China: Die Partei mit den Streifen

Nr. 34 –

Ende vergangener Woche haben zum zweiten Mal innert kurzer Zeit massive Proteste eine Privatisierung von Staatsfirmen verhindert. Stehen nach den Wirtschaftsreformen der letzten dreissig Jahre nun politische Veränderungen an? Und falls ja: Wohin entwickelt sich die Kommunistische Partei?


«Hör auf die Partei», steht auf der vierzehn Stockwerke hohen Leuchttafel an einem der Hochhäuser am dritten Beijinger Stadtring. Nach zehn Sekunden wechselt das Bild: Nun ist eine Werbung für hochprozentigen Schnaps der Marke Shede zu sehen, 440 Yuan (rund 70 Franken) kostet die Halbliterflasche.

Dass niemanden stört, wenn sich Partei- und Schnapswerbung derart reibungslos abwechseln, hat vielleicht mit der Geschichte zu tun, die Zhang Weiying erzählt. «Es war einmal ein Dorf, in dem alle Einwohner mit Pferden arbeiteten. Die Dorfältesten hatten immer die Überlegenheit der Pferde über die im Nachbardorf verwendeten Zebras betont. Nach langer Zeit stellten sie jedoch fest, dass die Zebras viel besser arbeiteten.» Das Problem, so fährt der Professor für Management und einer der bekanntesten chinesischen Neoliberalen fort, «war nun, dass die Bevölkerung jahrelang Propaganda fürs Pferd gehört hatte. Also schmiedeten die Dorfältesten einen Plan: Sie malten nachts schwarze Streifen auf die Pferde und erzählten am nächsten Morgen, dass sich ausser ein paar unwichtigen Streifen nichts geändert habe. So gewöhnte sich das Dorf an die gestreiften Tiere.» Nach einer Weile seien dann die Tiere ausgetauscht worden. So etwa, sagt der Beijinger Universitätslehrer, war das auch mit den Wirtschaftsreformen.

Die Streifen hiessen: «Anfangsphase des Sozialismus», «Sozialismus chinesischer Prägung», «Sozialistische Marktwirtschaft». 1999 kam ein weiterer Streifen dazu, als die «Rechte und Interessen der Privatunternehmer» in die Verfassung aufgenommen wurden. Und seit Juli 2001 – noch ein Streifen – dürfen PrivatunternehmerInnen Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) werden. Der Bevölkerung aber wurde offiziell noch nicht mitgeteilt, dass nun Zebras im Dorf sind: Der Marxismus-Leninismus und die Gedanken Mao Zedongs stehen genauso im Parteistatut wie die Theorien des Reformers Deng Xiaoping und die «Wissenschaftlichen Entwicklungsstandpunkte» des heutigen KPCh-Generalsekretärs und Staatspräsidenten Hu Jintao.

Hat es in China also nur wirtschaftliche Veränderungen gegeben? Nein, sagt die junge Journalistin Su Jing, die politischen Reformen würden im Westen nur nicht wahrgenommen. «Denn die politischen Reformen sind dazu da, die Herrschaft der Partei zu stärken, und nicht, um sie zu schwächen», erläutert sie. Mao Zedong oder Deng Xiaoping jedenfalls würden das politische System von heute nicht mehr wiedererkennen. Die Zeiten, in denen alte Männer von ihren Privatwohnungen aus über eine Milliarde Menschen durch sehr vage und in südchinesischen Dialekten gemurmelte Andeutungen regieren konnten, seien vorbei.

KP-Chef unter Hausarrest

Dabei war es Deng Xiaoping, der im Sommer 1980 erstmals von politischen Reformen sprach. In einer Rede vor dem Politbüro kritisierte er damals die Bürokratie und die zu grosse Konzentration der Macht. Allerdings ging es ihm, wie seinerzeit manche vermuteten, vor allem darum, den Mao-Zedong-Nachfolger Hua Guofeng zu schwächen. Das politische System, von dessen Überlegenheit er fest überzeugt war, wollte Deng nicht antasten – effizienter sollte es werden und die KPCh handlungsfähiger. Ein Mehrparteiensystem und Gewaltenteilung lehnte er ebenso ab wie eine zweite Parlamentskammer als Vertretungsorgan der Regionalinteressen. Demonstrationen, Proteste und Petitionen waren ihm ein Gräuel.

