Kampfsport: Finger einführen verboten!
Seit Jahren boomen stilübergreifende Kampfsportturniere rund um die Welt. Und stellen eine uralte Frage neu: Wer kämpft am besten, wenn fast alles erlaubt ist?
Ein Mann liegt am Boden und wird geschlagen. Sein Gegner hockt ihm auf der Brust. Mit Knien und linker Hand blockiert er die Arme des Liegenden. Die rechte, mit einem dünnen Handschuh umhüllte Faust schlägt zu. Auf die Schulter. Auf die Brust. Ins Gesicht. Mindestens zehn Mal. Vielleicht ist es an der Zeit zu erwähnen, dass die beiden Männer Sport treiben. Dass ihr Kampf in einem Ring in einer Sportschule in Berlin Schönefeld stattfindet und ein Ringrichter neben ihnen steht, jederzeit bereit einzugreifen.
Die Disziplin der beiden Männer heisst «Mixed Martial Arts». MMA gilt derzeit als härtester legaler Kampfsport der Welt und ist ein Sammelbegriff für viele Techniken: Neben Faustschlägen sind auch Tritte, Würfe und Hebelgriffe gestattet. Auf dem Rücken zu liegen und aus wenigen Zentimetern ins Gesicht geschlagen zu werden, heisst in der Fachsprache «Ground and Pound»-Position. Diese Kampfsituation muss immer wieder als Sinnbild für die Brutalität und angebliche Unmenschlichkeit der Sportart herhalten. Für die Athleten selbst ist sie noch lange keine Katastrophe.
Erfolgreicher als Boxen
Seit Jahren boomt MMA rund um den Globus. Im Jahr 2006 setzte die Sportart im US-amerikanischen Pay-TV erstmals mehr Geld um als das Boxen. Doch nicht nur in Las Vegas oder New York kann man Kämpfe wie den eben geschilderten sehen. Auch im deutschsprachigen Raum sind sie seit Jahren bekannt. Der Sportfernsehsender Eurosport zeigt zweimal wöchentlich die «K1»-Reihe, einen aus Japan kommenden, populären Wettbewerb im MMA-Kosmos, der in der Schweiz vor allem durch den Erfolg des inzwischen verstorbenen Kickboxers Andy Hug bekannt wurde. Und die Konkurrenzstation DSF präsentiert zwanzigmal jährlich Übertragungen der US-Variante «Ultimate Fighting Championship» UFC. Parallel zum Profisport hat sich eine Amateurszene gebildet, auch in Europa. Nach den Niederlanden und England, Frankreich und Deutschland beginnt MMA nun auch zwischen Schaffhausen, Lausanne, Zürich und Wildegg in zahlreichen Sportstudios Fuss zu fassen - und das auch bei einer ständig steigenden Zahl von Frauen.
In einer Welt, die ständig gefährlicher und wirtschaftlich unsicherer scheint, ist es nur konsequent, auch im Ring kaum noch Regeln zuzulassen. Wenn ein subjektives Gefühl um sich greift, von Gefahren umstellt zu sein, die schwer zu definieren sind und aus jeder Richtung zu jeder Zeit drohen, scheint das Boxen mit seinen vielen Regeln - und belastet von ständigen Vorwürfen, was Korruption und gekaufte Kämpfe angeht - als Metapher für den Lebenskampf zu schwach zu werden. Warum den Gegner nur mit den Fäusten schlagen? Warum ihn nicht treten, hebeln, würgen, ihm das Knie ins Gesicht schmettern?
Auf den ersten Blick wirkt MMA in allen ihren Ausprägungen als neuerliche Runde in der Verrohung und Ausbeutung sportlicher Aktivität. Das mag sein. Doch dahinter stellt der MMA-Boom eine der ältesten Fragen des Sports neu: Wer kämpft am besten, wenn alles erlaubt ist?
