Arabische Welt: Wie ist es: Darf ein Muslim Cola trinken?

Nr. 33 –

Ein Greis, berühmt wie ein Popstar: Der 83-jährige Islamgelehrte Yusuf al-Karadawi ist der populärste Mufti der arabischen Welt. 35 Millionen Menschen schauen ihm auf al-Dschasira zu.


Ein kurzes Räuspern, dann setzt Yusuf al-Karadawi mit heiserer Stimme zum Monolog an: «Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen», beginnt er wie immer mit seinen Ausführungen. Der Islam sei ein System für das Individuum, für die muslimische Familie, die islamische Gesellschaft – und die Gemeinschaft der Muslime. Nur kurz war die Einführung des Moderators, ab jetzt spricht nur noch er – wie so oft am Sonntagabend, um 22.05 Uhr, Ortszeit Mekka. Auf dem arabischen Fernsehsender al-Dschasira.

In der Sendung «Das islamische Recht und der Alltag» ist der Ägypter al-Karadawi immer wieder Gast. Jede Woche erläutert dort ein Islamgelehrter, wie MuslimInnen in der modernen Welt ein islamisch korrektes Leben führen können. Die ZuschauerInnen sind aufgerufen, ins Studio anzurufen, um Fragen zu stellen. Die Themen: das Verhältnis zwischen Eheleuten, das islamische Bankensystem und das Zinsverbot oder etwa die Jugend und der Glaube.

Heute geht es um die Kleidung der Frau. Al-Karadawis Worte sind eine Mischung aus Modernisierungskritik, Modeanalyse und Kritik am Westen. Fast regungslos sitzt er hinter seinem Pult – analysiert in ruhigem Ton und wird immer wieder laut, wenn er mit seinen Mahnungen beginnt. Und immer verweist er auf die religiösen Texte: Kein Argument für das Tragen des Kopftuchs, das er nicht mit einem Koranzitat unterlegt, keine Kritik am Kopftuchverbot in den öffentlichen Institutionen der Türkei, ohne auf einen Ausspruch des Propheten Mohammed zu verweisen.

Popstar mit Bodyguards

Yusuf al-Karadawi, der graue Mann im farbigen Fernsehstudio, ist vielleicht der populärste islamische Gelehrte weltweit. Das sagt die Islamwissenschaftlerin Bettina Gräf. Sie hat an der Freien Universität Berlin über al-Karadawi dissertiert. Das Fernsehen hat den heute 83-Jährigen berühmt gemacht. In den arabischsprachigen Ländern kennen ihn fast alle, die eine Satellitenschüssel auf ihrem Dach haben. 35 Millionen Menschen schauen ihm auf al-Dschasira zu. Wenn er an einer öffentlichen Veranstaltung auftritt, lässt er sich wie ein Popstar von Bodyguards begleiten.

Doch Popularität ist nicht gleich Autorität: Ob sich al-Karadawis ZuschauerInnen an das halten, was er ihnen in die Stuben predigt, sei ungewiss, sagt Islamwissenschaftlerin Gräf. Viele kennen ihn zwar; ob sie ihn aber auch anerkennen, ist eine andere Frage. Al-Karadawis Worte erhalten vor allem Autorität und Einfluss, wenn andere, weniger populäre, dafür einflussreichere Gelehrte, ihn zitieren.

Zitiert wird nicht nur, was al-Karadawi auf dem Bildschirm predigt. Andere Gelehrte nehmen auch immer wieder Bezug auf al-Karadawis Bücher. Seine Schriften wie «Erlaubtes und Verbotenes im Islam» sind Standardwerke der modernen islamischen Literatur und liegen in Übersetzungen auch in Europas Moscheen auf. Nicht arabischsprechende MuslimInnen kennen al-Karadawi aus diesen Büchern. Oder aus dem Internet: Al-Karadawis Portal www.islamonline.net beschäftigt rund 180 Leute. Auf der Website können sich MuslimInnen auf Englisch oder Arabisch über ihre Religion informieren und in verschiedenen Foren über alles Mögliche diskutieren: Gesundheit, Politik, Wirtschaft, Kunst oder Kultur. Die Idee, Islam online zu gründen, hatte zwar die Informatikstudentin Maryam al-Hadschari aus Katar. Doch heute verbindet man das Portal vor allem mit dem Namen al-Karadawi. Er hat das Projekt finanziell und über seine Beziehungen zu anderen Gelehrten unterstützt.

