Dreissig Jahre Tiananmen: Der Aufstand gegen die rote Bourgeoisie

Nr. 22 –

Bis heute versucht das chinesische Regime, die gegen die Kommunistische Partei gerichteten Proteste 1989 aus dem öffentlichen Gedächtnis zu löschen.

Anfang Januar verkündete Chinas Cyberspacebehörde CAC den Beginn einer neuen Kampagne gegen «negative und schädliche Informationen» im Internet, die ein halbes Jahr dauern soll und damit nicht zufällig den 30. Jahrestag der Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung am 4. Juni 1989 einschliesst. Jedes Jahr lässt die chinesische Regierung zu diesem Tag Medien zensieren, den Internetverkehr blockieren und Oppositionelle unter Hausarrest stellen, um jede öffentliche Erinnerung und Diskussion zu unterbinden. Die Zensur wird jedoch immer wieder durchbrochen. Anfang April verurteilte ein Gericht in Chengdu AktivistInnen zu Haftstrafen, weil sie 2016 Schnapsflaschen verteilt haben sollen, auf deren Etiketten an den blutigen Militäreinsatz erinnert wurde.

In diesem Jahr ist die Regierung besonders nervös, weil angesichts eines langsameren Wirtschaftswachstums und vermehrter Anzeichen für einen Kriseneinbruch neue soziale Unruhen drohen. Zwar hat sie unter Präsident Xi Jinping die Repression gegen oppositionelle Strömungen deutlich verschärft und auch die Überwachungsapparate weiter ausgebaut; doch sie scheint sich nicht sicher zu fühlen, weil das Trauma von 1989 bis heute wirkt.

Demos und Ausnahmezustand

Die Tiananmen-Bewegung hatte das Regime der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) herausgefordert und konnte nur mit einem brutalen Militäreinsatz zerschlagen werden. Aufgrund der staatlichen Zensur wissen junge ChinesInnen wenig über Ablauf und Hintergründe. Die Partei will, dass das so bleibt, schliesslich widerspricht der Einsatz der Volksbefreiungsarmee gegen die eigene Bevölkerung dem Mythos, den die Partei braucht, um ihre Herrschaft zu legitimieren.

Im Westen wird meist bloss ein Aspekt der Bewegung betont: die zentrale Rolle der Studierenden und deren Forderungen nach Demokratie. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch das komplexere Bild eines Volksaufstands gegen die Auswirkungen der Wirtschaftsreformen und die davon profitierende «rote Bourgeoisie».

Auslöser dafür war am 15. April 1989 der Tod des als Reformer geltenden ehemaligen Parteiführers Hu Yaobang. Trauerdemonstrationen von Studierenden weiteten sich von Beijing auf andere Städte aus – mit zunehmend grösseren Kundgebungen, Vorlesungsboykotten und der Bildung unabhängiger StudentInnenorganisationen. Diese forderten Rede- und Pressefreiheit, höhere Bildungsausgaben und die Veröffentlichung der Einkünfte von Parteispitzenkadern. Die Massendemonstrationen hielten Ende April und Anfang Mai an – nun auch unterstützt von anderen Gruppen wie Intellektuellen und ArbeiterInnen. Im In- und Ausland wurde die Konfrontation gebannt verfolgt, deuteten sich doch hier wie in anderen realsozialistischen Ländern einschneidende politische Veränderungen an.

Die Lage spitzte sich zu, als am 13. Mai Hunderte Studierende in Beijing einen Hungerstreik begannen und der zentrale Tiananmenplatz – der Platz des Himmlischen Friedens – dauerhaft besetzt blieb. Immer mehr Beschäftigte verliessen ihre Arbeitsplätze in den Fabriken und schlossen sich den Protesten an. Ihre Forderungen waren offener gegen das Regime gerichtet, und sie verlangten ein Ende der wachsenden Ungleichheit und bessere Lebensbedingungen. Tausende traten in neue unabhängige Arbeiterorganisationen ein. Unfähig, die diversen Protestgruppen zu beschwichtigen, verhängte die Regierung in Beijing den Ausnahmezustand. Am 20. Mai marschierte die Armee in die Stadt ein. Über eine Million Menschen blockierten jedoch die Strassen und hielten sie auf. In vielen Städten Chinas fanden Demonstrationen gegen den Ausnahmezustand statt.