Bei Dengs designiertem Nachfolger, dem KPCh-Generalsekretär Zhao Ziyang, war das anders. Der verkündete 1987 ein weitreichendes Programm zur politischen Strukturreform. Es sollte Partei und Regierung schrittweise voneinander lösen – für Zhao eine Vorbedingung für das Gelingen der Wirtschaftsreformen. Ausserdem setzte er auf eine Öffnung der Partei: Die durch die Kommerzialisierung der Macht, durch Korruption und soziales Gefälle entstehenden Konflikte liessen sich nur durch «demokratische Kontrolle» lösen, durch freiere Presse und eine unabhängige Justiz. Gespräche mit VertreterInnen der Massenorganisationen wie Gewerkschaften oder Frauenverband – die sich stets in Einklang mit der Partei befinden – seien dafür kein Ersatz. Als Zhao auch noch im Mai 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit rebellierenden StudentInnen sprach, wurde er (bis zu seinem Tod 2005) unter Hausarrest gestellt.

Entscheidet der Koch?

Grundlegende Reformen sind seither tabu. Die KPCh hat «aus Angst, sich zu verschlucken, das Essen aufgeben», wie ein chinesisches Sprichwort besagt. So stellt sich auch dem heutigen KPCh-Generalsekretär und Staatspräsidenten Hu Jintao nicht die Frage, wer mit welcher Legitimation regieren soll, sondern nur, wie regiert werden soll. Und doch gibt es Änderungen. Fang Ning vom Institut für Politische Wissenschaften an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften erläutert sie so: «Westliche Demokratie ist wie die Wahl, die ein Gast zwischen einem französischen, italienischen oder deutschen Restaurant hat – wo der Chefkoch über das Menü entscheidet. In der chinesischen Demokratie haben wir immer den gleichen Koch – aber wir haben immer mehr Einfluss darauf, welches Gericht er kocht.»

Fangs «wir» gilt sicher auch für Leiter der vielen Forschungsinstitute wie ihn, aber zunächst gilt es für Privatunternehmen. Sie sind wichtig für den lokalen öffentlichen Haushalt, die Beschäftigungssituation und das politische Prestige der Lokalregierung – und bieten lukrative Zusatzeinkommen für einflussreiche Parteimitglieder, die über öffentliche Aufträge, Gründstücksgeschäfte, Kredite, Subventionen und letztlich über die Höhe der zu zahlenden Steuern entscheiden. Diese manchmal Kaderkapitalismus genannte lokale Interessengemeinschaft ist gut für das Wirtschaftswachstum, aber schlecht für die Zentralregierung. Diese kann aufgrund des regionalen Protektionismus etwa Umweltschutzgesetze oder Stabilisierungspakete nur schwer durchsetzen. Schlecht ist sie auch für die anderen Lokalregierungen, die im Standortwettbewerb mithalten müssen, für die Arbeiterinnen und die Bauern. Von denen verlieren etwa zwei Millionen pro Jahr ihr Land durch neue Flughäfen, Strassen, Fabriken oder andere Bauprojekte. An wen sollen sie sich wenden, um ihr Recht durchzusetzen?

Weiterbildung per SMS

Die schlimmsten Auswüchse dieses Kaderkapitalismus versucht die KPCh durch eine bessere Besetzung der Schlüsselpositionen in den Griff zu bekommen. So müssen Kader auf Kreisebene mindestens fünf Jahre Arbeitserfahrung haben, Kader auf der Provinzebene brauchen zumindest einen Bachelorabschluss. Ausserdem sollen künftig verstärkt «Moral, Fähigkeit, Fleiss, Erfolge und Ehrlichkeit» geprüft werden. Mehr Beachtung erhält auch die «parteiinterne Demokratie»: An Parteikongressen auf Provinz- und sogar nationaler Ebene überschreitet mittlerweile die Anzahl der KandidatInnen die der offenen Positionen um zwischen fünfzehn und dreissig Prozent – sodass zumindest die Delegierten eine Wahl haben.

