Brasilien: Warten auf Boden und Gerechtigkeit

Nr. 20 –

Die Landlosenbewegung MST wollte einst die gesamte Gesellschaft verändern. Heute streitet sie vor allem für eine neue Landreform – denn Präsident Lula setzt inzwischen lieber auf das Agrobusiness.

Ein staubiger Feldweg führt zur Siedlung. Die einzige Dorfstrasse wird von einfachen Einfamilienhäusern gesäumt. Die Gärten blühen üppig, Vögel zwitschern. Die dazugehörenden 800 Hektar Land wurden den 35 Familien vor zwölf Jahren auf Druck der Landlosen­bewegung Movimento dos Trabal­hadores Rurais Sem Terra (MST) zugesprochen. Lagoa do Junco, so heisst die Siedlung, liegt in Südbrasilien, gute hundert Kilometer ausserhalb von Porto Alegre.

Tarcísio Stein zieht am Saugrohr seines Trinkgefässes und lässt den Matetee langsam durch die Kehle rinnen. Der 45-Jährige mit deutschen Wurzeln erzählt in breitem hunsrückischem Dialekt, wie er als junger Mann Kleinpächter im Nachbarstaat Santa Catarina war. Er habe zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben gehabt. Mit seiner Frau schloss er sich den Landlosen an, demonstrierte und besetzte Ländereien, hauste jahrelang mit zwei Kleinkindern unter Plastikplanen am Strassenrand.

Nach der Landzuweisung schlossen sich 18 der 35 Landlosenfamilien zu einer Produktionsgenossenschaft zusammen. Neben dem Anbau von Bohnen, Obst und Gemüse züchten sie Hühner, Schweine und Rinder. Vor kurzem ist eine Bäckerei hinzugekommen. Der ganze Stolz der KleinbäuerInnen ist jedoch der Anbau von Bioreis.

Hinter dem Dorf erstrecken sich auf fast 200 Hektaren saftig grüne Reisfelder. Statt Pestiziden, Kunstdünger und kommerziellem Saatgut verwenden die GenossenschafterInnen Naturdünger aus Kuhmist, Asche, Milch- und Kürbisresten. Die Ausgaben seien minimal, gerade auch im Vergleich zum herkömmlichen Anbau, sagt Stein. «Vor allem das ökonomische Argument hat uns zu Biobauern gemacht. Doch jetzt sind wir es aus Überzeugung.» Mittlerweile ist der Zyklus von der Aussaat bis zum Verkauf an die Endverbraucher­Innen komplett. Am Rand der Siedlung stehen ein Silo und eine Minifabrik mit einer Verpackungsanlage für Ein-Kilo-Tüten. Für die teuren Maschinen gab es günstige Kredite.

Festgefahrene Reform ...

Sämtliche Produkte gehen in den Direktverkauf, an die Schulen der nahe gelegenen Kleinstadt Tapes oder an die staatlichen Lebensmittelprogramme, mit denen die Bundesregierung arme Familien unterstützt. Die Kooperative ist eine Erfolgsgeschichte und kein Einzelfall in Südbrasilien: Jeden Samstagvormittag verkaufen Mitglieder von MST-Kooperativen auf dem Ökomarkt in Porto Alegre Obst, Gemüse, Kuchen, Brote und natürlich Bioreis aus eigener Produktion. Von den anderen KleinbäuerInnen sind sie nur durch ihre roten Schirmmützen mit dem MST-Logo zu unterscheiden.

Zugleich ist die globalisierungskritische Landlosenbewegung eine viel beachtete Akteurin in der brasilianischen sowie der internationalen Debatte über Ernährungssicherheit. Sie war 1984 mithilfe der katholischen Landseelsorge gegründet worden und hat seither Hunderttausende landlose Familien organisiert und ihnen zu eigenem Grund und Boden verholfen. Auch am 17. April, zum «Internationalen Tag der Bauernkämpfe», organisierte sie in ganz ­Brasilien Strassenblockaden, Landbesetzungen und Proteste gegen den Bergbauriesen Vale in Amazonien. Gemäss Schätzungen der MST campieren immer noch 150 000 Familien in armseligen Zeltlagern, wie vor fünfzehn Jahren Tarcísio Stein und seine Familie. Und damals wie heute werden immer noch MST-AktivistInnen von Auftragskillern der Grossgrundbesitzer erschossen.