Die Geschichte der «Ultimate Fighting Championship», die in den letzten Jahren von den USA aus den Weltmarkt erobert und alle MMA-Konkurrenzunternehmen - wie die bereits erwähnte K1-Serie - sukzessive an Bedeutung überholt, beginnt in den frühen neunziger Jahren: Der US-amerikanische Regisseur John Milius war wenige Jahre zuvor mit der Pulp-Fantasy-Verfilmung «Conan der Barbar» zu Weltruhm gekommen und trainierte im Studio von Rorion Gracie, einem Nachfahren der brasilianischen Kampfsportfamilie. Gemeinsam kamen sie auf die Idee, die Frage nach dem besten Kämpfer neu zu stellen. Deshalb luden sie Vertreter verschiedener Disziplinen (unter anderem Karate, Jiu-Jitsu, Boxen, Kickboxen und Sumo) zum «War of the Worlds». Damit das Unternehmen besonders martialisch und für Investoren wie Pay-TV gleichermassen interessant wurde, waren nach antikem Vorbild nur das Beissen des Gegners sowie Stiche in dessen Augen verboten. Ausserdem wurde in einem Oktagon gekämpft - wie auch Arnold Schwarzenegger es in «Conan der Barbar» tun musste. Bis heute ist das acht-eckige Kampffeld von Maschendraht umzäunt, laut Milius eine Reminiszenz an die Grenzzäune der USA.
«Menschlicher Hahnenkampf»
Beim ersten Kampfabend am 12. November 1993 in Denver - den der Jiu-Jitsu-Kämpfer für sich entschied - flogen laut Augenzeugenberichten Blut und Zähne bis in die ersten Reihen. Senator John McCain, der später Gegenkandidat von Barack Obama werden sollte, sprach von «menschlichem Hahnenkampf». In den meisten US-Bundesstaaten wurde diese Form der MMA von den Athletic Commissions verboten. Kein Wunder, dass die UFC arm und nahezu bedeutungslos war, als sie 2001 für den Spottpreis von zwei Millionen Dollar von den Brüdern Frank und Lorenzo Fertitta gekauft wurde, zwei Glücksspielunternehmern aus Las Vegas. Die Casinoprofis veränderten die Regeln und die Aussendarstellung der UFC binnen weniger Jahre vollständig: Gewichtsklassen wurden eingeführt, Mund- und Tiefschutz obligatorisch, gefährliche Techniken wie das «Einführen von Fingern in Körperöffnungen» wurden ausdrücklich verboten. Zudem führt Doping automatisch zu langen Sperren. Doch die Klischees der frühen Jahre blieben: MMA-Kämpfer seien vor allem dumm und brutal. Dass 164 von den derzeit 202 in der UFC organisierten Kämpfern ein Studium oder zumindest eine Ausbildung absolviert haben, passt nicht ins Bild und wird daher gern übersehen. Dass es im Gegensatz zum Boxen, das jährlich Dutzende von Menschenleben fordert, in der Geschichte des MMA «nur» drei Todesopfer gegeben hat, darunter den US-Amerikaner Douglas Dedge, der 1998 in Kiew an Hirnblutungen starb, vernachlässigen Kritiker ebenso gern.
Depeche Mode und Martial Arts
Um zum unumstritten stärksten MMA-Unternehmen der Welt zu werden, bemüht sich die UFC seit wenigen Jahren, Europa zu erobern, wo noch deutlich die Boxfans in der Überzahl sind. Nach Probeläufen auf den britischen Inseln wird am 13. Juni erstmals aufs Festland übergesetzt. Eine Gruppe Profis - darunter Rich Franklin, ein ehemaliger UFC-Mittelgewichts-Champion und Mathematiklehrer aus den USA - treten zu einem Kampfabend in der Kölner Lanxess-Arena an. Der Mann, der die Profis nach Köln holt, heisst Marek Lieberberg. Eigentlich betreut der Besitzer der grössten deutschen Konzertagentur Tourneen von Popstars wie Depeche Mode und Bruce Springsteen. Auf die UFC wurde er zunächst im amerikanischen Fernsehen aufmerksam. Als er bei einem Kampfabend in Las Vegas die Fertitta-Brüder kennenlernte, war der Plan bald gefasst. «Ich glaube, dass UFC die Menschen begeistern wird», sagt Lieberberg mit seiner fröhlichen, aufgekratzten Stimme. Mixed Martial Arts sei einfach ehrlicher als das Box-Geschäft. «Da weiss man doch bei neunzig Prozent der Kämpfe schon vorher, wie sie ausgehen werden.» Wenn der Kampfabend in Köln zum kommerziellen Erfolg wird, soll es im dreimonatigen Rhythmus weitere Veranstaltungen geben. Eine der nächsten Veranstaltungsorte, die die UFC anpeilt, ist Zürich.
