Obdachlose in Brasilien : Jetzt sind wir halt Nachbarn
Obdachlose in Brasilien-In der Millionenstadt São Paulo stehen Hunderttausende Wohnungen und Gebäude leer. Ivaneti de Araujo, die Koordinatorin der Obdachlosenbewegung Movimento Sem-Teto do Centro, kennt die Probleme der Betroffenen aus eigener Erfahrung.
WOZ: Sie waren selbst einmal obdachlos. Warum?
Ivaneti de Araujo: Als mein Freund seine Arbeitsstelle verlor, konnten wir uns keine eigene Wohnung mehr leisten. Wir haben dann alles für die Miete eines Zimmers ausgegeben und lebten in einem Haus, in dem man sich die Küche und das Bad mit vielen anderen teilte. Als es auch dafür nicht mehr reichte, zogen wir unter eine Brücke im alten Zentrum von São Paulo. Damals gab ich die Hoffnung auf. Jetzt ist Schluss, dachte ich, wir haben keine Chance mehr.
Wie lange haben Sie so gelebt?
Vier Monate. In dieser Zeit sind Leute von einer Obdachlosenorganisation vorbeigekommen, und mein Freund hat sich bei ihnen eingeschrieben. Im Oktober 1998 haben wir an unserer ersten Hausbesetzung teilgenommen. Es handelte sich um ein ehemaliges Krankenhaus, das siebzehn Jahre leer gestanden war. Damals realisierte ich, dass es viele Leute gibt, die in noch schlimmeren Lagen waren als wir. Hier hatten wir wenigstens eine Tür, die wir schliessen konnten, und so etwas wie Privatsphäre. Und wir hatten wieder fliessendes Wasser, Strom und genug zu essen.
Und deshalb haben Sie sich in der Obdachlosenbewegung engagiert.
Eines Tages hat uns die Koordinatorin im besetzten Gebäude informiert, dass wir ab morgen nichts mehr zu essen haben würden. Ich schlug vor, dass wir Frauen auf den Märkten und in den Läden fragen, ob wir gratis Lebensmittel bekommen könnten. So sind wir jeden Tag auf einen anderen Markt gegangen und haben die nicht verkauften Sachen bekommen: Reis, Fleisch, Geflügel, Früchte und Säfte. Alles in bescheidenen Mengen, aber frisch. Daraufhin fragte mich die Koordinatorin, ob ich in einer Gruppe mitmachen möchte. Zuerst war ich skeptisch, da ich nur fünf Jahre Schulbildung hatte, aber sie ermunterte mich. Ich organisierte dann die nächste Besetzung und bin bei den folgenden Wahlen immer weiter nach oben gestiegen. Erst war ich Sekretärin, dann zweite Koordinatorin; heute bin ich erste Koordinatorin und für alle Gruppen in São Paulo zuständig. Wir schätzten, dass in São Paulo rund 450 000 bewohnbare Immobilien leer stehen und acht Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben. Diese Menschen haben so wenig Einkommen, dass sie zwischen zwei Grundrechten wählen müssen: Wohnen oder Essen. Beides geht nicht.
Wie viele Gebäude halten Sie zurzeit besetzt?
Im Zentrum und der unmittelbaren Umgebung von São Paulo hat unsere Bewegung fünf Gebäude und drei Grundstücke besetzt, zwei dieser Grundstücke und ein Gebäude erst seit Anfang April. Daran beteiligt sind schätzungsweise 1020 Familien. Eines der besetzten Gebäude gehört der Behörde für soziale Sicherheit.
Wie reagieren die Behörden auf die Besetzungen?
Für dieses spezielle Gebäude wurde inzwischen die Räumung beantragt. In Brasilien gibt es viele Programme, Projekte und auch Geld für den sozialen Wohnungsbau. So existiert ein Programm, das Präsident Lula da Silva «Mein Haus, mein Leben» nennt. Aber die Gelder kommen oft nicht bei den Leuten an, die sie brauchen. Ausserdem läuft immer alles über Baufirmen, die andere Interessen haben. Von uns ist bei der Programmgestaltung niemand dabei, der mitwirken und sagen könnte, was wir brauchen.
Der politische Wille wäre aber vorhanden?
Ich glaube nicht, dass es einen politischen Willen gibt. Die Politiker denken nicht sozial. Die Bedürftigen stören sie nur, besonders wenn sie sich auch noch organisieren und ihre Rechte einfordern. Die Wohnungsbauprojekte sind ja auch nur entstanden, weil die Obdachlosenbewegung sehr aktiv ist und grossen politischen Druck ausübt.
Dann werden diese Programme nicht umgesetzt?
Doch. Aber wenn Wohnungen gebaut werden, dann teilweise dreissig Kilometer ausserhalb der Zentren und ohne Infrastruktur. Sie bauen fünfzig Gebäude, schön und billig, aber es gibt keine Busse, keine Schulen, keine Krankenhäuser. Dafür stehen riesige Gebäude im Zentrum leer und werden dem Ungeziefer überlassen.
