Venezuela: Papayas für die Unabhängigkeit

Nr. 38 –

Eine Landreform und viel staatliche Unterstützung haben in den letzten Jahren zu einem Gründerboom für landwirtschaftliche Kooperativen geführt. Aber nicht alle kommen auf die Beine.

Hector Castillo wischt sich die Schweiss­perlen von der Stirn. Mehr als 2000 Kilogramm Papayas haben er und seine KollegInnen von der Kooperative gerade auf einen Lastwagen verladen. Die Ernte von sieben Monaten. Den BäuerInnen hat das insgesamt 2500 Bolivares Fuertes eingebracht – umgerechnet rund 1200 Schweizer Franken. Das ist nicht viel, aber besser als nichts.

Seit drei Jahren arbeitet Castillo im sozialistischen Kollektiv Vicente Tijera in Tarpaz, einem kleinen Dorf im venezolanischen Bundesstaat Sucre. Es sind vierzig Grad im Schatten, und genau den, den Schatten, sucht Castillo jetzt, unter einem Baum inmitten der Felder. Dort haben seine KollegInnen – neunzehn Männer und sechs Frauen – schon mit dem nächsten Tageswerk begonnen. Auf dem Boden sitzend befreien sie frisch geerntete Erdnüsse vom Dreck.

So sieht sie also aus, die vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ausgerufene Agrarrevolution.

Die 26 BäuerInnen gehören zur Speer­spitze dieser Agrarrevolution, auch wenn sie nicht viel Aufhebens darum machen. Der Agrarsektor ist eines der wichtigsten Versuchslabore des Staatschefs. Als Parole hat Chávez die «independencia alimentaria» (Unabhängigkeit der Lebensmittelversorgung) herausgegeben. Venezuela solle eines Tages so viel Lebensmittel produzieren, dass sie für das eigene Volk und sogar für Exporte genügen.

Der Schlüssel dazu sei der neue «sozia­listische Mensch», der auf gemeinschaftlich bewirtschafteten Landgütern unter staatlicher Aufsicht arbeitet. Fundos Zamoranos nennen sich diese Kollektive – in Anlehnung an den venezolanischen Freiheitskämpfer Ezequiel Zamora (1817–1860), der in einem blutigen Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert die Streitkräfte der Liberalen gegen die Grossgrundbesitzer führte. Chávez, immer darauf bedacht, seine Präsidentschaft als logische Konsequenz der Geschichte zu interpretieren, holte Zamora aus dem Halbdunkel des Vergessens und erklärte ihn zu einem der ideellen Gründerväter seiner sozialistischen Revolution.

Den Grundstein für die Fundos ­Zamoranos legte die Regierung 2001 mit einer Landreform. Seitdem hat sie Hunderttausende Hektar von ungenutztem Land enteignet und an KleinbäuerInnen und Kooperativen übergeben, darunter auch an die 86 bestehenden Fundos Zamoranos.

Transformierte Menschen

«Für uns war das die Chance des Lebens», sagt Castillo. Früher, als die Kleinbauern von Tarpaz noch in ­Eigenregie arbeiteten, hätten sie ein, zwei Hektar Land bewirtschaftet. Die Erträge reichten gerade zum Überleben. Vor sechs Jahren schlossen sie sich dann zu einer Kooperative zusammen, nachdem die Leute von der Regierung die Propagandatrommel gerührt hatten. «Heute bauen wir auf sechzig Hektar Früchte und Gemüse an. Papayas, Bohnen, Mais, Erdnüsse – alles, was der fruchtbare Boden hergibt.»

Castillo ist ein schweigsamer Mensch. Sagt er wie heute fünf Sätze am Stück, ist das seine Art des Enthusiasmus. «Die Regierung hat uns billige Kredite verschafft», sagt er. «Und das ist das Ergebnis.» Stolz führt er uns zur Hühnerhaltung, die sich das Kollektiv dank der finanziellen Unterstützung aus Caracas aufgebaut hat. «4000 Tiere haben wir im Moment, und 6000 werden wir noch dazukaufen.»

Der Weg zurück zu den Feldern führt an einer kleinen Siedlung mit leer stehenden Einfamilienhäusern vorbei. Cas­tillo deutet auf eines von ihnen. «Da werde ich bald einziehen.» Mit seiner Ehefrau und seinen sechs Kindern. Bisher wohnten sie alle bei der Schwiegermutter. «Die ist wirklich nett, aber ich freue mich schon auf unser eigenes Heim», sagt er und lacht.

