Boxen: Die Botschafter der Revolution wollen weg
Kubas Boxmannschaft ist die erfolgreichste der Welt. Doch bei der kommenden Weltmeisterschaft wird sie nicht dabei sein. Der kubanische Verband hat die Teilnahme abgesagt - aus Angst, weitere Champions an ausländische Boxpromotoren zu verlieren.
Bis zuletzt hat Dr. Ching-Kuo Wu, Präsident des Internationalen Amateurboxverbands, gehofft, dass Kuba es sich doch noch anders überlegen würde. Vergeblich: Die Weltmeisterschaft in Chicago wird ohne die elegant tänzelnden kubanischen Faustkämpfer stattfinden. Die haben dem alle zwei Jahre stattfindenden Anlass in der Vergangenheit in schöner Regelmässigkeit ihren Stempel aufgedrückt: Sie dominierten. Bis zu acht Goldmedaillen hat die kubanische Mannschaft Anfang der neunziger Jahre bei Weltmeisterschaften gewonnen. Zwar liest sich die kubanische Bilanz auch an der letzten WM in China mit vier goldenen, zwei silbernen und zwei bronzenen Medaillen nicht schlecht. Aber die internationale Spitze ist enger zusammengerückt. Immer schwerer fällt es den Kubanern, die Spitze zu verteidigen. Doch es sind nicht allein die aufstrebenden Boxnationen Indien, Kasachstan oder Aserbaidschan, die den Kubanern neben den Russen und US-Amerikanern das Leben schwer machen. Das tun auch die Boxpromotoren aus aller Herren Ländern.
Für die ist die kubanische Staffel eine Goldader, die zu schürfen sich lohnt. Die Zeiten, in denen der sechsfache Weltmeister und dreifache Olympiasieger im Schwergewicht, Félix Savón, Millionenofferten kalt lächelnd ausschlug und mit grosser Geste für die kubanische Revolution warb, sind längst vorbei. Heute sind die Boxer, einst von Fidel Castro als «Botschafter der Revolution» gerühmt, empfänglich für lukrative Verträge aus dem Ausland. Das wissen die Talentscouts aus aller Welt nur zu gut, und deshalb werden die Champions von der Karibikinsel bei internationalen Sportevents heftig umworben. Damit wird es immer schwieriger für die kubanischen Sicherheitsbeamten, die Stars so effektiv wie bisher abzuschirmen. Das gilt für die kommende Woche beginnende WM in Chicago, im Land des Klassenkampfes und im Mekka des Profiboxsports, noch mehr als anderswo.
Millionen für die Flucht
Das wissen natürlich auch Kubas Sportfunktionäre. Der oberste Fan des Landes, Fidel Castro, hat höchstpersönlich zur Feder gegriffen und den Boykott der WM schon Anfang August in Erwägung gezogen. Man wolle den «Haien von der Mafia kein Frischfleisch vor die Haustür liefern», schrieb Castro in einer seiner Kolumnen.
Aufgebracht ist der bärtige Revolutionär von der steigenden Anzahl von Athleten, die Kuba den Rücken kehren. Den Boxern, einst zuverlässige Bannerträger der Revolution, traut der Máximo Líder kaum mehr über den Weg. Mit Yan Barthelemy, Yuriorkis Gamboa und Odlanier Solís setzten sich im letzten Dezember gleich drei von fünf Olympiasiegern in Athen von der kubanischen Staffel ab. Die trainierte damals in Venezuela. Über Umwege landeten die drei Champions beim Hamburger Arena-Boxstall. Arena-Chef Ahmed Öner griff tief in die Tasche für die talentierten Kubaner: Rund 1,5 Millionen US-Dollar gab der türkischstämmige Boxpromoter laut eigenen Angaben allein für die Unkosten nach der Flucht und für die Bezahlung der Agenten aus, die ihm die drei jungen Boxer angeboten hatten. Über die Gehälter der drei, die allesamt das Zeug zum Weltmeistertitel haben, schweigt er.
Klar ist: Hier wird gut verdient. So lässt sich Solís von einem Chauffeur im goldlackierten Hummer-Jeep durch Hamburg kutschieren. Die Schwäche des 116 Kilogramm schweren Boxers für dicke, goldene Ringe und schwere Ketten ist kaum zu übersehen. Vier siegreiche Profikämpfe hat der Schwergewichtler bereits hinter sich, und das Ziel ist klar: Weltmeister werden. Dafür nimmt der noch nicht austrainierte Koloss auch die ungeliebten Waldläufe in Kauf, um sich langsam für die zwölf Runden fit zu machen. «Das ist harte Arbeit und wird dauern», betont Arena-Trainer Werner Kirsch, der auch Leichtgewichtler Yuriorkis Gamboa unter seinen Fittichen hat. Der hat bereits einen Profikampf mehr als Solís auf der Fightcard und wird wohl auch deutlich früher für einen Titelkampf bereit sein.
«Deutsche Mafia»
Die Glitzerwelt des Kapitalismus gefällt den beiden Athleten. Gamboa macht kein Hehl daraus, weshalb er aus Kuba floh: «Profiboxsport ist in Kuba nicht vorgesehen. Wir hatten dort keine Optionen, und selbst als Olympiasieger lebten wir auf dem gleichen Niveau wie alle anderen.» Andere Sportler, wie der mehrfache Boxolympiasieger Félix Savón, erhielten Vergünstigungen, Gamboa aber nicht. «Wir lebten unterhalb dieses Status», sagt der Vater einer zweijährigen Tochter. Die hat der Leichtgewichtler zusammen mit seiner Frau Dunía aus Kuba nach Miami schmuggeln lassen. Frau und Kind leben dort bei Verwandten, während Gamboa, der gerne mit freiem Oberkörper, Rolex und Goldketten posiert, in Hamburg an seiner Karriere feilt.
