Europride: «Langsam wird es besser ...»

Nr. 22 –

Am ersten Juniwochenende geht in Zürich das grösste lesbisch-schwul-queere Fest über die Bühne, das je in der Schweiz stattfand. Ist das ein Grund zum Feiern? Drei AktivistInnen im Gespräch.


WOZ: Freut ihr euch auf die Europride?

Marianne Dahinden: Total. Dass jetzt Regenbogenfahnen in Zürich flattern, finde ich einfach unglaublich.

Ein Traum, der in Erfüllung geht?

Dahinden: Ja. Der Stonewall-Aufstand 1969 brach ja an jenem Tag aus, als die Schauspielerin Judy Garland beerdigt wurde und die Leute in der Stonewall-Bar nicht schon wieder eine Razzia über sich ergehen lassen wollten. Garland war das Idol vieler Schwulen und Lesben, und sie sang «Over the Rainbow». Jetzt, nur vierzig Jahre später, sind die Regenbogenfarben überall!

Alecs Recher: Viele Veranstaltungen in den Vorwochen finde ich super. Aber den 6. Juni werde ich an mir vorbeiziehen lassen. Das wird einfach eine lustige Parade mit Bratwurst und Caipirinha, und es wird Reden geben, bei denen ein paar wenige zuhören, während die anderen gerade per SMS ihre Dates für den Abend abmachen.

Ruben Ott: Für mich hat die Europride zwei Seiten; sie ist gross und toll - und sehr stressig.

Corine Mauch ist Stadtpräsidentin von Zürich, es gibt einen schwulen Offiziersverein, Sean Penn hat für seine Rolle als Harvey Milk den Oscar erhalten - es scheint, als wären Schwule und Lesben endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Recher: Ich würde sagen, wir sind weiter als vor vierzig Jahren ... aber hundert Prozent angekommen sind wir noch nicht. Es gibt immer noch homophobe Gewalt, auch hier in Zürich, es gibt immer noch Diskriminierungen in der Privatwirtschaft und gewissen Verwaltungsabteilungen. Wohl darf man heute «ganz normal schwul oder lesbisch» sein, man darf ein klarer Mann sein, der mit einem klaren Mann zusammenlebt. Das ist aber noch lange nicht die Anerkennung, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Die würde ich mir wünschen.

Dahinden: Und wir dürfen nicht vergessen: Lesbische und schwule Beziehungen sind vielleicht in Zürich oder in anderen urbanen Gegenden «normal». Auf dem Land ist es mit der Akzeptanz noch gar nicht weit her.

Ott: Häufig entsteht der Eindruck: «Lesben und Schwule gibt es in Zürich und in den Medien, aber sicher nicht bei uns in der Schule!»

Recher: Es hilft aber schon, dass mehr darüber geredet und geschrieben wird - Zeitungen werden auch auf dem Land gelesen.

Ott: Man kann Klischees nur korrigieren, wenn sie zur Sprache kommen.

Hilft das auch den Einzelnen? Ist ein Coming-out heute einfacher?

Dahinden: Definitiv. Heute gibt es Vorbilder. Wenn der Bürgermeister von Berlin sagen kann «Ich bin schwul, und das ist gut so» und Zürich eine lesbische Stadtpräsidentin hat, ist das ein ganz anderes Lebensgefühl als zu der Zeit, als ich mich outete. An meiner ersten Pride habe ich noch mit Maske teilgenommen - ich war Lehrerin damals.

Recher: Früher hast du den Job verloren, heute kommst du ins Stadtpräsidium!

Ott: Das Coming-out ist aber je nach Umfeld immer noch sehr schwierig. Wenn ich innerlich so weit bin, ist es sicher einfacher herauszukommen, aber wie komme ich dahin? Weil heute mehr über das Thema geredet wird, sind auch mehr homophobe Sprüche zu hören. Für Leute, die noch nicht sicher sind über ihre Orientierung, kann das problematisch sein.

Recher: Warum müssen sich Schwule und Lesben überhaupt outen und Heteros nicht?

Ruben Ott, Sie arbeiten in Schulprojekten. Wie kann die Schule beim Coming-out helfen?

Ott: Ich bin bei GLL und Hallo Welt! aktiv. GLL bietet Schulbesuche von Lesben und Schwulen an, denn persönlicher Kontakt ist das beste Mittel gegen Vorurteile. Hallo Welt! ist ein Projekt von Schülern und Schülerinnen selber: Wir leben als Schwule und Lesben im Schulalltag und zeigen unsere Präsenz.

Wie?

Ott: Letztes Jahr haben wir zum Beispiel am Coming-out-Tag eine Plakataktion gemacht. Und wir betrieben am Schulball die Garderobe. Damit ist das Thema auf dem Tisch.