Castillo zahlt für sein neues Heim keinen Rappen. Das Geld hat die Regierung gestiftet. Zur Übergabe der 26 Häuschen Anfang Juni schaltete sich Chávez höchstpersönlich in seinem sonntäglichen Radio- und Fernsehprogramm «Aló Presidente» hinzu. Es ging wie ­immer sehr pathetisch zu. «Mit den Fundos transformieren wir den Menschen und machen ihn humaner», erklärte ein Koordinator des Landinstitutes INTI.

Kubanisches Wissen

Das INTI ist Teil eines dichten Netzes staatlicher Institutionen, die dafür sorgen sollen, dass die LandarbeiterInnen auf dem steinigen Weg in die kollektive Landwirtschaft nicht schlappmachen. Das System der permanenten Betreuung, wie seine BefürworterInnen sagen, beziehungsweise der sozialen Kontrolle, wie seine GegnerInnen kritisieren, hat sich Chávez von seinem Freund und Mentor, Kubas Fidel Castro, abgeschaut. Die Karibikinsel liefert nicht nur das Know-how, sondern auch das Personal. So bekam das Kollektiv von Tarpaz zwei kubanische Agronomen zur Seite gestellt. «Die haben uns zum Beispiel Tricks gezeigt, wie wir die Erträge bei Maracuja und Yuca steigern können», sagt Castillo.

Chef der importierten Techniker­Innen ist José Obando. Der studierte Agrarwissenschaftler betreut im Auftrag der Regierungsstiftung Ciara die zwei Fundos Zamoranos von Sucre. Will den BäuerInnen die Ernte nicht gedeihen, macht ihnen die Trockenheit zu schaffen, dann kommt der knapp vierzigjährige Venezolaner aus seinem dreissig Kilometer entfernten Büro herübergefahren und packt mit an. «Früher sind die Bauern auf Eseln geritten, heute fahren sie Traktoren», sagt er stolz.

In der Kooperative ist unterdessen die Mittagspause angebrochen. Zwei Frauen tragen einen Esskübel heran und verteilen Schüsseln. Es gibt «Sancocho», Eintopf. Yuca, Kürbis, Zwiebeln, Möhren, Kochbananen und Huhn, «alles aus eigener Ernte», sagt Kooperativchef Eligio Contreras löffelschwingend. Er ist gerade von einer Schulung aus Carúpano zurückgekehrt, der grössten Stadt in der näheren Umgebung. «Da geht es um ideologische Fragen. Die Dozenten sind Kubaner.» Contreras trägt ein rotes T-Shirt. Rot ist die Farbe von Chávez. Alle im Fundo sind überzeugte AnhängerInnen des Präsidenten. «Er ist der erste Politiker, der sich wirklich um die Nöte der Landbevölkerung kümmert», sagt Contreras. «Unser Leben hat sich verbessert, und das haben wir ihm zu verdanken.» Vom Idealzustand ist der Fundo allerdings noch weit entfernt. Das weiss auch Contreras. «Wir können uns mittlerweile selbst ernähren, aber wir müssen unsere Überschüsse deutlich steigern.» Im Moment erhalten die BäuerInnen im Vorzeige-Fundo am Monatsende gerade mal 500 bis 600 Bolivares Fuertes bar auf die Hand – umgerechnet 240 bis 280 Franken. Das reicht kaum, um für sich und die Familie all das zu kaufen, was das Kollektiv nicht produziert. Also alles ausser Lebensmittel. Zum Vergleich: Der monatliche Mindestlohn beträgt in Venezuela 900 Bolivares Fuertes, das sind 430 Franken.

Noch immer ist die Produktivität des Fundos bescheiden. «Wir brauchen ein Bewässerungssystem», sagt Contreras. In der Trockenzeit ist es keine Seltenheit, dass er und seine KollegInnen mit dem Eimer auf die Felder müssen. Um das in Zukunft zu verhindern, haben sie mittlerweile vier Brunnen gegraben. Im Vergleich zu den ostdeutschen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die sich nach dem Mauer­fall auch im kapitalistischen System mit ihrer industrialisierten und hoch spezialisierten Arbeitsweise erfolgreich durchsetzten, arbeiten die BäuerInnen von Tarpaz auf viel zu kleiner Fläche. «Klar ist die Produktivität bei uns nicht so hoch wie bei Unternehmen mit tausend Hektar», gesteht Agronom Obando.

Das Hauptproblem ist wohl aber psychologischer Natur. Die meisten VenezolanerInnen sind nicht bereit, sich auf eine kollektive Arbeitsweise einzulassen. «Unsere Kooperative hatte am Anfang 41 Mitglieder. Viele sind aber wieder ausgestiegen», sagt Contreras. «Denen gefiel das Arbeiten in der Gemeinschaft nicht.» Tarpaz ist kein Einzelfall.