Herzstück von Islam online ist der Fatwadienst: Jeden Tag beantworten al-Karadawi und andere Islamgelehrte auf der Internetseite Fragen von MuslimInnen auf der ganzen Welt und erteilen nicht bindende Rechtsgutachten, sogenannte Fatwas. Ist es unislamisch, auf der Toilette zu lesen? Darf ein Muslim in Dänemark wählen, wo Zeitungen in Karikaturen den Propheten Mohammed beleidigt haben? Darf ich als Muslim Coca-Cola trinken? Ist mein Gebet ungültig, wenn mein Handy dabei klingelt? Darf ich mir während des Fastenmonats Ramadan die Zähne putzen? Wie steht es im Islam mit der Homosexualität?

Fünfzig Fatwas erteilen die Onlinegelehrten täglich. «Die meisten Fragen betreffen die zeitgemässe Ausübung der religiösen Pflichten wie die fünf Gebete pro Tag», sagt Gräf. Viele MuslimInnen wollten wissen, wie sie heutzutage diesen Pflichten nachkommen können, zum Beispiel, vor allem jene, die den ganzen Tag über arbeiten. An zweiter Stelle kommen Fragen zur Familie, etwa: Dürfen meine Eltern entscheiden, wen ich heiraten soll? «Politische Fragen scheinen weniger wichtig, die kommen erst auf Platz fünf.»

Computer aufstarten, ins Internet einloggen, Frage tippen und Minuten später die Antwort erhalten: So einfach hatten es die ersten MuslimInnen vor rund 1400 Jahren noch nicht, wenn sie sich über ein islamisch korrektes Leben informieren wollten. Doch auch sie hatten ihre al-Karadawis. Denn das Amt des religiösen Ratgebers gibt es im Islam schon seit Jahrhunderten.

«Im Wein liegt Nutzen – und Sünde»

Der erste Ratgebende war der Prophet Mohammed selbst. Die Antworten auf die Fragen, die die ersten Gläubigen an ihn herantrugen, wurden ihm angeblich von Gott eingegeben. «Sie fragen dich nach dem Wein und dem Glücksspiel», spricht Gott zum Beispiel in der zweiten Koransure zu seinem Propheten. «Sag: In ihnen liegt eine grosse Sünde und auch vielfacher Nutzen für die Menschen. Aber die Sünde in ihnen ist grösser als der Nutzen.»

Nach Mohammeds Tod beantworteten Religionsgelehrte die Fragen der MuslimInnen aufgrund dessen, was im Koran und den gesammelten Prophetenaussprüchen steht. Sie wurden zu Vermittlern zwischen der Theorie der religiösen Texte und dem irdischen Leben der MuslimInnen. So entstand die Funktion des Muftis, dessen Aufgabe es ist, Fragen des Mustaftis, des Fragenden, zu beantworten. Muftis dürfen theoretisch alle Muslime werden, die sich im islamischen Recht, der Scharia (vgl. «Was ist die Scharia?»), genügend auskennen – sogar Sklaven, Blinde und Taube. Auch Frauen dürfen das Amt ausüben – in Indien und der Türkei. Erste «Muftia» soll Aischa gewesen sein, die dritte Frau des Propheten Mohammed.

Was al-Karadawi macht, ist also nicht neu. Wie er es macht und dass ein Mufti vor allem wegen seiner öffentlichen Auftritte berühmt wird dagegen schon. Zwar gibt es auch andere Muftis, die im Fernsehen auftreten, und auch andere Online-Fatwadienste. Doch kein Gelehrtengesicht ist bisher so oft über die Bildschirme geflimmert wie das von al-Karadawi. Immer wieder wird er deshalb als «Fernsehmufti», «Onlinemufti» oder «Medienmufti» bezeichnet.

Pragmatische Gelehrte

Wichtiger jedoch als die Anwendung neuartiger Medien für die Verbreitung von Fatwas ist etwas anderes: Für al-Karadawi arbeiten nicht mehr nur Schariagelehrte, also solche, die sich im islamischen Recht auskennen. Al-Karadawi bezieht auch ExpertInnen anderer Gebiete mit in seine Ratschläge ein: «Auch Sportexperten, Kunsthistoriker, Gesundheitsexperten, Psychologen oder Ökonomen geben in den jeweiligen Sektionen auf Islamonline Auskunft», sagt Islamwissenschaftlerin Gräf. «Auch sie argumentieren mit Koran und Prophetenaussprüchen; ihre Expertise aus ihrem Spezialgebiet fliesst jedoch in ihre Empfehlungen mit ein.» Dass solche Leute einbezogen werden, sei wichtig, weil die Schariaexperten nicht mehr in allen Bereichen Auskunft geben können, die das moderne Leben bestimmen.