Fühlt ihr euch von den Medien ernst genommen?

Dahinden: Mich regt es jedes Mal auf, wenn in Medienberichten über die alljährliche Parade am Christopher Street Day nur Paradiesvögel abgebildet werden, Schwule im Fummel und Boa, immer dieses Klischee. Anderseits hat Katrin Küchler, die die Lesbenorganisation Schweiz mitgegründet hat, kürzlich an einer Podiumsdiskussion über Stonewall etwas Bedenkenswertes gesagt: Vergesst nicht, die Bewegung begann genau mit denen, die nicht anders konnten als aufzufallen. Die mussten kämpfen, die anderen konnten mehr oder weniger unsichtbar leben.

Recher: Ja, wir haben den Drag Queens extrem viel zu verdanken, und die Szene selber ist zum Teil sehr undankbar. Mich nervt bloss, dass immer nur das eine Bild gezeigt wird und nicht die ganze Vielfalt.

Ott: Und das führt dann leider dazu, dass die anderen unter diesen Klischees leiden und selber intolerant werden den Drag Queens gegenüber. Vor den Schulbesuchen haben wir oft Diskussionen: Wollen wir diese Klischees thematisieren? Ich will bei einem Schulbesuch nicht einfach sagen, sie seien falsch, denn mir ist es wichtig, dass Lesben und Schwule den Klischees auch voll entsprechen dürfen, wenn sie dieses Bedürfnis haben.

Alecs Recher, Sie organisieren das Alternativfestival Offpride mit. Warum?

Recher: Wir wollen jenen ein Gefäss geben, die sich an der Europride nicht wiederfinden, die Lebensentwürfe suchen ausserhalb der schwul-lesbischen «Normalität» und jenseits der klaren Aufteilung in zwei Geschlechter. Oder die einfach einen unkommerziellen Anlass bevorzugen. An der Offpride gibt es Workshops, Diskussionen und Kunstausstellungen - und natürlich auch Partys.

Die Queerszene stellt die «traditionelle» Lesbenszene infrage - aber wenn die Geschlechtergrenzen verschwimmen, ist nicht mehr klar, wer an Frauenveranstaltungen teilnehmen darf. Marianne Dahinden, wie erleben Sie das?

Dahinden: Die Zeiten haben sich geändert. Frauenzentren, in die nur Frauen hineindürfen, gibt es zumindest in Zürich nicht mehr. Frauendiscos gibt es noch. Aber ich denke, es ist eine Frage der Zeit, bis sie sich öffnen.

Ott: Ich kenne Lesben, die es stört, wenn sie mit Freunden an eine Party wollen und diese nicht reindürfen. Anderseits besteht die Gefahr, dass gemischte Partys schnell männerdominiert werden. Manche Veranstalterinnen versuchen eine gewisse Regulierung zu behalten, indem sie Männer nur reinlassen, wenn sie mit Kolleginnen kommen.

Dahinden: Das finde ich gut, denn schwulendominierte Partys ziehen mich nicht an. Wenn auf der Tanzfläche fast nur Männer sind, habe ich die Nase ständig auf Achselhöhe - das ist mässig attraktiv!

Recher: Wenn Frauen ein Bedürfnis nach eigenen Räumen haben, dann braucht es diese, und das respektiere ich natürlich. Aber es hat sich extrem gewandelt. Früher war die Szene zumindest in Zürich viel gespaltener. Dass sich das geändert hat, haben wir vermutlich auch der Kampagne für das Partnerschaftsgesetz vor vier Jahren zu verdanken. Da haben Schwule und Lesben super zusammengearbeitet.

Warum braucht es keine Frauenräume mehr?

Dahinden: Die Frauenbefreiungsbewegung benötigte geschützte Räume, weil sie kämpfen musste. Heute ist das Bedürfnis in weiten Kreisen nicht mehr da. Das Zürcher Frauenzentrum haben wir letztes Jahr feierlich geräumt. Wir sind in ein Haus gezogen, das sich in Frauenhänden befindet, wo aber auch Männer ein und aus gehen. Tolle Projekte wie das Frauenhaus oder das Nottelefon, die im Frauenzentrum begannen, sind heute etabliert. Und jene, die dort noch ihr Dasein fristeten, fanden kein Publikum mehr.

War das traurig?

Dahinden: Nein. Ich gehe gern mit der Zeit, statt verstaubtes Zeug mitzuschleppen.

Recher: Aber wir müssen uns bewusst sein, dass Frauen immer noch diskriminiert sind, etwa bei den Löhnen.

Dahinden: Ja, sicher! Zum Glück nehmen sich starke Frauenorganisationen wie beispielsweise Alliance F intensiv dieser Themen an.

