Krise - und der Protest?: Der Super-Retter kommt nie
Überkapazitäten, Lohnkürzungen, Entlassungen - die Automobilindustrie steckt im Schlamassel. Der Ausweg wäre einfach: Weg von der Fixierung auf das Auto, hin zur Herstellung von sozial- und umweltverträglichen Produkten.
«Eine Region steht auf!» hiess die Parole am 13. Mai, als rund 18 000 Personen in der Region Stuttgart gegen Lohnabbau und Entlassungen in den Autowerken von Daimler demonstrierten. Am Daimler-Konzernsitz in Stuttgart-Untertürkheim waren nur 3000 vor das Werkstor gekommen. Dabei arbeiten über 20 000 Personen in diesem Werk - keine überzeugende Machtdemonstration.
Warum ist das so? Müsste die Krisensituation im Autobau nicht wenigstens die Daimler-Angestellten in Massen vors Tor treiben? Greifen die Parolen nicht genau deren Gefühlslage und Bedürfnisse auf? Das tun sie zwar. Aber der Kontrast der Parolen zur tatsächlichen Politik der Daimler-Betriebsratsspitzen ist so krass, dass die besten Parolen ihre Wirkung verfehlen. Denn die Gewerkschaft IG Metall und die Betriebsratsspitzen, die eigentlich die Interessen der Angestellten vertreten sollten, unterschätzen nach wie vor die Bedeutung der Glaubwürdigkeit. So verwendete Helmut Lense, der Vorsitzende des Untertürkheimer Daimler-Betriebsrats, den Grossteil seiner Redezeit an der Kundgebung dafür, die Vereinbarung zur Arbeitskostensenkung zu rechtfertigen, die wenige Tage vorher mit dem Vorstand abgeschlossen worden war. Diese verordnet der Belegschaft einen Lohnverzicht in Höhe von zwei Milliarden Euro. Genau dagegen aber sollte die Region eigentlich am Werkstor demonstrieren ...
Lohnverzicht für Dividende
Mit der Vereinbarung zur Arbeitskostensenkung wurde festgelegt, dass die Auszahlung der Gewinnbeteiligung fürs Geschäftsjahr 2008 auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Weiter wird allen MitarbeiterInnen, die nicht in Kurzarbeit sind, Lohn und Arbeitszeit um 8,75 Prozent gekürzt. Entsprechend niedriger fällt auch das tariflich festgelegte Urlaubs- und Weihnachtsgeld aus. Für viele Entwicklungs-, Dienstleistungs- und Verwaltungsbereiche bedeutet das: weniger Lohn für mindestens die gleiche Menge Arbeit. Denn Projekte werden kaum gestrichen. Im Gegenzug verzichtet das Unternehmen vorläufig bis Ende Jahr auf betriebsbedingte Kündigungen.
2004 hatte der Betriebsrat schon einmal einem Lohnkostensenkungspaket von 500 Millionen Euro zugestimmt und damit Kündigungen bis 2011 ausschliessen wollen. Aber jetzt, wo dieser Kündigungsschutz gebraucht würde, gilt er doch nicht für die gesamte Belegschaft. Damals hatte es bundesweite Protest- und Aktionstage aller Daimler-Belegschaften gegeben. Heute hingegen stellen Gesamtbetriebsrat und Vorstand gemeinsam die Lage des Daimler-Konzerns als existenzbedrohlich dar. Kein Vorstand konnte die Situation schwärzer malen als die Betriebsratsvorsitzenden auf den Betriebsversammlungen.
Die «Operation Verunsicherung» hat ihre Wirkung getan: Spontane Gegenwehr gegen die Lohnkürzung ist ausgeblieben. Die breite Ablehnung bis weit in Angestelltenkreise hinein drückt sich bisher eher grummelnd aus als aktiv und kämpferisch.
Die Argumentation der Verunsicherungsstrategen in der Betriebsratsmehrheit offenbart eine tiefe Hilflosigkeit. Die Vereinbarung sei wertvoll, schreiben sie, denn sie organisiere «wenige Monate Zeit, um überhaupt die Chance zu haben, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen». Wäre da ein Licht zu sehen, gäbe es einen Grund für eine Zwei-Milliarden-Lohnkürzung? Hätte man nicht vielleicht über eine spätere Rückzahlung diskutieren können? Stattdessen stimmte der Aufsichtsrat der Ausschüttung einer Dividende von insgesamt 600 Millionen Euro an die Aktionäre zu.