Zhao Ziyang, der Nachfolger von Hu als Parteiführer, wurde nun ebenfalls abgelöst, weil er den Hardlinern in der Parteispitze zu nachgiebig mit den Protesten umging. Nachdem Teile des Beijinger Stadtzentrums der staatlichen Kontrolle entglitten waren, versuchte die Armee Anfang Juni, Truppeneinheiten und Waffen ins Zentrum einzuschleusen. Als diese wieder von der Bevölkerung aufgehalten wurden, gab die Parteiführung den Schiessbefehl. Am Abend des 3. Juni rückten Militäreinheiten mit Waffengewalt vor. Zehntausende stemmten sich ihnen entgegen.

Auf vielen Hauptstrassen wurden Barrikaden errichtet, Armeefahrzeuge angegriffen und Hunderte davon in Brand gesetzt. Bei den Auseinandersetzungen starben Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen – genaue Zahlen gibt es nicht –, darunter etliche SoldatInnen, aber vor allem Beijinger ZivilistInnen, die Widerstand leisteten oder von Querschlägern getroffen wurden. Am Morgen des 4. Juni drängte die Armee den Rest der Studierenden vom Tiananmenplatz.

In den folgenden Tagen kam es in der Hauptstadt zu weiteren Scharmützeln. Die Armee besetzte Universitäten und Medienanstalten und verhaftete Tausende. In Dutzenden Städten Chinas gab es Streiks und Demonstrationen gegen das brutale Vorgehen. Auch diese Aktionen wurden gewaltsam niedergeschlagen und Hunderte getötet. Nun war die Stosskraft der Bewegung gebrochen, viele Führungspersonen flohen ins Exil. Das Regime ging in den folgenden Monaten entschieden gegen die Beteiligten vor. Tausende wurden degradiert, verloren ihren Job oder wurden zu Haftstrafen verurteilt, es gab etliche Todesurteile. Die Repression traf die an den Protesten beteiligten ArbeiterInnen weitaus härter als Studierende und Intellektuelle.

Ein Zeitfenster für Protest

Studierende hatten bereits seit 1986 immer wieder rebelliert. Ihre Wut, die Kritik an der Korruption der Eliten und die Forderung nach mehr Demokratie spielten eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Protestbewegung. Deren zentrale historische Bedeutung liegt jedoch in der Tatsache, dass sie der Höhepunkt der Unzufriedenheit und der Proteste der städtischen Bevölkerung insgesamt war. Während die LandbewohnerInnen von den Reformen der Jahre zuvor eher profitiert hatten und kaum an den Protesten beteiligt waren, hatten sich die Bedingungen der StadtbewohnerInnen nach anfänglichen Verbesserungen im Lauf der achtziger Jahre wieder verschlechtert. Korruption und Bereicherung der Kader, Arbeitslosigkeit, hohe Inflationsraten und die wachsende Unsicherheit der Arbeitsplätze hatten zu sozialer Unruhe geführt und die Legitimität des Regimes untergraben.

Was im April 1989 als studentischer Protest in Beijing begann, weitete sich deswegen schnell zu einem Volksaufstand in vielen Städten Chinas aus. Die Bewegung hätte noch mehr Sprengkraft entwickeln können, wenn sich die Studierenden, die selbst oft uneins waren, nicht gegen eine engere Einbindung von ArbeiterInnen gewandt hätten. Die studentischen AnführerInnen, von denen viele aus gehobenen Kreisen stammten, trauten dem Proletariat nicht und wussten um die zu erwartende harte Reaktion der Parteiführung, sollten die ArbeiterInnenproteste eskalieren.

Unter den beteiligten ArbeiterInnen waren wiederum etliche, die in oder nach der «Kulturrevolution» politisiert worden waren und sich bereits an anderen Mobilisierungen beteiligt hatten. Wandplakate, Demonstrationen, Lieder und Hungerstreiks: Die Bewegung nutzte die Erfahrungen und Kampfformen der siebziger und achtziger Jahre. Für die ArbeiterInnen ging es bei der Forderung nach Demokratie weniger um eine bestimmte Regierungsform als um ein Ende der bürokratischen Kontrolle und Gängelung im Alltagsleben. Ähnlich wie während der Kulturrevolution öffnete die Bewegung ein Zeitfenster, in dem die Menschen ihren Protest organisieren und offen ausdrücken konnten.