Recher: Und die Frauenszene, aber auch die Gender-Queer-Szene müssen ein waches Auge darauf haben. Denn wir erleben auch Rückschritte in der Gesellschaft. Das Bewusstsein über Diskriminierungen und der Kampf dagegen darf nicht mit den Frauenräumen zusammen aufgelöst werden.

Das Partnerschaftsgesetz haben wir, die Partys auch ... Welche Kämpfe stehen noch an?

Recher: Es gibt im Partnerschaftsgesetz gewisse Schwachpunkte, die ich für nicht verfassungskonform halte. Eine Lesbe oder ein Schwuler kann als Einzelperson theoretisch ein Kind adoptieren - wenn er oder sie eins bekommt. Sobald man aber in einer registrierten Partnerschaft lebt, ist die Tür zu. Und wenn ein lesbisches oder schwules Paar ein Kind aufzieht und der biologische Elternteil stirbt, kann das Kind aus seinem Alltag herausgerissen werden, weil die Stiefkindadoption verboten ist. Da muss ich als Pädagoge sagen: Das hat nichts mehr mit Kindswohl zu tun.

Dahinden: Ich kenne mehrere Paare, die mit adoptierten Kindern aus den USA gekommen sind. Diese Adoptionen werden hier anerkannt. Also gibt es sie bei uns auch schon.

Recher: Wir gehen in der Schweiz von etwa 25 000 Kindern aus, die mit zwei Mamis aufwachsen. Diesen Kindern geht es genauso gut wie anderen.

Dahinden: Ja, da gibt es bereits eine Studie dazu. Und das kann ich, wenn ich meine Tochter anschaue, auch bestätigen. Sie ist eine straighte Hetera geworden.

Recher: Hast du jetzt den Job gut gemacht oder nicht? (Gelächter)

Wofür kämpfen Transsexuelle in der Schweiz?

Recher: Leider sind wir schlecht organisiert, es gibt noch keine gesamtschweizerische Organisation. Aber wir versuchen das zu ändern. Denn die rechtliche Situation ist eine Katastrophe. Wer den Personenstand ändern will, wird vom Staat gezwungen, sich sterilisieren oder kastrieren zu lassen. In etlichen Kantonen wird das sogar für die Vornamensänderung verlangt. Das ist eine heftige Rechtsverletzung.

Wie sieht es in Deutschland aus?

Recher: Dort ist die Operation für Personenstandsänderungen auch vorgeschrieben, aber man kann leicht - mit zwei Gutachten - den Vornamen ändern und danach auch den Geschlechtseintrag im Reisepass. In Deutschland hätte ich schon lange ein offizielles Dokument, in dem Alecs Recher und ein M drinsteht. Das ist schon etwas anderes als der kurlige alte Pass, den ich habe.

Wie erlebst du die Darstellungen von Transsexuellen in den Medien?

Recher: Es mangelt oft an sprachlicher Sensibilität. In einer Fernsehsendung wurde ich als «junge Frau» vorgestellt - warum habe ich mich denn als Mann geoutet? Oder die Wortwahl ist daneben: «Umbau» statt Geschlechtsangleichung. Und in einer grossen Zürcher Tageszeitung stand kürzlich: In jenem Viertel von Madrid seien «Huren, Transsexuelle, Prostituierte» unterwegs. Klar, viele Transsexuelle finden keinen anderen Job, was ein enormes Problem ist. Aber das wurde alles nicht thematisiert, die Aussage war einfach: Trans und Prostitution ist etwa dasselbe. Diesen hilflosen Umgang mit dem Thema erlebe ich aber nicht nur in den Medien, sondern generell.

Also ein düsteres Bild ...

Recher: Langsam wird es besser. Viele Medien zeigen heute Transsexuelle, die keine Freaks und nicht suizidgefährdet sind, nicht konstant an Depressionen leiden ... die vielleicht nicht ganz dem Stereotyp von Mann und Frau entsprechen, aber keine gescheiterten Existenzen sind. Das hilft uns schon enorm.

Ott: Auch die Schwulen- und Lesbenszene muss da noch viel lernen. Für mich war es ein wichtiges Erlebnis, als ich an einer Konferenz zum ersten Mal einen Transmann kennenlernte.

Recher: Das ging auch mir so; ich brauchte den persönlichen Kontakt, um zu merken, was mit mir los ist. Ich sage allen transsexuellen Freunden und Freundinnen: Genauso wie vor vierzig Jahren die Drag Queens, die Schwulen und Lesben für ihre Rechte aufstehen mussten, müssen auch wir auf die Schwulen, Lesben und Heteros zugehen, hinstehen und sagen: So sind wir, das sind unsere Bedürfnisse.