Ein Verzicht auf Dividendenausschüttung war in der Vergangenheit in Unternehmen mit existenziellen Problemen ein unbeliebter, aber logischer Vorgang. Damit blieb immerhin der Schein eines «unternehmerischen Risikos» für die Aktionäre gewahrt.
Bildung statt Autos
«Zeit gewinnen, um das Licht am Ende des Tunnels sehen zu können» - was meinen die Betriebsratsspitzen mit dieser Formel? Die Autoindustrie hat weltweit Überkapazitäten von 25 bis 30 Prozent aufgebaut, auch im Luxussegment. Die brachliegenden Kapazitäten verhindern Profitraten in den geforderten Grössenordnungen, sorgen für schlechte Performance, schlechte Aktienkurse und schlechte Konditionen, um Geld zu leihen. Bevor sich daran etwas ändert, müssen die Überkapazitäten vernichtet werden. Ist also «Zeit gewinnen» nur eine wolkige Umschreibung für die Hoffnung, dass andere schneller über die Klinge springen und es dann im «eigenen» Laden wieder bergauf geht?
Wofür also «Zeit gewinnen»? Und was tun in der Zwischenzeit? Denn die Situation wird sich voraussichtlich nicht verbessern, die Konjunktur der Autoindustrie nicht so schnell anspringen. Der deutsche Verband der Automobilindustrie rechnet sogar mit fünf Jahren Flaute, bis die Überkapazitäten und mit ihnen die Arbeitsplätze vernichtet sind.
«Zeit gewinnen» müssten die Gewerkschaften also, um Konzepte gegen die Arbeitsplatzvernichtung zu formulieren und vertraglich zu verankern. Denn die wird auf die Tagesordnung gesetzt werden. Und die Gewerkschaften sind mit ihrer bisherigen Orientierung dafür denkbar schlecht gewappnet. Da ist zu viel falsche Annäherung an die SPD im Polit-Casting «Deutschland sucht den Super-Retter». Die Gewerkschaften hoffen auf deren Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl im Herbst. Tatsächlich setzt die SPD politisch auf ein «Weiter so!» und hat als Regierungspartei seit 1994 massgeblich dazu beigetragen, die Zustände herbeizuführen, die sie jetzt angeblich bekämpfen will. Bei allen strategisch wichtigen Themen führt die Orientierung an der SPD die Gewerkschaften in die Sackgasse: Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich - kein Thema. Umverteilung von oben nach unten - kein Thema. 100-Milliarden-Konversionsfonds zum ökologischen Umbau von Produkten und Produktion, wie von der Partei Die Linke gefordert - kein Thema.
Gerade weil die Autounternehmen selbst die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen auf die Tagesordnung setzen, müssen gewerkschaftliche Konzepte ein Umsteuern weg vom dominierenden Individualverkehr mitdenken. Denn schrumpfen wird die Branche sowieso. Und etliche Beispiele belegen, dass Arbeitsplätze in gesellschaftlich nützlichen Bereichen eine Schrumpfung der Autobranche auffangen können, wenn politisch entsprechende Prioritäten gesetzt werden. Denn die Investitionen für einen Arbeitsplatz sind im Autobau viel höher als im sozialen Bereich. Würden beispielsweisen Klassen- und Gruppengrössen in Deutschland auf zwanzig Kinder in Schule und Kindergarten festgelegt, entstünde ein Mehrbedarf von rund 700 000 Erzieherinnen und Lehrern.
Arbeit sichern
Ein Umbau der Produktion in der Autoindustrie hin zu sozial- und umweltverträglichen Produkten kann nur dann eine Chance haben, wenn damit eine Perspektive verbunden ist, die Arbeit und Einkommen sichert. Und das Problem ist einfacher zu lösen, als oft behauptet wird. Das Totschlagargument der Auto- und Erdöllobby und der wahlkämpfenden SPD-KandidatInnen ist falsch: Es hängt eben nicht jeder siebte Arbeitsplatz von der Autoindustrie ab. Der Verband der Autoindustrie verankerte dies erfolgreich in fast allen Köpfen - mit einem Rechentrick. Ohne Trickserei hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung im Jahr 2000 errechnet, dass tatsächlich nur jeder zwanzigste Arbeitsplatz autoabhängig ist.
Tom Adler ist IG-Metall-Betriebsrat der Alternativen Liste im Daimler-Werk Stuttgart-Untertürkheim.