Zurück in Berlin: Der Amateur, der in Ground-and-Pound-Position auf dem Rücken liegt, hat noch immer ganz andere Probleme. Er muss einen Schlag nach dem anderen nehmen. Doch plötzlich schafft er es, den linken Arm seines Kontrahenten zu fassen. Mit einer jähen Bewegung dreht er ihn auf den Rücken, in einen Hebelgriff, der jeglichen Widerstand unterbindet. Der eben noch wie der sichere Sieger aussehende Kämpfer klopft zum Zeichen der Aufgabe auf den Boden. Die beiden Männer erheben sich. Lachend. Klopfen sich auf den Rücken und danken für den schönen Kampf.
Eine kurze Geschichte der organisierten Prügelei
Ob Ringer oder Boxer stärker sind, darüber wurde bereits zur Zeit der antiken olympischen Spiele spekuliert. Also kam 648 v. Chr. - sechzig respektive vierzig Jahre nach den beiden anderen Disziplinen - das «Pankration» ins Programm: Ein Allkampf, den die griechische Mythologie auf den Kampf zwischen Herkules und Theseus zurückführt. Die Kämpfe dauerten bis zur Aufgabe eines der Athleten. Oder bis zum Sonnenuntergang, nach dem eine «Klimax» die Entscheidung brachte. Abwechselnd schlugen die Sportler nach dem Gegner, ohne dass der sich verteidigen oder auch nur abwehren durfte. Wer fiel, hatte verloren. Verboten war nur weniges; das Stechen in die Augen oder andere Körperöffnungen, das Beissen und das Auseinanderreissen des Kiefers gehörten dazu. Die Sieger waren die bestbezahlten und begehrtesten Sportler ihrer Zeit - bis Kaiser Theodosius im Jahre 393 n. Chr. die olympischen Spiele als heidnischen Kult untersagte.
Andere SporthistorikerInnen beschreiben einen noch älteren Vergleichskampf, der bereits rund 2600 v. Chr. in Ägypten ausgetragen wurde. Darüber liegen allerdings zu wenige Quellen vor, um umfassende Aussagen zu machen. Viele Jahrhunderte lang geriet diese Form der Auseinandersetzung in Vergessenheit, obwohl sie nie ganz verschwand. In Südostasien massen sich traditionell die Vertreter verschiedener Kampfschulen im sogenannten «Kumite». Im ländlichen Frankreich bildete sich das «Brancaille», ein Ringkampf, der nach Absprache zwischen den Kämpfern auch Faustschläge gestattete.
Die Wurzeln der heutigen MMA werden von den meisten Sportwissenschaftlern im Brasilien des frühen 20. Jahrhunderts gesehen. Mitglieder der Familie Gracie, die zu den besten Kämpfern des Landes zählten, importierten Techniken des japanischen Jiu-Jitsu nach Rio de Janeiro, wo sie 1925 ihre erste Kampfsportschule eröffneten, und verbanden sie mit ihrem eigenen Kampfstil zum «Brazilian Jiu-Jitsu». Dieser Stil beeinflusste die Wettbewerbe «Luta Livre» («Freier Kampf») und «Vale Tudo» («Alles geht»); bis heute zählen Brasilianer zu den stärksten MMA-Kämpfern.
In der Sowjetunion entstand in den zwanziger Jahren mit dem «Sambo» eine freie Kampftechnik, die für Sondereinheiten der Armee entwickelt wurde und hauptsächlich auf Hebelgriffe setzt. Sambo blieb allerdings bis zum Ende der Sowjetunion in der übrigen Welt weitgehend unbekannt - der Begriff wurde im Westen erst durch Zangief, einen Kämpfer in der «Street Fighter»-Computerspielreihe, popularisiert.
Von Brasilien aus erreichte diese neue MMA langsam die USA, um ungefähr ab 1980 auch in Europa - zunächst vorrangig in den Niederlanden - erste Fans und Aktive zu finden. Der Durchbruch ins öffentliche Bewusstsein gelang allerdings erst durch das Kino. 1988 kam der umstrittene Spielfilm «Bloodsport» auf die Leinwand, mit dem belgischen Balletttänzer Jean-Claude Van Damme in der Hauptrolle. Motiviert durch einen schmalen Racheplot prügelt Van Damme Gegner aus aller Welt im Ring nieder. MMA-Fans in aller Welt berufen sich bis heute darauf. 1999 überzeugte David Finchers «Fight Club» auch die CineastInnen davon, dass regellose Kämpfe eine Kinokarte wert sein können.