Falsches Feindbild

Chávez’ Regierung hat in den vergan­genen zehn Jahren viel Geld in den Aufbau eines sozialistischen Agrarsektors gesteckt. Um 2001 setzte, staatlich geför­dert, ein regelrechter Boom von Koope­ra­tivengründungen ein. Die meisten Projekte wurden allerdings nie umgesetzt.

Von zwei Millionen Hektar Land, die die Regierung bis Ende 2007 an KleinbäuerInnen und Kooperativen übergab, wurden nur 35 000 Hektar tatsächlich landwirtschaftlich genutzt. So beschreibt es eine Studie des Viehzüch­terInnengremiums Fedenaga. Kein Wunder also, dass sich Venezuelas Landwirtschaft wie vor hundert Jahren auf die offiziell ungeliebten privaten Familienunternehmen stützt.

«Die von uns vertretenen 20 000 Betriebe stehen für mehr als neunzig Prozent der landwirtschaftlichen Produktion Venezuelas», sagt Pedro Rivas Ismayel. Der Nachfahre libanesischer EinwanderInnen baut im Bundesstaat Guarico in grossem Stil Tomaten an. Neuerdings verbringt er aber mehr Zeit in einem klimatisierten Büro in der Hauptstadt Caracas als auf seiner Finca. Seit April ist Rivas Präsident der privaten AgrarproduzentInnen in Venezuela.

Die wenigsten AgrarproduzentInnen erfüllen das von Chávez’ AnhängerInnen aufgebaute Feindbild des ausbeuterischen Grossgrundbesitzers, der auf Zehntausenden Hektar Brachland sitzt, während die BäuerInnen kaum über die Runden kommen. «Unsere Mitglieder bewirtschaften im Schnitt vierzig bis fünfzig Hektar», sagt Rivas.

Die Regulierungswut der Regierung hat alle privaten UnternehmerInnen getroffen – egal ob klein oder gross. Seit 2005 legt das Landwirtschaftsminis­terium für eine Reihe von Grundnahrungsmitteln die Abnahme- und Verkaufspreise fest. Eine Idee, die schon mal in den siebziger Jahren umgesetzt wurde. Heute wie damals mit dem Ziel, SpekulantInnen den Garaus zu machen und der Bevölkerung preiswerte Nahrungsmittel zu garantieren.

Vor dreissig Jahren konnten die Bäuer­Innen noch gut von den verordneten Festpreisen leben, sagt Rivas. Doch Chávez’ Ministerialbürokratie beliess die Preise über Jahre auf demselben Niveau, und das bei Inflationsraten von bis zu dreissig Prozent. «Bei vielen Nahrungsmitteln deckt der Festpreis nicht einmal mehr die Produktionskosten», kritisiert Rivas. Viele AgrarunternehmerInnen stiegen deswegen aus dem Geschäft aus oder wechselten zu anderen Produkten, die mehr Gewinn versprachen. Auf der Höhe des Ölbooms vor anderthalb Jahren waren plötzlich Grundnahrungsmittel wie Milch und Eier aus den Supermärkten verschwunden.

Nicht wenige ExpertInnen meinen, dass Chávez das Referendum im ­November 2007 vor allem wegen der leeren Regale in den Supermärkten verlor. Er hat daraus gelernt. Heute sind die Läden wieder voll. Doch tragen viele der Produkte ausländische Etiketten. 2005 genehmigte die Devisenbehörde Cadivi 1,8 Milliarden US-Dollar für den Kauf von Lebensmitteln im Ausland, Ende 2008 waren es 7,58 Milliarden Dollar. Ein Widerspruch in sich, denn in Venezuela kämpfen viele private Landwirtschaftsbetriebe ums Überleben. Ihre Konkurrenten in Brasilien und Kolumbien dagegen freuen sich über die wachsende Nachfrage des Nachbarlandes.

Die Kollektivmitglieder in Tarpaz bekommen von den Widersprüchen innerhalb der Regierungspolitik kaum etwas mit. Kooperativchef Contreras wird bald für zwei Wochen nach Kuba fliegen. Er weiss, dass seinen Männern und Frauen noch viel Arbeit bevorsteht. «In den nächsten zehn Jahren müssen wir unseren Fundo konsolidieren», sagt er.

Hector Castillo hat die Feldarbeit beendet. Er bricht auf, um seine Kinder von der Grundschule abzuholen. Weit laufen muss er nicht. Das einstöckige Schulgebäude steht praktischerweise bloss einen Steinwurf vom Fundo entfernt. Weil es nur drei Klassenräume gibt, werden Viert-, Fünft- und Sechstklässler zusammen unterrichtet. Wenn der Nachwuchs aus dem Haus ist, würde Castillo gerne einmal mit seiner Frau ins Ausland reisen. «Nach Italien, das wäre ein Traum!»