So gelangen al-Karadawis Ratgeber denn auch meistens zu pragmatischen Ratschlägen, die den MuslimInnen ihr Leben in ihrem jeweiligen Umfeld erleichtern sollen. Zwar sprechen sich auch die Medienmuftis gegen Homosexualität aus: Sie sei eine Krankheit, die geheilt werden müsse. Doch MuslimInnen dürfen Cola trinken und auf der Toilette lesen, solange das Wort «Gott» im gelesenen Text nicht vorkommt. Und der Muslim mit dem dänischen Pass darf in Dänemark wählen: Jeder Muslim solle dort wählen, wo er wählen darf, und jenen Parteien seine Stimme geben, die gegen das Negativbild kämpfen, das dem Islam anhaftet. Auch Zähneputzen während des Fastenmonats ist erlaubt, solange keine Zahnpasta in den Magen gelangt. Und wenn das Handy klingelt beim Gebet, ist dieses nur dann ungültig, wenn es immer und immer wieder klingelt, schreiben al-Karadawis Muftis.

Al-Karadawi selbst nimmt im Al-Dschasira-Studio an diesem Abend die letzte Frage entgegen. Es ist kurz vor 23 Uhr. Al-Karadawis letzte Ausführungen sind ein Plädoyer gegen das Kopftuchverbot an Frankreichs Schulen. Ali aus Deutschland hat den Gelehrten auf das Thema aufmerksam gemacht. Al-Karadawis Ausführungen sind jetzt nicht mehr so theoretisch wie zu Sendungsbeginn, sondern politisch und emotional. Er sitzt nicht mehr ruhig hinter dem Pult; er gestikuliert wild, wenn er redet.

Plötzlich wird er vom Moderator unterbrochen. Die Sendezeit ist um.


Was ist die Scharia?

Die Scharia ist eine Art Wegweiser, den Gott den Menschen geschenkt haben soll, damit diese ein ethisch richtiges Leben führen. Auch im Koran, in dem das Wort «Scharia» nur einmal vorkommt, bedeutet Scharia «der richtige, von Gott befohlene Weg».

Die Scharia ist demnach kein physisch klar erkennbarer Textkorpus, kein Buch wie etwa die Schweizer Bundesverfassung. Die Regeln der Scharia befinden sich in den göttlichen Offenbarungen und müssen zuerst vom Menschen erkannt und nutzbar gemacht werden.

Dies ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft (arabisch «Fikh»). Die Rechtsgelehrten wenden unterschiedliche Methoden an, um aus verschiedenen Quellen, die sie unterschiedlich stark gewichten, Recht abzuleiten. Die beiden Hauptquellen, aus denen sie das Recht ableiten, sind der Koran und die Prophetenaussprüche oder Prophetentradition, die Sunna.

Erst durch die Aktivität der Rechtsgelehrten wird die Scharia somit zu fassbaren juristischen Texten: Die Juristen verwandeln die Scharia in Recht. Erst durch die Rechtsgelehrten entstehen Texte, anhand derer einzelne Fälle beurteilt werden.

Diese Rechtsliteratur ist jedoch stets dem Wandel unterworfen: Durch die Neuinterpretation von Rechtsfällen werden die existierenden Texte ergänzt und abgeändert. Eine genaue Kodifizierung und Fixierung der Scharia ist daher nicht möglich. Somit ist Scharia in der Praxis sogenanntes Juristenrecht: Es bildet sich bloss dank der wissenschaftlichen Tätigkeit der Rechtsgelehrten.

Heute spielt die Scharia bei der Gesetzgebung in den meisten Staaten des islamischen Orients eine untergeordnete Rolle. Dies ist vor allem auf den zunehmenden Einfluss westlicher Mächte in dieser Region seit dem 19. Jahrhundert zurückzuführen. Die in dieser Zeit entstandenen Nationalstaaten erhielten Konstitutionen und Gesetze, die sich an westlichen Rechtstraditionen orientierten. Da die Scharia jedoch auch das Verhältnis des Menschen zu Gott regelt, dient sie den MuslimInnen im Alltagsleben als Leitlinie für eine islamisch korrekte Lebensweise.