Mit Präsident Luiz Inácio Lula da Silva verbindet die straff organisierten Landlosen kritische Sympathie – im Wahlkampf haben sie den ehemaligen Gewerkschafter stets unterstützt, doch seine neoliberale Wirtschaftspolitik lehnen sie ab. Ihr ideologischer Kopf João Pedro Stedile meint selbstkritisch: «Die sozialen Bewegungen und die brasilianische Linke haben sich zwanzig Jahre lang vorgemacht, dass sich die Probleme von selbst lösen, wenn Lula nur an die Macht kommt.» Seine Zwischenbilanz nach gut fünf Jahren Lula: «Die Agrarreform ist festgefahren. Die Konzentration des Landbesitzes hat sogar zugenommen.»

... und radikale Wende

Wie in den siebziger Jahren zur Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) finden die meisten Neuansiedlungen in Amazonien statt, weil dort das Land am billigsten ist. Viele dieser ländlichen Siedlungen sind vergleichbar mit den städtischen Elendsvierteln – denn die riesigen Entfernungen erlauben den SiedlerInnen keine vernünftige Vermarktung ihrer Produkte. Oft arbeiten die SiedlerInnen durch die Rodung des Regenwalds zudem der Holzmafia zu. Häufig werden sie auch von den nachrückenden Viehzüchtern oder Sojafarmerinnen verjagt.

In den letzten fünf Jahren habe Lula eine radikale Wende vollzogen und die Agrarreform völlig aufgegeben, meint der linke Ökonom Guilherme Delgado, der 2003 an der Ausarbeitung des Regierungsplans für die Landreform beteiligt war. «Heute hat der Export von unverarbeiteten Rohstoffen und damit das Agrobusiness absolute Priorität», sagt er. Dieser Ansatz sei jedoch höchst riskant, weil er von der internationalen Konjunktur abhänge.

Eine klassische Landreform wie in vielen Ländern des Nordens, die mit dem Aufbau einer nationalen Industrie einherging, habe die brasilianische Oligarchie nie umgesetzt, sagt Stedile. «Seit den neunziger Jahren herrscht der Neoliberalismus, die Volkswirtschaft ist dem internationalen Finanzkapital unterworfen.» Unter diesen Voraussetzungen könne das Projekt, für das die MST zwanzig Jahre lang gekämpft habe, nicht funktionieren.

Der MST-Chefstratege Stedile skizziert eine «neue Agrarreform» in fünf Punkten: «Demokratisierung des Landbesitzes (durch immer mehr EigentümerInnen) – das ist keine sozialistische, sondern schlicht eine republikanische Forderung; die Reorganisation der Produktion zugunsten des Binnenmarktes: Heute kommen die Multis her und kontrollieren die Produktion, den Handel, die Preise; die Entwicklung neuer Anbautechniken, denn jene der Multis sind umweltfeindlich; Aus- und Fortbildung der Bauern; und schliesslich die Verbreitung kleiner Agroindustrien im Hinterland, um dort Arbeitsplätze zu schaffen.»

Herzensangelegenheit Agrosprit

Brasilien wurde von der weltweiten Nahrungsmittelkrise weniger getroffen als die meisten Nachbarländer, denn noch immer stellen die kleinbäuerlichen Familienbetriebe gut sechzig Prozent der Lebensmittel her. Zwar liegt die Teuerungsrate bei Lebensmitteln doppelt so hoch wie die Gesamtinflation, doch da die Kaufkraft der Armen durch Sozialprogramme der Regierung und die Steigerung des Mindestlohns in den letzten Jahren spürbar zugenommen hat, wenden sie «nur» vierzig Prozent ihres Monatsbudgets für die Ernährung auf. In manchen Ländern Zentralamerikas ist dieser Anteil doppelt so hoch.

