Medientagebuch: Rodungsplatz Tamedia

Nr. 23 –

Nach welchen Kriterien werden jetzt beim «Tages-Anzeiger» hundert zu Entlassende ausgewählt?

Die Vierwortphrase geniesst in der Branche Legendenstatus: Mit «Bad News für dich!», so die ­Überlieferung, habe Roger Köppel altgediente Mit­arbeitern der «Weltwoche» ihre Entlassung eröffnet. So abserviert hat Köppel damals auch einen Artur K. Vogel. Heute muss dieser Vogel im Tamedia-Auftrag in Bern reinemachen und als Chefredaktor die «Bund»-Redaktion ausdünnen. Vogels Kollege beim «Tages-Anzeiger», Res Strehle, wusste bereits bei der Ernennung, welches sei­ne erste Amtshandlung an der «Tagi»-Spit­ze sein würde: fast hundert Kolle­gen –­ über fünfzig Vollzeitstellen – zu kündi­gen. Das hat Strehle getan respektive seine Ressortleiter, die den Sparbefehl von oben ausführen mussten; drei Tage lang, im Halbstundentakt.

Wer heute eine Stelle als Chefredaktor einer Tageszeitung antritt, weiss eines: Zum Anforderungsprofil gehört es, Mitarbeiter zu entlassen, nicht einzelne, sondern Massen. Dafür sind die meisten Chefs schlecht vorbereitet. Die­se oder jene Kündigung mögen sie früher schon ausgesprochen haben. Nicht aber dutzendfach. Nun gibt es freilich einen grossen Spielraum, wie Kündigungen mitgeteilt und abgewickelt werden. Köppel legte die Latte tief. Kaltschnäuziger als mit einem «Bad News!» geht es nicht. Doch die «Basler Zeitung» unter der Leitung von Mat­thias Geering kam dieser Benchmark ziemlich nahe. Für den Tag X wurde die Belegschaft angewiesen, im Büro präsent zu sein. Wer dann einen Anruf kriegte, musste zum Chef – den blauen Brief abholen. Als besonders unsensibel erwies sich diese Methode in den Gross­raumbüros. Da kommt schon mal eine Stimmung auf, wie bei MusicStar: bei Anruf Rausschmiss. Gespannt durften wir also sein, wie Branchenleader Tamedia die neueste Massenentlassung meistern würde. Die «Facts»-Schliessung liegt ja keine zwei Jahre zurück.

Und tatsächlich: An der Werdstrasse scheint man gelernt zu haben. Mussten sich bei «Facts» die Personalvertreter­Innen und Berufsverbände erst einmal ihren Platz am Verhandlungstisch für einen Sozialplan erstreiten, so sind sie nun bei «Tages-Anzeiger» und «Bund» von Anfang an dabei. Allerdings verbessert die Lektion in Sachen Entlassung die Gesamtbilanz bisher in keiner Weise: Denn weder beim «Tagi» noch beim «Bund» haben Chefredaktion und Verlag transparent gemacht, nach welchen Kriterien entlassen wurde. So lange hierzu eine Erklärung fehlt, bleibt bei den Betroffenen (und bei den andern) das ungute Gefühl, ein verdeckter Plan, eine «hidden agenda», habe den Abbauentscheid geleitet. Weshalb, so fragt man sich in Bern und Zürich, hat Tamedia zum Beispiel ausgerechnet die beiden Präsidenten der Personalkommissionen entlassen? Oder: Weshalb trifft es in Bern auffällig viele Frauen?

«Wenn die Kriterien zur Auswahl unklar sind, hinterlassen Abbauprozesse tiefe Wunden», warnte wohl nicht ganz zufällig vor zwei Wochen im «Bund» Entlassungsexperte Laurenz Andrzejewski. Doch die Chefs haben sich nicht an seinen Rat gehalten – im Gegenteil. Heute liest sich seine Empfehlung wie ein Masterplan für den aktuellen Stellenabbau. Als besonders perfid empfunden wird etwa das Vorgehen von Tamedia gegenüber älteren MitarbeiterInnen: Selbst wer nur noch ein paar Monate bis zur regulären Frühpensionierung zu arbeiten gehabt­ hätte, erhielt die Kündigung. Die Entlassenen sollen ihre Frühpensionierung, so sie denn gewährt wird, als gnädige Geste des Unternehmens zu würdigen wissen.

Wegen all der berechtigten Enttäuschung und Aufregung geht ganz vergessen, dass hinter der Massenentlassung offiziell als Ziel die erfolgreiche Weiterführung zweier traditionsreicher Tageszeitungen steht. Die grosse Sorge um die Zukunft von «Tages-Anzeiger» und «Bund» ist es denn auch, was Entlassene und Weiterbeschäftigte eint. Denn durch die Rauchschwaden, die immer noch über dem Rodungsplatz hängen, wird immer deutlicher erkennbar, dass Tamedia das riskante Kunststück wagt, mit substanziell ausgedünnten Redaktionen weiterhin journalistische Qualität abliefern zu wollen. An dieser Quadratur des Kreises haben sich schon so manche versucht.
Nick Lüthi ist Chefredaktor des Medienmagazins «klartext».