Ott: Es gibt schon Schwule, die Angst davor haben und sich klar abgrenzen wollen: «Ich bin ein Mann, der Männer liebt, keine Frau. Eine Vermischung will ich auf keinen Fall.»

Kommt auf den Schulbesuchen das Thema Transsexualität vor?

Ott: Früher sagten wir: «Es gibt auch Transsexuelle, das ist, wenn ein Mann eine Frau sein will oder umgekehrt.»

Recher: Furchtbar!

Ott: Inzwischen finde ich, wenn wir es nicht richtig machen können, lassen wir es lieber ganz weg.

Recher: Ich wäre allerdings extrem froh gewesen, wenn das Thema bei mir in der Schule angesprochen worden wäre. Es gibt Kinder, die betroffen sind, für die das lebenswichtig sein kann. Die Suizidrate ist schon bei Schwulen und Lesben recht hoch. Bei Transsexuellen liegt sie noch viel höher, bei etwa 34 Prozent.

Ott: Ich habe schon mehrmals ablehnende Reaktionen gehört. So in der Art: «Gleichgeschlechtliche Liebe ist ja okay, aber das mit dem ‹Umbauen› ist krass. Ist das denn noch normal?» Ich bin aber überzeugt: Wenn man sich diesen Vorurteilen stellt und sie diskutiert, dann kann man darauf auch eine Antwort geben.

Recher: Es ist extrem wichtig, dass die Leute erkennen: Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sind keinesfalls das Gleiche. Sie haben einen gewissen Zusammenhang, aber man kann sie nicht über einen Leisten schlagen.

Ott: Beide entsprechen nicht der Heteronorm. Das ist die grosse Gemeinsamkeit.




Ruben Ott (24) wohnt in Lenzburg und ist Primarlehrer in Ausbildung. Er engagiert sich bei Hallo Welt! und GLL, zwei Organisationen, die Homosexualität in der Schule thematisieren. Er gehört dem Vorstand der Schwulenorganisation Pink Cross an und arbeitet dort in der Fachgruppe Bildung.

www.hallowelt.ch; www.gll.ch

Alecs Recher (33) aus Zürich ist Heil- und Sozialpädagoge, Geschäftsführer der Demokratischen JuristInnen Zürich und Jusstudent. Er sitzt für die Alternative Liste im Zürcher Gemeinderat, ist im Transgender-Netzwerk Europa aktiv und arbeitet daran, eine Transsexuellenorganisation für die ganze Schweiz zu gründen. Das queere Festival Offpride, das während der Europride stattfindet, hat er mitorganisiert. www.recheralecs.ch; www.offpride.ch

Wer ist queer?

«You know I ain’t queer», sagt Ennis im Film «Brokeback Mountain» zu Jack - nach der ersten gemeinsamen Liebesnacht. Die Szene spielt 1963, und damals war «queer» noch das übliche englische (Schimpf-)Wort für Schwule, Lesben und andere, die den Vorstellungen bürgerlicher Sexualmoral nicht entsprachen. Die Schwulenbewegung der späten sechziger und der siebziger Jahre ersetzte «queer» durch «gay». Doch vor gut zwanzig Jahren kehrte das alte Schimpfwort zurück: jetzt als stolze Eigendefinition von Menschen, die die Einteilung der Menschheit in zwei Geschlechter ablehnen. Viele, die sich als queer bezeichnen, wollen jenseits von männlich und weiblich leben. Eine allgemein anerkannte Definition für das Wort kann es nicht geben - zu fliessend und uneindeutig ist das, was es bezeichnet.

Kunst, Partys und Performances sind wichtige Ausdrucksformen der queeren Kultur. Gleichzeitig und oft in Verbindung dazu hat sich an den Universitäten die Queer Theory entwickelt. Auch sie beschäftigt sich stark mit kulturellen Themen. Politische und ökonomische Fragen geraten dabei oft in den Hintergrund, was auch kritisiert wird. So schrieb etwa die Zürcher Historikerin Tove Soiland letztes Jahr in der WOZ: «Mit der Logik des Ökonomischen soll sich der linke Mann beschäftigen, die Queer-Theoretikerin hat Kulturelles zu tun: eine klassische Rollenteilung.»

Die Gesprächspartnerinnen

Marianne Dahinden (59) war mehr als zwanzig Jahre Friedensrichterin in den Zürcher Kreisen 4 und 5. Seit einem Jahr ist sie frühpensioniert. Sie engagiert sich für den schwul-lesbischen Kulturmonat ‹warmer mai›, ist Präsidentin von WyberNet, dem Netz für lesbische Berufsfrauen, und Kopräsidentin des Vereins Frauenzentrum Zürich. Sie lebt in Einsiedeln.

www.wybernet.ch; www.warmermai.ch