Warum das?
Zum einen will man die Familien, die wenig verdienen, aus dem Stadtzentrum vertreiben. Ausserdem ist der Staatssekretär für Wohnungsbau der Meinung, Obdachlose hätten zwar ein Recht auf eine Wohnung, aber nicht zu entscheiden, wo sie wohnen wollen.
Gibt es Widerstand gegen diese Haltung?
Wir versuchen gerade, das zu organisieren. Ich bin zurzeit Mitglied eines Rats für Wohnungsangelegenheiten und Obdachlose. Er kümmert sich um die Wohnungsproblematik und beschäftigt sich mit den Gebäudebesetzungen. Er besteht aus Vertretern von Obdachlosenbewegungen und Immobilienverbänden, nichtstaatlichen Organisationen und Politikern. Direkt entscheiden können wir aber nichts.
Seit wann gibt es diesen Rat?
Seit 2002. Seit Anfang dieses Jahres gibt es auch einen auf Bundesstaatsebene, auf nationaler Ebene wird er gerade entwickelt. Es ist für uns wichtig, dabei mitzuwirken, denn so bekommen wir mit, wie die Gelder verteilt werden. Wenn wir zum Beispiel herausfinden, dass irgendwelche Gelder abgezweigt oder nicht so viel geschickt wie versprochen wurde, informieren wir unsere Basis. Dann gehen wir zum Rathaus und lassen uns dort nieder, bis wir eine Antwort bekommen. Wir können diesen politischen Druck ausüben, weil wir nichts zu verlieren haben.
Bekommen Sie denn auch Antworten?
Solche Aktionen können schon eine grosse Wirkung haben. So sind wir vor einigen Jahren mit Hunderten Familien zum Sitz des Bürgermeisters von São Paulo gegangen. Dessen Assistent kam dann zu mir und hat mir 30 Häuser angeboten. Ich habe ihm gesagt: «Was soll ich mit 30 Häusern? Wir sind hier 430 Familien. Wir bleiben hier, bis ihr uns ein anderes Angebot macht. So lange sind wir also Nachbarn.» Wenn wir Vorschläge für ein Gebäude machen, das leer steht, finden das die Politiker zwar interessant, doch sie sagen, dass wir nächste Woche mal bei der Sekretärin anrufen sollen. Wir aber brauchen Aktionen, keine bürokratischen Entscheidungen.
Sind Sie auch mit anderen Gruppen wie der Landlosenbewegung vernetzt, die auch Gebäude und Grundstücke besetzt?
Es gibt eine gewisse Vernetzung, aber in erster Linie ist es ein Erfahrungsaustausch. Dazu kommt, dass wir abgehört und überwacht werden. Wenn wir per Telefon oder E-Mail mit anderen kommunizieren, muss es immer codiert sein.
Werden Sie bedroht?
Ja. Ich habe immer wieder Morddrohungen per Telefon erhalten. Oder die Polizei spricht mich an und sagt, ich müsse vorsichtig sein, man wisse genau, wo ich mich aufhalte. Die Polizei dringt oft in die Gebäude ein. Auch unser zweiter Koordinator wird immer wieder bedroht. Einmal konnten wir ihn nur schützen, indem wir eine Menschenbarriere gegen die Polizei bildeten. Ich lebe eigentlich immer in Angst, aber ich habe eine Verantwortung gegenüber den Betroffenen und darf meine Angst nicht zeigen. Also sage ich ihnen, dass wir nichts Unrechtes tun. Schliesslich steht das Recht auf ein Dach über dem Kopf in Artikel 6 der Bundesverfassung.
Ihre Bewegung wird von Amnesty International unterstützt. Hat sich seither etwas verändert?
Ja. Durch die Anerkennung und moralische Unterstützung von Organisationen wie Amnesty International fühlen wir uns besser geschützt. Sollte jemandem von uns etwas zustossen, dann wird das nicht einfach vergessen, weil hinter uns eine noch grössere Organisation steht. Wir werden stärker respektiert, können so mehr politischen Druck ausüben und dadurch unsere Projekte besser realisieren. Ausserdem ist es für uns wichtig zu wissen, dass es Menschen gibt, die zwar unsere Erfahrungen nicht gemacht haben, aber trotzdem verlangen, dass sich unsere Lage bessert.
Leben Sie selbst immer noch in einem besetzten Gebäude?
Ja. Ich hätte zwar Anrecht auf eine Wohnung, lebe aber wie 120 andere Familien in einem besetzten Gebäude. Solange ich mitkämpfe, muss ich bei den Leuten sein. Leider wollen meine Kinder das nicht mehr mitmachen. Sie sind zwar selber in einer Jugendgruppe aktiv, aber ich fehle ihnen als Mutter. Sie wollen keine kollektive Mutter, sondern ihre eigene, an deren Schulter man auch mal ein bisschen weinen kann.