Doch diese Korrekturen sind so einfach nicht. Ein grosses Problem bereitet etwa das niedrige Bildungsniveau der Parteimitglieder auf dem Land. Es soll nun angehoben werden – durch mehr längere Ausbildungszeiten in den Parteischulen, durch Online-Training im Internet oder durch «rote SMS» direkt aufs Handy.

Das zweite grosse Problem – die fehlende Identifikation der sehr gut ausgebildeten städtischen Parteimitglieder – ist schwerer zu lösen. Denn ideologische Säuberungskampagnen, mit denen in der Vergangenheit Parteimitglieder auf Parteilinie gebracht wurden, gibt es nicht mehr. «Die Motive für den Parteibeitritt sind vielfältiger geworden», sagt Li Zhongjie, Vizedirektor des Forschungsinstituts für Parteigeschichte des Zentralkomitees. Besonders berufliche Gründe spielten eine grosse Rolle. Hier sollen, so Li, neue parteiinterne Regeln greifen. Es werde nicht mehr nur auf die Leistung geschaut, sondern auch auf den Einsatz auf den Gebieten Umweltschutz und soziale Stabilität.

Opposition gegen Ausverkauf

Immer wieder betont die Partei- und Regierungsspitze, dass sie «auf der Seite des kleinen Mannes» stehe. Ihr ist ernsthaft an einer Mässigung des Kaderkapitalismus gelegen. Für die VerliererInnen der Wirtschaftsreformen geht das aber viel zu langsam. Bisher haben weder die «parteiinterne Demokratie» noch die neuen Regeln zur Kaderbeurteilung an ihrer Lage etwas geändert; den Glauben an das Rechtssystem haben die meisten ohnehin verloren. Nur wenige sehen in den neuen Beschwerde-Hotlines und Online-Plattformen der Partei eine Möglichkeit, ihre Interessen zu artikulieren oder gar durchzusetzen. Und so verschärfen sich die Konflikte:

Am 1. Juli 2008, dem 87. Jahrestag der KPCh-Gründung, erstach ein Mann in Schanghai sechs Polizeibeamte, nachdem er zuvor mehrfach vergeblich versucht hatte, Polizisten wegen Misshandlung zu verklagen. Er wurde auf vielen chinesischen Internetseiten als Held und nach der Vollstreckung seiner Todesstrafe als Märtyrer gefeiert.

Ende Juni 2009 wurde in der nordöstlichen Provinz Jilin der Direktor des staatlichen Tonghua-Stahlwerks von streikenden Arbeitern erschlagen. Er hatte ihnen gegenüber den Verkauf der Anteilsmehrheit an eine private Holding rechtfertigen wollen und Entlassungen angekündigt.

Ende letzter Woche verhinderten in der Provinz Henan ArbeiterInnen eine Übernahme der Stahlfirma Linzhou durch einen Privatkonzern.

Nur noch eine Partei

Noch ist unklar, ob die Verwaltungsreformen langfristig ausreichen, um die Konflikte zu lösen. Ob Hu Jintao das politische System nur im Sinne Deng Xiaopings verbessern oder im Sinne Zhao Ziyangs doch noch öffnen muss. Bei den Worten «politische Öffnung» kommen den meisten ChinesInnen allerdings zuerst der wirtschaftliche Zusammenbruch der Sowjetunion und die darauffolgende Unabhängigkeit vieler Sowjetrepubliken in den Sinn – was auf China übertragen die Gefahr einer stagnierenden Wirtschaft sowie weiterer Unruhen in Tibet und Xinjiang bedeuten würde. Dafür gibt es weder eine grosse Bereitschaft in der Partei noch einen grossen Druck aus der Bevölkerung.