Und die kommt voran: Kaum länger als eine Minute brauchte Gamboa in seinen letzten beiden Kämpfen, um die Gegner auf die Bretter zu schicken. Im Eiltempo soll es weitergehen, denn der Boxer lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich möglichst schnell einen WM-Gürtel umschnallen will. «Im nächsten Jahr könnte es schon so weit sein», hofft Öner, der unablässig die Werbetrommel für seine «rising stars» rührt und gleichzeitig nach neuen Talenten Ausschau hält. Dabei geht der Blick natürlich weiterhin nach Kuba. Im Juli wurden Öners Mittelsmänner bei den Panamerikanischen Spielen, einer Art Olympiade der amerikanischen und karibischen Staaten, erneut fündig. Mit Guillermo Rigondeaux, dem amtierenden Doppelolympiasieger im Bantamgewicht, und mit Weltergewichtler Erislandy Lara, dem amtierenden Weltmeister der Amateure, verpflichteten sie zwei weitere Aushängeschilder der kubanischen Mannschaft.
Doch diesen Abgang wollte Landesvater Castro nicht stillschweigend hinnehmen und prangerte die «deutsche Mafia» öffentlich an. Der Vorwurf des «Menschenhandels» machte die Runde, und die Artikel des Comandante sorgten weltweit für Aufsehen in den Medien. Daraufhin machten die beiden Boxer reumütig kehrt und stehen laut Agenturmeldungen in Kuba vor dem Nichts. «Ein Athlet, der seine Delegation verlässt, ist wie ein Soldat, der mitten im Krieg der Front und den Kameraden den Rücken kehrt», schrieb Fidel Castro. Die beiden Boxer, mit 26 und 24 Jahren im besten Boxeralter, durften nicht zurück ins Trainingscamp der Nationalmannschaft auf der Finca Holbeín Quesada und sollen nie wieder die Landesfarben tragen. Der missglückte Versuch, mit Boxen Geld zu verdienen, ist für die beiden Sportler vermutlich das Ende ihrer Karriere. Ein hoher Preis für die kurzfristige sportliche Fahnenflucht.
Fahnenflüchtige überall
Scheinbar unbeeindruckt vom Abgang ihrer Aushängeschilder präsentierte sich die kubanische Staffel in Rio de Janeiro und gewann fünf Goldmedaillen, eine silberne und zwei bronzene. Mit dem exzellenten Osmay Acosta steht der Nachfolger für Odlanier Solís bereits fest. Ohne einen gut abgeschirmten und schier unglaublich grossen Pool an Talenten wäre das kaum möglich. «Der garantiert, dass Kuba trotz des Aderlasses weiterhin zu den führenden Boxnationen gehören wird», sagt Ismael A. Salas. Der fünfzigjährige Boxtrainer ist ebenfalls ein Fahnenflüchtiger aus dem kubanischen Boxerlager. 1989 übernahm er einen Trainerjob im Auftrag der kubanischen Regierung im Ausland und entschied sich dazu, nicht zurückzukehren. Seither trainiert der stämmige Mann auch Profis. Er ist es, der derzeit Yuriorkis Gamboa in Hamburg etwas Feinschliff angedeihen lässt. Nur zu gut weiss der erfahrene Salas, wie schwer es kubanischen Sportlern fällt, sich im Ausland zu orientieren: «Falsche Freunde sind ein grosses Risiko - genauso wie Heimweh», warnt er. Salas hat die positiven Beispiele wie Joel Casamayor, den amtierenden Weltmeister im Leichtgewicht nach WBC-Version, genauso miterlebt wie Cruisergewichtler Ramón Garbey, der sich in den USA nie durchsetzen konnte.
Das ist in anderen Sportarten ebenso: Auch von den abgewanderten kubanischen Baseballcracks konnten sich viele in den USA nicht behaupten und spielen in den unteren Ligen statt wie José Contreras oder Orlando «El Duque» Hernández um das grosse Geld an den besten Adressen. Baseballer «El Duque» erhielt einst - ähnlich wie Rigondeaux heute - Sportverbot und durfte in der kubanischen Liga nicht mehr spielen. Der angebliche Kontakt zu einem US-Baseballagenten reichte damals für eine solche Massnahme schon aus. Im Boxen hat Castro nun also nach all den geglückten und missglückten Abwerbungen die Notbremse gezogen: Die Amateure, diese begehrten Rohdiamanten, werden zu Hause bleiben - trotz der Chance, die WM erneut zu dominieren.
Die geflohenen Boxer Solís, Barthelemy und Gamboa weinen dem kubanischen Nationalteam keine Träne nach. Ihre ehemaligen Trainer werden sich die Informationen über die WM in Chicago aus dem Internet fischen müssen, um ihre junge Staffel für die Olympischen Spiele in Beijing vorzubereiten. Dort wollen die Kubaner, allen Abwerbungsversuchen zum Trotz, wieder antreten. Die dortige Bühne ist zu verlockend, und es bleiben ihnen noch zwei Turniere, um sich dafür zu qualifizieren. Die sind im Frühjahr angesetzt, und bis dahin wird Nationalcoach Pedro Roque eine neue schlagkräftige Equipe formen, da ist sich der in Hamburg lebende Ismael Salas völlig sicher. Man darf gespannt sein, welche kubanischen Rohdiamanten dann ins internationale Scheinwerferlicht treten werden. Die Talentscouts werden in der ersten Reihe am Ring sitzen. Und mit US-Dollars locken.