Der Preisanstieg der Lebensmittel habe viel mit den «Gewinnen aus den international gehandelten Agrarprodukten» wie Ethanol zu tun, meint José Batista de Oliveira von der MST in São Paulo. Entsprechend haben «die Bauern drei Möglichkeiten: Sie erhöhen die Preise für ihre eigenen Produkte, sie stellen auf lukrativere Produkte um, oder sie verschwinden vom Markt», sagt Oliveira.

Die Förderung von Agrotreibstoffen hat Präsident Lula zur Herzensangelegenheit seiner zweiten Amtsperiode erklärt. Bei jeder Gelegenheit schwärmt er von Ethanol oder Agrodiesel als Wunderwaffen gegen Armut und den Klimawandel. «Die Biokraftstoffe sind nicht die Bösewichte, die die Nahrungssicherheit in den ärmsten Ländern bedrohen», sagte er jüngst an einem Regionaltreffen der Uno-Welternährungsorganisation FAO in Brasília. Wenn sie gemäss den wirtschaftlichen Realitäten jedes Landes entsprechend entwickelt würden, dann könnten sie «im Gegenteil ein wichtiges Instrument sein, um Einkommen, Nahrungs- und Energie­sicherheit zu schaffen».

Er überliess es seinem Minister für ländliche Entwicklung, die programmatischen Grundlagen der brasilianischen Regierungspolitik für die Kleinbäuer­Innen darzulegen. Guilherme Cassel plädierte für «mehr kleinbäuerlichen Landbau, mehr öffentliche Politik, mehr Agrarreform». Im 21. Jahrhundert sei ein «neues, ein agroökologisches und soziales Produktionsmodell» festzuschreiben: «Darin gibt es keinen Platz für Monokulturen, Grossgrundbesitz und umweltzerstörerische Produktionsformen», so der Minister. Seine Kompromissformel lautet: «Biotreibstoffe ja, aber Vorrang hat die Nahrungsmittelproduktion.» Doch entgegen seiner Vision wird die Regierung Lula auch künftig nicht nur auf die Förderung der Familienbetriebe setzen, sondern mehr noch auf die lukrativen Monokulturen und Devisenbringer wie Zucker oder Ethanol, Soja und Eukalyptus.

Zuschüsse machen bequem

Der MST wiederum fehlt inzwischen die Kraft, um ihre eigene «neue Agrarreform» durchzusetzen. «Es herrscht eine Art Lähmung», stellt der Befreiungstheologe Paulo Suess aus São Paulo fest. «Lula hat die sozialen Bewegungen mit Essensrationen und anderen Abfindungen gekauft.»

Auf die MST trifft dies besonders zu. So stärken die Millionen Reais, die jährlich aus verschiedenen Ministerien an MST-nahe Kooperativen oder direkt an die Familien fliessen, die Landlosen und garantieren zugleich, dass diese nie mit der Regierung Lula brechen – egal, wie gross die politischen Differenzen sind oder wie stockend die Landreform vor­angeht.

Noch gravierender sind die indirek­ten Auswirkungen der Familienstipen­dien «Bolsa-Família», jener Monats­zuschüsse, die mittlerweile elf Millionen Familien zufliessen. «Einerseits lösen sie ein soziales Problem, weil diese Familien im absoluten Elend hausten», sagt Stedile. «Andererseits werden diese Familien in gewisser Weise bequem, das Programm hat Apathie erzeugt.»

Deshalb wird es für die MST-Aktivist­Innen immer schwieriger, in den städtischen Armenvierteln neue Mitglieder für Landbesetzungen oder andere Proteste zu rekrutieren. «Die Leute aus den Städten waren immer unsere Zielgruppe», sagt Ezequias Dias Silva aus dem Bundesstaat Roraima. «Doch jetzt wollen sie nicht mehr aufs Land und das harte Leben in den Camps auf sich nehmen.»