Für das Regime war die Beteiligung der ArbeiterInnen das entscheidende Zeichen, dass es die Bewegung niederschlagen musste. Chinas herrschende Elite war (und ist bis heute) nicht nur von den Erfahrungen der Kulturrevolution traumatisiert, als 1966 und 1967 studentische und proletarische Proteste die sozialistische Ordnung an den Rand des Zusammenbruchs brachten, sondern auch von ArbeiterInnenrevolten wie im sozialistischen Polen 1980. Die KPCh weiss, welche Gefahr ungezügelte Massenmobilisierungen darstellen – insbesondere wenn sich studentische und proletarische AkteurInnen gleichzeitig organisieren und die Proteste sich nicht nur in Strassen und Schulen zeigen, sondern auch Betriebe lahmlegen.

Die Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung war für den weiteren Ablauf der Reformen entscheidend. Die Bewegung war auch möglich gewesen, weil die Parteispitze gelähmt schien. Zuletzt hatten selbst hohe Kader aus Partei, Verwaltung und Armee mit Forderungen der Studierenden nach politischen Reformen sympathisiert. Nach der Niederschlagung gewannen die Kräfte um den neuen Parteichef Jiang Zemin die Oberhand, die weitere wirtschaftliche Reformen nur unter Beibehaltung der autoritären politischen Führung zulassen wollten. Gleichschaltungsgesetze setzten diese Linie in Partei, Verwaltung und Armee durch, und ihre GegnerInnen wurden ausgesiebt.

Symbiose der Eliten

Städtischen Intellektuellen, Fachkräften, StudentInnen und mittleren Kadern zeigten Niederschlagung und Repressionswelle, dass sie sich zwar ökonomisch entfalten, aber keinesfalls an den politischen Grundfesten des Regimes rütteln dürfen. Als diese Gruppen in den neunziger Jahren materiell vom wirtschaftlichen Aufstieg Chinas profitierten, stellten sie sich weitgehend hinter das Regime, akzeptierten fortan das autoritäre System und setzten sich nicht für eine Demokratisierung ein, wie in der Folge der wirtschaftlichen Liberalisierung erwartet worden war. Im Rückblick hielten viele von ihnen die Niederschlagung der Bewegung sogar für notwendig, um Chaos zu vermeiden und die Reformen fortzusetzen, von denen sie dann profitieren konnten.

Die proletarische Opposition gegen Korruption und Aneignung von Staatseigentum durch die «rote Bourgeoisie» war nach 1989 fürs Erste gebrochen. Nach einer Periode der Repression und bürokratischen Konsolidierung wurde ab 1992 der Weg frei für beschleunigte Wirtschaftsreformen sowie entscheidende Angriffe auf die sozialistischen Beschäftigungsverhältnisse. Im Lauf der neunziger Jahre wurden vor allem im «Rostgürtel» im Zentrum und Nordosten des Landes die Staatsunternehmen umstrukturiert und teilweise privatisiert.

Die «Eiserne Reisschale» wurde zerschlagen – eine Reihe staatlicher sozialer Absicherungen für den Kern der alten sozialistischen ArbeiterInnenklasse. Diese wehrte sich Ende der neunziger Jahre zunehmend, konnte den Umbau jedoch nicht verhindern. In den Sonderwirtschaftszonen im «Sonnengürtel» im Osten und Südosten Chinas wurde derweil mithilfe ausländischen Kapitals die Exportindustrie ausgebaut und eine prekäre migrantische ArbeiterInnenklasse geschaffen, die erst in den nuller Jahren in der Lage sein sollte, bedeutendere Widerstandsaktionen zu organisieren.

Anders als im Ostblock, wo die sozialistischen Regimes 1989 und 1990 zusammenbrechen sollten, konnte die KPCh ihre Herrschaft sichern. Das gelang vor allem aus zwei Gründen: Zum einen brachte die erneute Symbiose politischer und wirtschaftlicher Eliten eine herrschende Klasse hervor, die von der reformierten KPCh vertreten wird und der es gelang, sozialen und politischen Protest durch Repression und oberflächliche Zugeständnisse weitgehend im Zaum zu halten. Zum anderen begünstigte die globale ökonomische Lage die Einbindung Chinas in die weltweiten Produktionsketten, trug entscheidend zum wirtschaftlichen Aufstieg des Landes bei und festigte so den neuen staatlich gelenkten Kapitalismus chinesischer Prägung.