Solange die Wirtschaft weiter wächst und die «territoriale Einheit» gewahrt bleibt, kann die KPCh ihre Herrschaft legitimieren. Dass sie das Land Baukonsortien gibt und nicht mehr denen, die es bearbeiten; dass WanderarbeiterInnen vor Erschöpfung auf den Gehwegen vor den von ihnen gebauten Bürotürmen und Luxusappartments einschlafen; dass von den kommunistischen Idealen nicht mehr viel geblieben ist – all das zählt im Verleich dazu nur wenig.

«Das Wort ‹Kommunismus› habe ich schon lange nicht mehr gehört», sagt die Journalistin Su Jing, «ausser natürlich im Namen der Partei». Und auch da wird es immer öfter weggelassen. Auf der grossen Leuchttafel, fünfzig Meter über dem dritten Ring, ist nur noch von der «Partei» die Rede.


Die Gesichter der KP

Knapp 76 Millionen Mitglieder hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Alle Regionen, Ethnien und Schichten sind vertreten; entsprechend vielfältig ist das Gesicht der Partei. Eines davon ist beispielsweise rot. Es gehört Buhe Bayaer, dem Vorsitzenden der Vereinigten Front, einer für ethnische und religiöse Angelegenheiten zuständigen Parteiorganisation. Buhe Bayaer gehört der mongolischen Minderheit an, und hinter seinem Rücken wird geflüstert, dass er als Han-Chinese nie so schnell auf diesen Posten in der nordostchinesischen Provinz Liaoning befördert worden wäre.

Alkohol verträgt Buhe Bayaer nur schlecht. Schon nach den ersten Gläsern Schnaps bekommt er diese allergische Reaktion, sein Gesicht ist rot und juckt. Aber er trinkt weiter, der Reihe nach mit allen Gästen eines Banketts, die Etikette verlangt das. Gerade ist er dabei, seiner Bewunderung für Adolf Hitler Ausdruck zu verleihen: «Erstens: Er hat Autobahnen gebaut, zweitens: Er hat das Unternehmen VW gegründet, darauf baut doch die ganze industrielle Entwicklung Deutschlands auf», verkündet er mit schwerer Zunge und lässt Widerspruch nicht gelten: «Hitler hat nur versucht, die Germanen zu einem grossen Volk zu machen! Ich bewundere seinen Idealismus! Lass uns darauf trinken! Prost!» Buhe Bayaer hört mit diesem Thema erst auf, als er ganz aufhört zu sprechen.

Ein anderes Gesicht der KPCh ist weiss. Es gehört Meng Lei, die an einer Beijinger Universität Sozialarbeit studierte. Sie ist eine hochgewachsene junge Frau, der Traum vieler ihrer Kommilitonen. Schon im ersten Semester hat man sie, vor allem wegen ihrer Grösse, in die Paradetruppe der Universität aufgenommen; im vierten Semester durfte sie vor allem wegen ihrer «Beliebtheit bei Kommilitonen und Lehrern», wie sie betont, der KP beitreten.

Das hat sich jetzt für sie ausgezahlt: Nach einer Wartezeit von fünf Monaten arbeitet sie nun in der Bezirksregierung von Mentougou, einem Beijinger Vorort. «Die regeln für mich sogar meine Wohnberechtigung!», sagt sie. Für die aus Hebei stammende Meng Lei ist vor allem diese Beijinger Wohnberechtigung das Zeichen ihres Erfolges. Politik und etwa ausländische Politiker interessieren sie kaum: «Wir mögen die, die gut zu China sind. Wen ich gar nicht mag, ist dieser Franzose» – der Name Sarkozy fällt ihr gerade nicht ein – «der immer die tibetische Unabhängigkeit unterstützt.»

Was Buhe Bayaer und Meng Lei ausser ihrer KP-Mitgliedschaft miteinander verbindet, ist ihr Nationalismus. China soll ein mächtiges und reiches Land werden; alles andere ist zweitrangig.