Immer weniger «acampados»

Seit 2003 sinkt die Zahl der neu eingerichteten Zeltlager kontinuierlich: Von 285 bis hin zu 48 im letzten Jahr, so die Zahlen der mit der MST eng verbundenen katholischen Landpastorale CPT. Gleichzeitig werden die bereits bestehenden Camps am Rande der Landstrassen immer weniger frequentiert. Im Westen des Bundesstaats São Paulo ist die Zahl der «acampados» seit 2003 um sechzig Prozent zurückgegangen. Andererseits verteilt die Regierung weit weniger Land als früher – 2007 kaufte sie in ganz Brasilien gerade 2000 Quadratkilometer zu diesem Zweck. Das reicht etwa für 6000 Familien.

«Weil es kein neues Land gibt, suchen sich die Leute etwas anderes», meint die MST-Koordinatorin Francisca Angela dos Santos Souza. In den Städten ist es leichter, von den Sozialprogrammen zu profitieren, aber auch an Jobs heranzukommen. Die Wirtschaft boomt noch immer, die Reallöhne steigen und damit auch die Binnennachfrage – die Arbeitslosigkeit sinkt. Präsident Lula strotzt vor Selbstbewusstsein. Doch weder die günstige Wirtschaftslage noch seine politische Stärke will er für Strukturreformen nutzen. Seine Philosophie fasst er folgendermassen zusammen: «Wer vom Volk gewählt ist, muss genauso für den Banker sorgen wie für ein Strassenkind.»

Monokulturen auf dem Vormarsch

Brasiliens Regierung fördert die lukrativen Monokulturen mit Eukalyptus, Soja und Zuckerrohr nach Kräften: «Unser Land wird von den Zellstoffmultis bedroht», sagt Terezinha Schäfer aus der Kooperative der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) bei Porto Alegre. «Es ist nicht gut für die Zukunft unserer Kinder, wenn eine Monokultur wie der Eukalyptus unsere Böden zerstört und das Wasser verseucht.» Vor zwei Jahren setzte die brasilianische Landfrauenbewegung ein Zeichen: Von der Kooperative aus fuhren Hunderte im Morgengrauen zu einer Versuchsfarm des brasilianisch-norwegischen Konzerns Aracruz und zerstörten Millionen Eukalyptussetzlinge (siehe WOZ Nr. 25/06). Seither wird über das Thema immerhin öffentlich gestritten - doch die rechte Landesregierung von Rio Grande do Sul erteilt die Genehmigun­gen für neue Plantagen und Zellstoffwerke im Schnellverfahren, und Brasília steuert über die Entwicklungsbank BNDES günstige Millionenkredite bei.

Soja und Zuckerrohr bedrohen vor allem die ökologisch wertvolle Cerrado-Savanne im Mittelwesten und im Nordosten und verdrängen die Viehzucht nach Amazonien. Bislang wird der meis­te Agrodiesel aus Soja hergestellt. Andere Regierungsprogramme für KleinbäuerInnen, die vor allem im Nordosten beispielsweise Rizinus und andere ölhaltige Pflanzen für den gleichen Zweck anbauen sollen, leiden unter Startschwierigkeiten. Zudem ist durch den Ethanolboom der Bundesstaat São Paulo heute mehr denn je die Hochburg des Zuckerrohrs.

Padre Antonio Garcia, der in der Kleinstadt Guariba die Wanderarbeiter­Innen aus dem armen Nordosten betreut, hat die Veränderungen der letzten zwanzig Jahre hautnah miterlebt. «Das Zuckerrohr ist in die Region der Früchte eingefallen», sagt Garcia, «man findet nur noch wenige Orangen, Guaven, Zwiebeln oder Kartoffeln.» Mittlerweile wächst das Zuckerrohr landesweit auf gut 70 000 Quadratkilometern, das ist doppelt so viel wie 1990 und mehr als ein Zehntel der landwirtschaftlichen Anbaufläche. Setze sich ­diese Entwicklung fort, werde Brasilien eines Tages sogar die Grundnahrungsmittel Bohnen, Reis und Maniok importieren müssen, fürchtet Garcia.

Gerhard Dilger