun hat, vielmehr mit fehlenden Finanzmarktinstitutionen und schlechten Regeln. Die Aufgabe der Politik besteht ja darin, Regeln zu entwerfen, die auch dann funktionieren, wenn Menschen eigennützig sind.
Offenbar ist der Mensch zu wenig kooperativ, zu eigennützig, als dass es den regulierenden Staat nicht brauchte.
Das ist richtig. Eine gut funktionierende Wirtschaft lässt sich nicht nur mit freiwilliger Kooperation und Fairness erzielen. Das Fazit meiner Arbeit ist ja auch, dass es Sanktionsmöglichkeiten braucht, um Trittbrettfahrer zu bestrafen.
Ihre Forschung spielt sich mehrheitlich im Labor ab. Weshalb gehen Sie nicht an die frische Luft und beobachten dort das Verhalten der Menschen?
Die Wissenschaft hat die Aufgabe, Zusammenhänge zu erkennen. Im Labor gestalten wir die Realität so einfach, dass man irgendwo beginnen kann zu forschen. In der Realität gibt es den Luftwiderstand. Zuerst mussten die Physiker die Gesetze des freien Falls im Vakuum verstehen. Ich beseitige im Labor sozusagen die Luftreibung, damit ich zuerst das Einfache verstehe, um später auch das Komplexe nachzuvollziehen.
Aber wir reden von Menschen, die verschieden sind, nicht von Teilchen im luftleeren Raum.
Ich untersuche ja nicht den Menschen an sich. Es gibt verschiedene Faktoren, die das menschliche Verhalten formen. Der soziale Hintergrund ist sicher sehr wichtig. Aber vielleicht spielt auch die Biologie oder gar die Genetik eine wichtige Rolle.
In ihrem Labor, das wir vorhin besucht haben, waren die Probanden mehrheitlich junge Schweizer Studenten aus dem Mittelstand. Aus solchen Experimenten können Sie doch keine Schlüsse für die Menschheit ziehen?
Ja, es nehmen viele Studenten an unseren Experimenten teil, aber zahlreiche Experimente in den USA und anderen Ländern haben gezeigt, dass dort dieselben Verhaltensmuster vorliegen. Zudem sind wir schon lange den reinen Studentenstichproben entwachsen.
Die Soziologie und die Ethnologie untersuchen soziales Verhalten seit Jahrzehnten. Man weiss schon lange, dass Menschen nicht nur rational und eigennützig handelten.
Ich glaube, dass diese Wissenschaften wichtigen und interessanten Fragen nachgehen. Aber viele der dabei verwendeten Methoden und Theorien überzeugen mich nicht.
Wie bitte?
Wenn wir in kulturübergreifenden Studien zeigen, dass es in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Normen gibt, dann sagen viele Ethnologen oder Anthropologen: Das wissen wir doch schon lange. Aber das stimmt nicht! Sie glauben nur, dass sie es wissen. Denn sie haben keine Instrumente, um etwa den Altruismus zu messen. Wenn wir exakter werden wollen, braucht es Experimente. Wenn ich wissen will, ob Angst das Verhalten beeinflusst, dann brauche ich zwei Gruppen, die ich vergleichen kann - eine ängstliche und eine nicht ängstliche.
Die Wirtschaftswissenschaft ist doch keine exakte Wissenschaft.
Wir werden immer exakter.
Dank der Neuroökonomie?
Auch, ja. Wir haben in den letzten Jahren enorm viel gelernt. Aber was heisst schon exakt? Es ist immer noch schwierig, Prognosen abzugeben. Das ist wie bei Wettervorhersagen. Die Meteorologie ist eine hochtechnische Wissenschaft - und doch liegt sie manchmal völlig daneben.
Das ist doch das Problem der Ökonomie: Mit allerlei mathematischen Modellen, auf die sich Analysten und Ökonomen dann stützen, gaukelt man eine Sicherheit und Exaktheit vor, die es gar nicht gibt.
In meiner Studienzeit hatte ich manchmal den Eindruck, dass die Ökonomie mehr Theologie als Wissenschaft ist. Das hat sich in den letzten Jahren aber geändert. Vielleicht braucht es einen Generationenwechsel, die Leute sind heute viel offener für neue Ideen.
Dennoch steckt noch immer viel Ideologie dahinter.
Sicher. Die Wirtschaftswissenschaft muss sich öffnen. Ökonomie wird auf eine sehr sonderbare Art unterrichtet. In einem Mikroökonomielehrbuch findet man fast oder gar nichts Empirisches. In allen anderen Wissenschaften lernt man empirische Tatsachen, in der Wirtschaftswissenschaft ist alles nur Spekulation, keine Empirie. Das ist ein Skandal! Die ganze Grundausbildung ist empiriefrei. Es gibt kein Wechselspiel von Modellen und Empirie. Das ist das Problem: Die jungen Ökonomen lernen die Modelle und glauben, die stimmen.
Professor Ernst Fehr ist Direktor des Instituts für empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Zürich. Der 52-jährige Vorarlberger forscht am Lehrstuhl für Mikroökonomik und experimentelle Wirtschaftsforschung.
Das Ultimatumspiel
Das Ultimatumspiel ist ein Verhaltensspiel, in dem ein Proband A zehn Franken erhält und entscheiden kann, wie viel von diesen zehn Franken er dem anderen Probanden B anbieten will. Die beiden kennen sich nicht und werden sich auch nie kennenlernen. A macht B ein Angebot. Zum Beispiel acht Franken für sich und zwei Franken für den anderen. Der Proband B kann zustimmen oder ablehnen. Wenn er ablehnt, erhalten beide nichts. Wenn er Ja sagt, dann wird der Vorschlag umgesetzt. Wenn B nur eigennützig wäre, würde er die Aufteilung von acht zu zwei immer akzeptieren, denn zwei Franken sind besser als nichts. Allerdings handeln vierzig oder fünfzig Prozent der Probanden anders: Sie verzichten auf die zwei Franken, um den anderen zu bestrafen. Das ist ein Beispiel für uneigennützige Vergeltung: B trägt selber einen Schaden davon, weil er kein Geld verdient.